Warum nimmt die Radikalisierung beim Thema Abtreibung wieder zu?
Christoph Quarch ist der Ampel dankbar für ihre Gesetzesinitiative
Einschüchterung, Manipulationsversuche, Falschinformation: Immer öfter sehen sich schwangere Frau solchen Belästigungen durch Abreibungsgegner auf dem Weg zur Beratungsstelle ausgesetzt. Dem will die Ampel-Regierung nun einen Riegel vorschieben und hat in dieser Woche einen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem sie „die Rechte der Schwangeren sowie das Beratungs- und Schutzkonzept in seiner Gesamtheit" stärken möchte. Ob sich radikale Abtreibungsgegner dadurch von ihren Aktionen abbringen lassen, ist allerdings fraglich. Für uns ein Grund zu fragen: Wie kommt es, dass die Radikalisierung beim Thema Abtreibung wieder zunimmt? Darüber reden wir mit dem Philosophien Christoph Quarch.
Herr Quarch, können Sie uns erklären, was Menschen dazu bewegt, Schwangere auf dem Weg zum Beratungsgespräch aufzulauern und zu belästigen?
Dafür müssen wir uns zunächst mal anschauen, wer die Abtreibungsgegner eigentlich sind. Einerseits handelt es sich um vermeintlich fromme Menschen, die sich aufgrund religiöser Moralvorstellungen als Lebensschützer gerieren, andererseits finden wir unter den Abtreibungsgegnern einen großen Anteil derer, die ich als Feinde der offenen Gesellschaft bezeichnen würde: Antiliberale, wie man sie vor allem in AfD, Werteunion und Teilen von CDU/CSU findet. Gemeinsam ist beiden, dass sie traditionelle religiöse Dogmen benutzen, um Machtansprüche geltend zu machen. Die treibende Kraft hinter den Abtreibungsgegnern scheint mir mithin das zu sein, was Friedrich Nietzsche den „Willen zur Macht" nannte.
Die Abtreibungsgegner sehen sich selbst als „Lebensschützer". Das klingt nach einem ehrenwerten und konsensfähigen moralischen Motiv.
Natürlich ist der Schutz des Lebens ein hoher Wert, dem sich auch das Grundgesetz verpflichtet weiß. Aber das schützt diesen Wert nicht davor, auf ethisch inakzeptable Weise durch Abtreibungsgegner instrumentalisiert zu werden. Genau das geschieht aber, wo sich hinter der Lebensschutz-Rhetorik knallharte Machtinteressen verbergen. Bei der kirchlichen Moral war es schon immer so. Man muss den Kirchenvätern lassen, dass sie früh erkannt haben, wie man am effektivsten Macht über Menschen ausüben kann: indem man sie dazu bringt, den kirchlichen Werten zu folgen und ihnen die Moral diktiert. Heute ist die Macht der Kirchen erodiert. Das Thema Abtreibung scheint da ein probates Thema, sie zurückzugewinnen – und dafür ist fundamentalistischen Gläubigen jedes Mittel Recht: auch latente Gewalt wie bei den Aktionen vor Beratungsstellen und Kliniken.
Mal gesetzt ihre These stimmt: Über wen wollen die Abtreibungsgegner denn Macht gewinnen?
Über Frauen – also über diejenigen, die sich im Vorfeld eines möglichen Schwangerschaftsabbruchs ohnehin in der schwächsten Position befinden und die zu unterdrücken schon immer eine Strategie religiöser Machtausübung war. Dieser anti-emanzipatorische, frauen- und mithin menschenfeindliche Impuls bildet dann auch die Brücke zur politischen Rechten, die den Machthunger ihrer potenziellen Wähler damit zu stillen versucht, dass sie anti-emanzipatorisch Stimmung macht, krude Männlichkeitsideale und überholte weibliche Rollenbilder verbreitet. Auf diese Weise rütteln Konservative an den Grundfesten unserer Demokratie. Kein Wunder, dass sie dabei auf finanzielle Unterstützung von Trumpisten bauen können.
Unter den Abtreibungsgegnern findet man aber nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen. Machen Sie es sich nicht zu leicht, wenn sie hinter deren Aktionen frauenfeindliche Motive wittern?
Es geht nicht primär um Frauenfeindlichkeit, sondern um den Willen zur Macht. Nietzsche hat dessen Dynamik psychologisch brillant beschrieben: Wer vom Willen zur Macht getrieben wird, sucht sich einerseits Menschen, über die er Macht ausüben kann; und betet gleichzeitig Götter und Potentaten an, deren Macht einem die eigene Verantwortung abnimmt. Diese Dynamik nährt jeden religiösen Fundamentalismus: Im Namen des Allmächtigen knechtet man die anderen: die Ungläubigen, die Frauen, die Randgruppen... Das schließt aber keineswegs aus, dass die Angehörigen der Randgruppen dabei munter mitmischen: Machthörige konservative Frauen ertragen es nicht, wenn andere Frauen selbständig über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Also ermächtigen sie sich, diese Frauen in die Ohnmacht zu treiben. Es ist ein perfides Drama und eine echte Gefahr für unsere Gesellschaft. Deshalb bin ich der Ampel dankbar für Ihre Gesetzesinitiative.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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