Anstand, Ehrgefühl und Respekt vor dem Leben
Christoph Quarch fordert dazu auf, sich angesichts des Grauens in der Ukraine der medialen Verrohung im eigenen Land entgegenzustellen
Systematische Exekutionen von Zivilisten, planmäßige Vergewaltigungen von Frauen, Schändungen von Leichen. Die Liste der mutmaßlich von Angehörigen der russischen Streitkräfte begangenen Kriegsverbrechen in der Ukraine wird Tag für Tag länger. Augenzeugenberichte und Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen lesen sich wie ein Panoptikum des Grauens. Zumal die Verbrechen nach heutigem Erkenntnisstand nicht von marodierenden Söldnern verübt wurden, sondern auf Anordnung russischer Offiziere. Wie kann man mit einer derart trostlosen Situation umgehen? Darüber sprechen wir mit unserem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, kann einem die Philosophie angesichts des Grauens in der Ukraine irgendeinen Trost spenden?
Ehrlich gesagt: Nein. Eher verschärft sie die Verzweiflung. Denn als Philosoph ist einem klar, dass die Verbrechen, die an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen werden, nicht allein die Opfer und ihre Angehörigen betreffen, sondern jeden einzelnen Menschen auf unserem Planeten. Was dort geschieht, ist ein Angriff auf die Menschheit, deren Würde auf eine barbarische Weise verletzt wird. Dabei werden nicht nur die Opfer ihrer Humanität beraubt. Auch die Täter enthumanisieren sich selbst. Und dass die verantwortlichen Militärs und Politiker, die so etwas nicht nur dulden, sondern anordnen, unbehelligt bleiben könnten, ist schlechterdings unerträglich.
Die Verantwortlichen könnten vor einem internationalen Kriegsverbrechertribunal angeklagt und zur Rechenschaft gezogen werden, wie die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Nicola Beer, gefordert hat.
Ja, aber ob es jemals dazu kommen wird, ist mehr als fraglich. Zumal berichtet wird, dass die russischen Streitkräfte systematisch die Spuren ihrer Schandtaten vertuschen. Trotzdem ist es von allergrößter Wichtigkeit, dass wir den Glauben an die internationale Rechtsordnung bewahren. Wieviel Jahrhunderte hat die Menschheit gebraucht, bis sie sich auf die Genfer Konventionen oder die Haager Landkriegsordnung verständigen konnte? Es ist schlimm genug, dass es die russische Armee diese Errungenschaften mit Füßen tritt. Aber noch schlimmer wäre es, wenn wir aufhörten, uns auf das Recht zu berufen und auf seine Einhaltung zu pochen. Dann würden wir vor dem Bösen kapitulieren.
Können die Verbrechen, die in der Ukraine verübt werden, überhaupt jemals gesühnt werden?
Ich glaube, es gibt ein Ausmaß an Bosheit und Niedertracht, das unverzeihlich ist. So war es bei den Gräueltaten des Holocaust und so ist es auch bei dem, was in Batschi und andernorts geschehen ist. Hier hat man es mit dem Bösen in seiner radikalsten Erscheinungsform zu tun, bei der nicht nur Menschenleben vernichtet werden, sondern zugleich alle Werte und jeder Sinn – ja, die Humanität selbst. Man müsste ein gnädiger Gott sein, wenn man den Urhebern solcher Verbrechen vergeben wollte. Als Menschen bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als irgendwie mit dem Faktum des Bösen zu leben und unseren Lebenssinn darin zu finden, alles daran zu setzen, dass so etwas nie wieder geschieht; wohlwissend, dass die Barbarei vermutlich unausrottbar ist.
Das klingt nach einem verzweifelten Trotzdem. Wollen Sie damit unsere Leserinnen und Leser in das Osterwochenende entlassen?
Ungern, aber es wäre einfach nicht redlich, in dieser Angelegenheit Optimismus zu versprühen. Selbst wenn ich jetzt darauf hinwiese, dass erstaunlicherweise viele Kriegsverbrecher – etwa aus den Balkankriegen – zuletzt doch noch vor Gericht gestellt wurden, wäre das kein echter Trost. Nach meiner Erfahrung gibt es nur eine erfolgreiche Strategie, wie man mit dem Horror dieser Tage umgehen kann: nach vorne schauen und tätig werden; überlegen, was wir hier in Deutschland tun können, um der Barbarei zu wehren. Und da gibt es eine Menge zu tun. Denn Anstand, Ehrgefühl, Respekt vor dem Leben; das alles ist auch bei uns bedroht. In den sozialen Medien wird ebenfalls gemeuchelt und geschändet, was das Zeug hält. Bislang nur mit Worten, aber wer verbal verroht, wird seiner Niedertracht auch Taten folgen lassen. Hier sind wir alle gefragt: Deshalb – auch wenn es noch so berechtigt ist: Nicht nur Finger Pointing auf die Russen, sondern bitte auch ein beherzter Griff an die eigene Nase. Wehret den Anfängen!
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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