Kein Problem mit der Demografie! Nachhaltige Rentenreform statt Aktienrente
Der aktuelle Kommentar von Reiner Heyse
Unter der Überschrift "Die Aktienrente darf nicht sterben" behauptete das Handelsblatt am ersten Februar eine anscheinend unerschütterliche Wahrheit: "Es (ist) unter Wissenschaftlern – und auch vielen Politikern – längst Konsens, dass unserem Rentensystem spätestens zum Ende des Jahrzehnts allein aus demografischen Gründen der Kollaps droht." Bei genauerer Betrachtung der Fakten ist der Kollaps bereits passiert. Allerdings nicht bei der Rentenversicherung, sondern bei den "Konsens"-Wissenschaftlern.
Die jüngste, 15. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts vom Dezember 2022 prognostiziert bis 2038 einen Anstieg der Rentenjahrgänge um drei Millionen. Das sind 17 Prozent mehr als heute, also eine jährliche Steigerung von gerade einmal 1,1 Prozent. Ab 2038 sinkt die Zahl bis 2048 um 0,5 Millionen. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner wird demnach in 25 Jahren gegenüber heute um 2,5 Millionen und damit 14 Prozent angestiegen sein.
Die jüngste, 15. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts vom Dezember 2022 prognostiziert bis 2038 einen Anstieg der Rentenjahrgänge um drei Millionen. Das sind 17 Prozent mehr als heute, also eine jährliche Steigerung von gerade einmal 1,1 Prozent. Ab 2038 sinkt die Zahl bis 2048 um 0,5 Millionen. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner wird demnach in 25 Jahren gegenüber heute um 2,5 Millionen und damit 14 Prozent angestiegen sein.
Demografie-Alarm immer absurder
Der Kostenzuwachs gegenüber heute betrüge 2038 rund 46 Milliarden Euro und würde bis 2048 auf 40 Milliarden Euro zurückgehen. Um die Summen einordnen zu können: Eine Beitragssatzsteigerung von 1 Prozent brächte der Rentenversicherung 18 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Wenn die Mehrbelastung 2038 allein durch Beiträge getragen werden sollten, müsste der Beitragssatz um 2,6 Prozent von 18,6 Prozent auf 21,2 Prozent angehoben werden. Für die abhängig Beschäftigten wäre das eine Erhöhung des Beitrags von 9,3 Prozent auf 10,6 Prozent (Hälfte wegen paritätischer Finanzierung). Würde diese Erhöhung gleichmäßig auf die nächsten 15 Jahre verteilt, müssten pro Jahr 0,09 Prozent von den jeweiligen Lohnerhöhungen abgegeben werden. Und das soll ein Problem sein, das sogar den Kollaps der Rentenversicherung auslöst? Das ist einfach lächerlich und falsch. Auch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) weist sehr deutlich darauf hin. Der Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung, Dr. Reinhold Thiele, schrieb im Mai 2023 in der "RVaktuell":
"Es ist allerdings nicht so, dass mit dem Renteneintritt der Babyboomer ein Belastungsanstieg einhergeht, wie ihn unsere Gesellschaft noch nie erlebt hat. Der bis 2040 zu erwartende Anstieg der demographischen Belastung ist nach der aktuellen Vorausberechnung keineswegs beispiellos. Im Gegenteil: In der Vergangenheit hat die Bundesrepublik Deutschland bereits mehrfach vergleichbare Phasen erlebt – teilweise hat sich die demographische Belastung innerhalb von zwei Jahrzehnten sogar noch stärker erhöht als das für die Zeit von 2020 bis 2040 zu erwarten ist. So ist der Altenquotient zum Beispiel in der Zeit zwischen 1990 und 2010 von 22,9 auf 33,8 gestiegen (Schreibfehler, muss lauten 23,9) – also um 9,9 oder mehr als 40 Prozent! Und auch in den 20-Jahres-Zeiträumen zwischen 1995 und 2015 oder 1960 und 1980 war der Anstieg ähnlich hoch oder sogar höher als das, was nach der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung für die Zeit von 2020 bis 2040 zu erwarten ist (von 34,8 auf 43,4 - also um 25 Prozent).
Im Ergebnis ist es jedenfalls gelungen, trotz des starken Anstiegs der demographischen Belastung in den vergangenen Jahrzehnten den Beitragssatz der RV erstaunlich stabil zu halten; aktuell liegt der Satz mit 18,6 Prozent sogar niedriger als Mitte der achtziger Jahre – obwohl die Zahl der Menschen im Rentenalter bezogen auf einhundert Menschen im Erwerbsalter seither um rund 50 Prozent gestiegen ist."
Umbau zum Nutzen des Finanzkapitals
Es ist absurd: Je kleiner die Herausforderung der geburtenstarken Jahrgänge werden, um so schriller werden die Alarmrufe von "Konsens"-Wissenschaftlern, Politikern und Medien. Zuletzt groß vorgetragen durch die sogenannten Wirtschaftsweisen der Bundesregierung. Medial verdaulicher präsentiert bei Markus Lanz am 21.12.23. Der Moderator: "Wir sind offiziell in der Altenrepublik angekommen". Die Demografie sorgt für "sozialen Sprengstoff". "Setzt die Demografie die Demokratie schachmatt?"Warum dieser Alarmismus, der im Kern immer auf die Forderung hinausläuft, das umlagefinanzierte Rentensystem durch private Altersvorsorge und langfristige Kapitalanlagen zu ersetzen? Die Frage ist leicht zu beantworten: Dem von den Interessen des Finanzkapitals geleiteten Umbau des Sozialstaates schwimmen die Felle, oder besser gesagt die Argumente, weg. Was in der argumentativen Not als politische Lösungen herauskommt, ist purer Unsinn.
Die Aktienrente – ein teures Placebo
Die Aktienrente, im Neusprech „Generationenkapital", soll das „Problem" der Demografie lösen. Dazu will die Bundesregierung ab diesem Jahr, so die mittlerweile vierte Ankündigung, zwölf Milliarden Euro pro Jahr an Kapitalmärkten anlegen. Diese zwölf Milliarden sollen jährlich von den Finanzmärkten geliehen werden. Der Staat wird mit Schulden zum Hedgefonds. Soll das geliehene Kapital mehr Ertrag bringen als die Anleihen Zinsen kosten (zur Zeit etwa drei Prozent), muss es in riskanten Märkten angelegt werden. Läuft alles gut – die Bundesregierung rechnet mit etwa sechs Prozent Netto-Rendite (also brutto circa neun Prozent) – soll die Rendite nach 15 Jahren die Rentenversicherung um sage und schreibe einen Prozentpunkt (circa 18 Milliarden) entlasten. Die Mehrausgaben für Babyboom-Rentner belaufen sich aber auf rund 47 Milliarden Euro.Wie war das noch mal? Ende dieses Jahrzehnts drohe der Rentenversicherung der Kollaps. Die Aktienrente soll das laut Koalitionsvertrag verhindern. Die fantastischen hochspekulativen Erträge aus der Aktienrente kommen aber erst in den Jahren ab 2036. Der erste Euro fließt also erst sechs oder sieben Jahre nach dem behaupteten Kollaps. Das ist einfach lächerlich.
Das Konzept der Bundesregierung ist so unseriös, dass der Sachverständigenrat es ohne Würdigung zur Seite schiebt und stattdessen eine obligatorische „ergänzende Kapitaldeckung" fordert. Das Konzept dazu kommt aus dem Hause des neoliberalen Ökonomen Martin Werding und wurde schon vor drei Jahren für das Rentenprogramm der FDP geschrieben.
Die Aktienrente a la Sachverständigenrat/FDP sieht so aus: Ab sofort werden vier Prozent des Bruttolohns zwangsweise an einen Rentenfonds abgeführt. Zusätzlich zu dem Beitrag für die umlagefinanzierte Rente. Die Fondserträge werden mit durchschnittlich fünf Prozent Nettorendite kalkuliert und erhöhen das Rentenniveau kontinuierlich von heute 48 Prozent auf rund 80 Prozent im Jahr 2080. Das erscheint als wahre Wundertüte – setzt man die Rechnung fort, würde das Rentenniveau im Jahr 2100 auf über 100 Prozent anwachsen. Wer sollte da etwas gegen haben?
Nun, der gesunde Menschenverstand hat etwas dagegen. Werden vier Prozent der rentenversicherungspflichtigen Löhne an die Kapitalmärkte abgezweigt, fehlen der Volkswirtschaft pro Jahr mindestens 70 Milliarden Euro Nachfrage. Dieser Nachfrageausfall wirkt auf der einen Seite rezessionsbeschleunigend, auf der anderen Seite werden die Kapitalmärkte aufgeblasen – nach zehn Jahren suchen bereits 700 Milliarden Euro mehr nach profitablen Anlagen. Volkswirtschaftlich betrachtet ist dieses Rentenkonzept krisenbefeuernd.
Was die erwartete Rendite von fünf Prozent angeht, befindet sich der Sachverständigenrat im Fantasia-Land. Auf der einen Seite erwartet das Rentengutachten aus dem Hause Werding ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich unter einem Prozent, die Kapitalrendite der Rentenaktien sollen aber um das 6-fache zulegen. Das wirtschaftspolitische perpetuum mobile ist gefunden, es winkt Reichtum ohne Ende – im Märchenland.
Eine wirklich solide Rentenreform ist möglich
Entgegen aller Kollaps-Prophezeiungen dokumentiert die DRV Jahr für Jahr, wie zuverlässig und krisenrobust das Umlagesystem ist. Die jüngsten Vorausberechnungen zeigen, dass die Versicherungsbeiträge bis 2027 stabil bei 18,6 Prozent bleiben bei gleich hohem Rentenniveau. Diese stabilen Finanzen regten die Bundesregierung an, die Bundesmittel zum Rentenhaushalt bis 2027 um 6,8 Milliarden Euro zu reduzieren. Der Kriegstüchtigkeitshaushalt erfordert eben eine Kürzung der Sozialausgaben – basta.Eine solide und nachhaltige Rentenreform ist ziemlich einfach. Es gibt die verlässliche Basis, die umlagefinanzierte Rente, bei der das Geld direkt, ohne Umwege über die Kapitalmärkte weitergeleitet wird und sofort nachfragewirksam ist. Diese entwickelt sich, wenn keine Kürzungen eingesetzt werden, so wie die Löhne. Im Prinzip also wie der Lebensstandard der abhängig Beschäftigten. Und wenn sich das Bruttoinlandsprodukt auch nur annähernd gerecht auf die Löhne niederschlägt, dann ist die Rente sogar unabhängig von der demographischen Entwicklung gesichert: Denn durch die Technisierung wird mit immer weniger Menschen immer mehr Umsatz erzeugt.
Um die Renten auf ein Lebensstandard erhaltendes Niveau zu bringen, muss schlicht mehr Geld aus der Wertschöpfung ins System fließen, Geld, das reichlich vorhanden ist, wie die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zeigt. Daran führt kein Weg vorbei und dass es geht, zeigen die Staaten in unserer Nachbarschaft. In Deutschland wird für die Altersversorgung 10,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben, in Österreich sind 13,3 Prozent, in Frankreich 14,8 Prozent und in Italien sogar 15,4 Prozent. Würden auch in der BRD drei Prozent vom BIP mehr für Renten ausgegeben, dann wären das 120 Milliarden mehr pro Jahr. Genug, um die Renten um 35 Prozent zu erhöhen.
Im Interesse der jetzigen und künftigen Rentnergenerationen müsste eine Rentenreform folgende zentrale Elemente haben:- Ein Nettorentenniveau, das mindestens 75 Prozent der im Arbeitsleben erreichten Nettolöhne garantiert.
- Eine Mindestrente, die immer über der Armutsgefährdungsschwelle liegt – aktuell sind das 1.250 Euro netto.
- Eine gemeinsame Erwerbstätigenversicherung, in die auch Beamte, Selbständige und Politiker einzahlen und nach gleichen Regeln Rente beziehen.
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