Du bist hier der Chef!

Verbraucher entscheiden gemeinsam, was ihnen wichtig ist

Mit diesem Branding kommen jetzt Lebensmittel auf den Markt, die von den Verbraucher*innen selbst definiert werden. Kriterien wie Herkunft, Art der Produktion, Entlohnung, Qualität und Verpackung bestimmen in einem offenen Online-Prozess schließlich auch den Preis. Ab jetzt entscheiden Verbraucher*innen gemeinsam, was ihnen wichtig ist!
 
© Du bist hier der Chef!Nicolas Barthelmé gründete 2019 im hessischen Eltville die Verbraucherinitiative „Du bist hier der Chef! Die Verbrauchermarke" e.V. Erstmals darf der/die Verbraucher*in dabei selbst entscheiden, was ihm/ihr bei einem Produkt wichtig ist und zu welchem Preis er/sie bereit ist, es zu kaufen. Das Ergebnis soll eine gerechte Vergütung für die Landwirte und mehr Transparenz für die Verbraucher*innen sein. In Frankreich hat sich das Konzept bereits bewährt. Dort ist die Verbrauchermarke „C‘est qui le patron?!" mit mehr als 30 Produkten seit 2016 in den Regalen des Lebensmittelhandels zu finden. 
 
Wert kommt von Wertschätzung 
Der Franzose Nicolas Chabanne, Gründer der gegen Lebensmittelverschwendung kämpfenden Initiative Gueules Cassées, hatte die Idee, eine Marke für Konsument*innen zu entwickeln. Zum ersten Mal sollten Verbraucher*innen gefragt werden, wie viel sie für ein Produkt zahlen wollen, bevor sie es kaufen. Chabanne startete mit der Frage: Wie viel ist Ihnen ein Liter Milch wert? 

Als Basis wurde ein marktüblicher Grundpreis für einen Liter Milch festgelegt. Mittels einer Umfrage konnten die Konsument*innen selbst bestimmen, ob sie den Grundpreis und die Umstände der Herstellung ausreichend fanden oder ob sie mehr wollten. Das Ergebnis der Umfrage war eine Überraschung. Die Konsument*innen waren sofort bereit, 9 Cent mehr zu zahlen, so dass die Bauern nicht nur fair bezahlt würden, sondern auch die Möglichkeit erhielten, in Urlaub zu gehen. Einen Cent zusätzlich zahlten die Konsument*innen spontan mehr, damit die Milch aus Frankreich stammt, 6 Cent dafür, dass die Kühe vier Monate pro Jahr auf die Weide dürfen, und 7 Cent mehr war ihnen eine artgemäße und gentechnikfreie Fütterung der Kühe wert. Zusammen war den Verbraucher*innen also „ihre Milch" 29 Cent mehr wert, als sie im Supermarkt kostete. Soweit die Theorie – doch wie läuft das Projekt in der französischen Praxis? 

Die Milch macht den Anfang 
Lieber gut als billig: Als in Frankreich Verbraucher*innen zu gentechnisch verändertem Tierfutter, zu Antibiotika in Tieren und zu fairer Bezahlung von Bauern befragt wurden, ist Erstaunliches passiert: Die Konsumenten haben sich eindeutig für „gut2016 startete die Milch unter der neu gegründeten Marke „C’est qui le patron?!" (Wer ist hier der Chef?) in den ersten Geschäften. Der Erfolg überraschte alle. Die abpackende Molkerei musste sogar am Wochenende arbeiten und neue Mitarbeiter einstellen, um der Nachfrage gerecht zu werden. Die liefernden Bauernhöfe ließen die Milchkrise hinter sich. Endlich konnten die Bauern von ihrer Arbeit wieder leben und sogar in die Zukunft des Hofes investieren. Mittlerweile liefern über 350 Milchbetriebe in das Projekt. Jetzt hat auch der/die deutsche Verbraucher*in in seiner/ihrer Chefrolle über ein „custom designed"-Produkt entschieden: Per Online-Fragebogen haben in nur drei Monaten mehr als 9.300 Verbraucher*innen mit ihrer Stimme unter anderem über Qualität, Regionalität, Tierwohl, Vergütung für die Landwirte und Verpackungsart entschieden und damit die unverbindliche Preisempfehlung mitbestimmt. Ihre Wünsche wurden nun in die Tat umgesetzt – die erste Verbraucher-Milch steht seit 20. Juli 2020 in 400 Rewe-Märkten in Hessen – vor allem im Rhein-Main-Gebiet – im Regal. 

Für die gewählte Milch verbringen die Kühe mindestens vier Monate auf der Weide, erhalten im Stall überwiegend Frischgras während der Vegetationsperiode und ausschließlich regional hergestellte Futtermittel. Die Anwendung eines neuen Tiergerechtheitsindex (ein ganzheitliches Punktesystem mit fünf Einflussfaktoren) soll ein ausgezeichnetes Tierwohl im Stall sichern. Die Milch ist biologisch und trägt somit zur Förderung von Artenvielfalt bei. Zusätzlich geht vom Verkauf ein Cent pro Liter an ausgewählte Betriebe, die entweder auf ökologische Landwirtschaft umstellen oder die kuhgebundene Kälberaufzucht umsetzen wollen. „Damit ist die Verbraucher-Milch ein hochwertiges und zukunftsweisendes Produkt", unterstreicht Barthelmé, „mit der Markteinführung möchten wir als Verbraucher zusammen mit den Landwirten ein Zeichen für Wertschätzung und Qualität setzen." 

Da stimmen Tierwohl, Qualität und Preis
Die erste Variante – die frische Bio-Weidemilch mit einem natürlichen Fettgehalt von mindestens 3,7 Prozent – wird traditionell hergestellt. Folgen sollen eine fettarme Frisch- sowie H-Milchvarianten, die die gleichen Kriterien erfüllen.

Die unverbindliche Preisempfehlung liegt bei 1,45 Euro pro Liter. Landwirte bekommen eine faire Vergütung von 0,58 Euro pro Liter (+0,11 €/Liter im Vergleich zum Bundesdurchschnitt für Bio-Milch). „Die neue Marke ist eine Chance, die Verbraucher*innen tatsächlich mitzunehmen. Wir produzieren genau nach ihren Wünschen und sie können sich mit unserer Milch identifizieren. Und natürlich ist es auch nicht unerheblich, dass wir einen fairen Auszahlungspreis garantiert bekommen", sagt Sven Lorenz, Landwirt aus Vöhl und Vorsitzender der Milcherzeugergemeinschaft Hessen, deren Betriebe die Verbraucher-Milch produzieren.
 
„Wir suchen Partner (Landwirte, Hersteller, Händler), die unsere Werte teilen und die mit uns gemeinsam wertvolle, faire und verantwortungsvolle Produkte ins Leben rufen wollen."
Nicolas Barthelmé, Initiator der Verbraucherinitiative „Du bist hier der Chef!"

Die Abholung, Verarbeitung und Vermarktung der Verbraucher-Milch übernimmt die regional stark verankerte Upländer Bauernmolkerei aus Willingen/Usseln. „Die Teilnahme an dieser Initiative sehe ich als logische Fortführung unserer bisherigen Unternehmensentwicklung. Wir haben bereits zuvor Aktionen gestartet, mit denen wir die Verbraucher*innen für eine faire Milchentlohnung sensibilisieren wollten. Hier nun ist der Verbraucher zum ersten Mal wirklich direkt einbezogen. Natürlich versprechen wir uns einen wirtschaftlichen Erfolg, aber wir hoffen auch, mit der neuen Marke eine Entwicklung anzustoßen, die das Bewusstsein der Menschen hierzulande in eine neue Richtung bewegt", so Karin Artzt-Steinbrink, Geschäftsführerin der Molkerei.

Der Verbraucher als Produktdesigner
Erlöse für den Landwirt: Konventioneller Betrieb: ca. 30 Cent; Für Milch in Bioqualität: ca 47 Cent; Bei Du bist hier der Chef: ca 58 Cent. © Du bist hier der Chef!Auf der Internetplattform www.dubisthierderchef.de wählen die Verbraucher*innen ein Produkt aus, beantworten den entsprechenden Fragebogen, entscheiden über relevante Produktmerkmale wie Herkunft, Produktionsprozess, Vergütung für die Landwirte, Qualität und Verpackung und bestimmen den Verkaufspreis mit. Jedes der gewählten Merkmale erhöht den Preis. „Alle Antworten werden dann ausgewertet und in einem Pflichtenheft zusammengefasst", erklärt der Betriebswirt Barthelmé weiter. „Die Verbraucher*innen schaffen sich ihr Lieblingsprodukt gewissermaßen selbst, und damit es dann auch den Weg in die Supermarktregale findet, suchen wir parallel Landwirte, Hersteller und Händler als Partner." Milch war – wie in Frankreich – das erste Produkt, das auf diese Weise im Markt eingeführt wurde. In Kürze sollen Eier, Kartoffeln und Butter folgen. Über die Wichtigkeit in der Reihenfolge haben ebenfalls die Verbraucher*innen bereits abgestimmt. In Kürze werden die Online-Formulare für die Abstimmung der nächsten Produkt-Designs veröffentlicht. Auf diese Weise sollen alle wichtigen Lebensmittel nach und nach in die neue Marke integriert werden.

Die Teilnahme am Voting ist für Verbraucher*innen kostenlos. Zudem können besonders engagierte Verbraucher*innen mit einer einmaligen Aufnahmegebühr von einem Euro ab sofort Vereinsmitglied werden und die Entwicklung der Initiative mitgestalten. „Uns ist es wichtig, dass unsere Mitglieder an allen wichtigen Entscheidungen der Initiative teilhaben, diese bei der Kommunikation beziehungsweise bei Events unterstützen oder die Partner besuchen, um zum Beispiel die Einhaltung der von der Community gewählten Pflichtenhefte vor Ort zu kontrollieren", erklärt der Gründer der Initiative. Mundpropaganda und Social Media sollen herkömmliche Werbung ersetzen und so zu attraktiven Preisen beitragen.
 
Von Karl Heinz Jobst

Lifestyle | Essen & Trinken, 31.08.2020
Dieser Artikel ist in forum 03/2020 - Digitalisierung und Marketing 4 Future erschienen.
     
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