Schon im Jahr 2012 berichtete eine EMNID-Umfrage, dass sich rund 80 Prozent der Menschen in unserem Land eine neue Wirtschaftsordnung wünschen. Anlass war damals die Finanz- und Bankenkrise. Angesichts weiterer Herausforderungen wie Klimawandel, Plastikverschmutzung und wachsende Weltbevölkerung ist es an der Zeit, neue Modelle zu erproben.
© Anemone123, PixabayDie Emnid-Umfrage setzte klare Signale: Zwei von drei Befragten misstrauen bei der Lösung der Probleme den Selbstheilungskräften der Märkte. Der Kapitalismus sorge weder für einen „sozialen Ausgleich in der Gesellschaft" noch für den „Schutz der Umwelt" oder einen „sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen". In einer Rangfolge der persönlich wichtigen Dinge stehen für die Befragten zunehmend postmaterielle Ziele oben: „Gesundheit" liegt auf dem Spitzenplatz, gefolgt von „Zufriedenheit mit der persönlichen Lebenssituation" und dem „Schutz der Umwelt". Erst als Letztes wünschen sich die Deutschen „Geld und Besitz zu sichern und zu mehren".
Leider wurden solche Signale von der Politik damals wie auch heute nicht weiter ernst genommen. Die Wirtschaftspolitik basiert noch immer auf der „Heiligen Kuh" Wachstum und dem Dogma Gewinnmaximierung. Die Globalisierung gipfelt in einer ungeahnten Perversion von billiger Produktion einerseits und sinnlosem Konsum andererseits. Dazwischen expandiert der Handel und eskaliert der internationale Transport in selbstzerstörerischen Größenordnungen. Geld ist zum Selbstzweck geworden, es vermehrt sich wie von selbst. Arbeit dagegen verliert zunehmend an Wert und wird hoch besteuert, während sich digitale Konzerne noch immer im fiskalischen Nirwana tummeln.
Der Erfolg einer Wirtschaft ist nicht nur am Bruttoinlandsprodukt messbar
Das Ergebnis dieser kaum regulierten Spirale sind nicht etwa wachsendes Glück und Wohlstand für alle, sondern vielmehr Ausbeutung, Werteverlust, sozialer Abstieg für Viele sowie Umwelt- und Klimaschäden weltweit in nicht mehr beherrschbarem Ausmaß. Es ist eine Farce, welch große Bedeutung heute der neoliberalen Wirtschaft, der Spekulation und den „Märkten" zugestanden wird. Zu bester Sendezeit – kurz vor der Tagesschau – wird täglich wie selbstverständlich der Börsenbericht gesendet, so als ob es für die meisten Menschen in diesem Land nichts Wichtigeres gäbe, als die aktuellen Auswirkungen von Brexit, Nahost-Krise oder Trump-Eskapaden auf ihr Aktien-Portfolio zu erfahren, wenn sie denn über ein solches verfügen würden.
„Börse vor 8" ist ein markantes Beispiel dafür, wie Prioritäten in den Medien unserer Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten sind. DAX und NYSE über alles! Was interessiert in diesen drei Minuten da schon der erbärmliche Zustand des Planeten, die Menschenrechtsverletzungen durch internationale Konzerne oder die Fluchtursachen in aller Welt, hervorgerufen durch börsennotierte Unternehmen mit globalem, wirtschaftspolitischem Machtanspruch.
Ist die Wirtschaft noch zu retten oder brauchen wir einen Neustart?
?Es gibt inzwischen viele alternative Theorien, wie das aus den Fugen geratene und krisengeschüttelte Wirtschaftssystem wieder den Menschen, der Allgemeinheit und nicht den Oligarchen dienen könnte. Die meisten setzen dabei auf politische Ordnungsmaßnahmen wie z.B. das „Economic Balance System", das eine ganze Reihe von Beschränkungen in allen bestehenden Märkten vorsieht. Diese müssten jedoch von der Politik in zahlreichen Gesetzen umgesetzt werden, was eine gewaltige Bewusstseinsänderung in der Politik voraussetzen und vehemente Widerstände in der besitzenden und machtausübenden Klasse hervorrufen dürfte. Die Aussicht auf eine solche oder ähnliche Lösung erscheint deswegen noch lange nicht als Licht am Horizont.
Sozialismus, Kommunismus oder Planwirtschaft haben sich in der Vergangenheit nicht bewährt und sind an ihren eigenen Schwächen gescheitert. An Neuauflagen dieser theoretisch guten aber praktisch unhaltbaren Modelle traut sich so schnell keiner mehr heran. Der Kapitalismus existiert zwar noch in seiner ganzen Perversion, ist aber dabei, sich selbst durch Größenwahn und Degeneration zu zerstören. Der Höhepunkt scheint längst überschritten.
Eine gänzlich andere Lösung verfolgt die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Sie orientiert sich an den wahren Bedürfnissen der Menschen. Und zwar aller Menschen, die sowohl ihre Rolle als Arbeitgeber*innen oder Produzent*innen als auch als Arbeitnehmer*innen und Konsument*innen spielen. Das Wohl von Mensch und Umwelt soll zum obersten Ziel des Wirtschaftens erhoben werden. So wie es in manchen Verfassungen geschrieben steht, aber politisch bisher kaum umgesetzt wurde. Christian Felber, der Initiator der GWÖ zitiert zu diesem Wertesystem Joachim Bauer: „Zu kooperieren, anderen zu helfen und Gerechtigkeit walten zu lassen ist eine global anzutreffende, biologisch verankerte menschliche Grundmotivation. Dieses Muster zeigt sich über alle Kulturen hinweg". Und Felber ergänzt: „Die heutige Wirtschaft und Ethik schließen sich aus."
Die Gemeinwohl-Ökonomie will ein ethisches Wertesystem wieder etablieren, das fast verloren gegangen ist – von unten nach oben und nach dem Prinzip der Freiwilligkeit und der Belohnung. Die GWÖ ist eine Vision für das große Ganze und gleichzeitig ein funktionierendes Modell, das bereits jetzt ohne politische Unterstützung punktuell erfolgreich praktiziert wird und sich auf Basis von Vernunft und Freiwilligkeit weltweit in beachtlicher Geschwindigkeit ausbreitet. Es existiert gegenwärtig parallel zum globalen Kapitalismus – ganz ohne Revolution –als nachahmenswertes Vorbild, dem sich Unternehmen zukünftig nur schwer entziehen können. Birgt es doch Vorteile, die sich in vielen Bereichen existenzsichernd für Unternehmen und Umwelt auswirken.
Für die breitflächige Etablierung eines ethischen Wirtschaftssystems in Europa wurde das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie auch vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weiterempfohlen.
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein innovativer Ansatz, der Beachtung auf allen Ebenen verdient!
... auf wirtschaftlicher Ebene eine lebbare, konkret umsetzbare Alternative für Unternehmen verschiedener Größen und Rechtsformen. Der Zweck des Wirtschaftens und die Bewertung von Unternehmenserfolg werden anhand gemeinwohl-orientierter Werte definiert.
... auf politischer Ebene ein Motor für rechtliche Veränderung. Ziel des Engagements ist ein gutes Leben für alle Lebewesen und den Planeten, unterstützt durch ein gemeinwohl-orientiertes Wirtschaftssystem. Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung sind dabei die zentralen Werte.
... auf gesellschaftlicher Ebene eine Initiative der Bewusstseinsbildung für Systemwandel, die auf dem gemeinsamen, wertschätzenden Tun möglichst vieler Menschen beruht. Die Bewegung gibt Hoffnung und Mut und sucht die Vernetzung mit anderen Initiativen.
Jedes Unternehmen, jede Kommune, aber auch Vereine, Verbände und andere Organisationen können sofort und parallel zur bisherigen Betriebswirtschaft die Gemeinwohl-Ökonomie verfolgen und in mehrerlei Hinsicht profitieren. Ein Gemeinwohl-Unternehmen hebt sich in der Außenansicht positiv und vorbildhaft aus der Masse der Unternehmen ab. Es kann wegen hoher Zufriedenheit seiner Mitarbeiter*innen auf die wichtigste aller Ressourcen eines Unternehmens – das Personal – vertrauen. Die zukünftig unumgängliche unternehmerische Entwicklung zu nachhaltiger Produktion, umweltfreundlichen Produkten und rundum klimaschützendem Verhalten werden von einem GWÖ-Unternehmen dokumentiert und gleichzeitig wird Verbesserungspotenzial aufgezeigt. Die GWÖ betrachtet in erster Linie sogenannte „weiche Faktoren" in Unternehmen, die sich jedoch entscheidend auf die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz im Markt auswirken.
Unternehmen und Kommunen: Mit der Gemeinwohl- Bilanz auf dem Weg in die GWÖ
Der GWÖ-Einstiegbericht ist eine erste unkomplizierte Selbsteinschätzung. Er dient der Orientierung, macht mit der Systematik vertraut und lässt bereits erkennen, dass man durchaus nicht bei null anfängt, sondern dass jedes Unternehmen bereits mehr oder weniger gemeinwohl-orientiert ist, allerdings in der Regel mit viel Luft nach oben.
Danach folgt konsequenterweise die Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz neben der gewohnten betriebswirtschaftlichen Bilanz, die Zahlen und Fakten für eine Gemeinwohl-Betrachtung liefert. Der Banker Helmut Lind, Vorstandsvorsitzender der Sparda-Bank München eG kommentiert die Entscheidung seiner Bank für die regelmäßige Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz: „Die Orientierung am Gemeinwohl ist für mich das wichtigste Fundament der Zukunft und damit auch jeder künftigen Produktivitätssteigerung."
Die GWÖ unterscheidet zwischen einer Kompaktbilanz und einer Vollbilanz, die sich in Umfang und Tiefe deutlich unterscheiden. Für einen Start in die GWÖ ist zunächst die Kompaktbilanz zu empfehlen.
Drei Möglichkeiten zur Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz werden angeboten:
- eigenständige Erstellung eines Gemeinwohl-Berichts ohne GWÖ-Berater*in
- Erstellung eines Gemeinwohl-Berichts in Begleitung von Gemeinwohl-Berater*innen
- Erstellung eines Gemeinwohl-Berichts in einer Peer-Gruppe, moderiert durch eine Gemeinwohl-Berater*in
Aus Erfahrung kann behauptet werden, dass die Erstellung eines Gemeinwohl-Berichts in einer Peer-Gruppe die einfachste, aber auch die lehrreichste Methode ist. Der offene Vergleich im Rahmen gegenseitiger Beurteilung zwischen unterschiedlichsten Unternehmen ist sehr zu empfehlen. Eine Vorgehensweise anhand des zur Verfügung gestellten ausführlichen Arbeitsbuchs ist sinnvoll und notwendig. Der Peer-Gruppe wird von der GWÖ ein Coaching-Team zur Seite gestellt, das offene Fragen kompetent beantworten kann und zielführend durch den gesamten Prozess leitet. Am Beispiel von fünf Unternehmen im Raum München-Starnberg kann dies aktuell belegt werden.
Ablauf einer Peer-Gruppen-Arbeit – ein Bericht aus der Praxis gibt Einblicke
Der GWÖ-Bilanz liegt eine Gliederung in Form einer Matrix zugrunde. Sie wird stetig weiterentwickelt, weil Unternehmen ihre Erfahrungen reflektieren und an Verbesserungen stark interessiert sind. Hier die aktuelle Version 5.0. Für die vier Wertegruppen Menschenwürde, Solidarität, Ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung wurde jeweils ein ganzer Tag der intensiven Zusammenarbeit angesetzt. Alle Unternehmen bereiteten pro Tag eine Wertegruppe in Bezug zu allen Berührungsgruppen A-E vor, fassten die Eigenbeurteilung in Textform zusammen und stellten sie der Runde zur Diskussion. Mehrheitlich, jedoch meist einvernehmlich, wurde abgewogen, korrigiert und schließlich für jedes einzelne Thema eine Wertung in Prozentpunkten festgelegt. Im Hintergrund arbeitete dabei ein Gemeinwohl-Kompaktbilanz-Rechner in Form einer Tabellenkalkulation. Es zeigte sich, dass bei den Beurteilungen der Themen durchaus größere Unterschiede deutlich wurden. Durch gegenseitige Argumentationen und durch die Unterstützung und Erfahrung der Coaches konnten die Meinungsverschiedenheiten jedoch allesamt relativiert werden.
Der ganze Bilanzierungsprozess dauerte etwa ein Jahr, wobei die Findung der gemeinsamen Termine die größte Schwierigkeit darstellte. Es hat sich deshalb als gut erwiesen, wenn nicht nur eine Person pro Unternehmen an der Erstellung des Gemeinwohl-Berichts beteiligt war. Zum Abschluss fand eine Besprechung der Endfassungen aller Berichte statt und die endgültige Einordnung in das Matrix-Punkte-System. Die fertigen Berichte wurden eingereicht, geprüft und schließlich mit einem Testat bestätigt.
In der Peer-Gruppe wurde diskutiert, ob das Bilanzergebnis nach Punkten gewünscht ist oder ob dadurch ein Wettbewerb zwischen den Unternehmen entsteht, der eigentlich nicht im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie ist. Die Gruppe war einhellig der Meinung, dass eine textliche Beurteilung des Bilanzergebnisses und eine Einreihung in Fortschritt-Kategorien aussagekräftiger seien. Vorerst bleibt es jedoch noch bei der Punktebewertung, wie sinnvoll sie auch sein mag. Konsens bei allen Teilnehmer*innen war auch, dass die wechselseitige Betrachtung und der unbestechliche Spiegel des Gemeinwohls zu Bewusstseinserweiterung geführt haben, die im Ergebnis zur Verbesserung der Strukturen im Unternehmen führen wird. Bleibt noch zu ergänzen, dass die Zertifikate anschließend ordentlich gefeiert wurden, um sich für die Mühen zu belohnen.
Von Karl Heinz Jobst
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2019 - Social Business beseitigt Plastik-Müll und schafft neue Jobs erschienen.
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