Ein außergewöhnliches Filmprojekt gab den Ausschlag für eine Reise in die Zukunft. forum besuchte die Transition Town Ungersheim im Elsass. Sie zeigt, wie nachhaltiges Leben in der Praxis funktionieren kann.

Die bekannte Filmemacherin Marie-Monique Robin hat ein ganzes Jahr in der 2.400 Seelen-Gemeinde Ungersheim für ihren Dokumentarfilm „
Worauf warten wir noch?" gedreht. Länger als geplant, denn was sie dort vorfand, zog sie immer mehr in seinen Bann. Robin zeigt, welch beeindruckende Ergebnisse entstehen können, wenn eine Nachhaltigkeitstheorie durch einen konsequent demokratisch arbeitenden Gemeinderat mit einer offenen bürgermeisterlichen Führung und mit einer Gruppe engagierter Bürger*innen in die Realität umgesetzt wird.
Gesellschaft im Wandel
Die weltweite Bewegung „Transition Town" (TT) – oder besser „Stadt im Wandel" – die von Robert „Rob" Hopkins, einem britischen Dozenten und Umweltaktivisten in Büchern und konkreten Projekten bekannt gemacht wurde, vernetzt inzwischen weltweit 1.000, in Deutschland aktuell etwa 120 lokale Initiativen. Und diese Transition Town-Initiativen verlassen sich nicht darauf, dass die Politik rechtzeitig handelt und etwa auf das absehbare Ende der fossilen Energieträger und anderer Rohstoffe reagiert, sondern ergreifen selber Maßnahmen, um aktiv die Zukunft zu gestalten. Reduktion von fossilem Energieverbrauch und die Förderung von erneuerbaren Energien, Stärkung einer regionalen und lokalen Wirtschaft oder eine möglichst weitreichende autarke Versorgung mit Nahrungsmitteln auf der Basis ökologischer Land- und Gartenwirtschaft sind nur ein kleiner Auszug der TT-Aktivitäten.
Mit dem Kolibri fing alles an
Ungersheim war bis vor wenigen Jahrzehnten vom Kali-Bergbau abhängig. Seine Bewohner mussten sich nach dem Ende der Minenarbeit neue Arbeit suchen und hatten deswegen schon einmal eine Transformation hinter sich. Dies erklärt vielleicht die hohe Bereitschaft der Bevölkerung für erneute Änderungen, für den Wandel. Es fing an mit der Bewegung „Le colibri", die im Jahr 2000 von einigen Bürgern gegründet wurde, um die zunehmende Verwüstung und Verwahrlosung in der Gemeinde zu stoppen. Aus dieser Gruppe heraus wuchsen im Lauf der Jahre fast von allein immer mehr Ideen.
Entscheidend für die Nachhaltigkeitsfortschritte waren jedoch die „21 Aktionen für das 21. Jahrhundert". Wie uns der Bürgermeister Jean-Claude Mensch mit sichtlichem Stolz erklärt, stehen die Aktionen auf drei Säulen:
- Geistige Freiheit, um sich von Werbung und Konsumzwang zu befreien, bereichernde Lebensstile zu finden und die ökologischen Grenzen des Planeten zu erkennen,
- Energieautonomie, für mehr Entwicklungsspielraum, wo- mit Energiekosten in der Region bleiben, statt an Konzerne abzufließen,
- Ernährungssouveränität, die den gesamten Weg vom Saat- gut bis zum Teller beinhaltet.
„Transition ist ganz einfach", erklärt der Bürgermeister mit einem Lächeln. „Man muss nur den Wandel anstoßen, der den Menschen ohnehin schon lange am Herzen liegt. Seitdem gestalten wir unsere Zukunft selbst. Der fortschreitende Klimawandel hat uns dazu bewegt, wesentlich schneller die Maßnahmen zu ergreifen, die wir selbst beeinflussen können." Jean-Claude zitiert gern die Fabel vom Kolibri, der ganz allein versucht, einen Waldbrand zu löschen, während alle anderen Tiere nur zusehen und seinen Erfolg anzweifeln. Der Kolibri erklärt ihnen: „Ich tue das, was ich kann. Ich tue mein Bestes."
Lebendige und partizipative Demokratie

Der bereits zum fünften Mal gewählte Bürgermeister lebt mit Leidenschaft Basisdemokratie. Wie er selbst zugibt, sind die Diskussionen und Entscheidungsprozesse oft schwierig und langwierig. Aber sie bringen die Sicherheit, dass die Bürger*innen mehrheitlich hinter den Entscheidungen stehen und sie schließlich auch verteidigen. Das erleichtert wiederum seine Arbeit und nimmt ihm Verantwortung ab.
Die Bürgerbeteiligung besteht aus einem Partizipationsrat, einem Bürgerrat, einem Rat der Weisen und einem Kinderrat. Den Räten wird Verantwortung übertragen, wo immer dies möglich und sinnvoll ist. So regelt zum Beispiel der Partizipationsrat die Arbeiten am gemeinschaftlichen Bauernhaus oder dem abgebrannten „Haus der Natur und Kultur", das wiederaufgebaut werden soll. Er kümmert sich um die kommunalen Bepflanzungen und organisiert regelmäßig Feiern, um den Gemeinsinn und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. So veranstaltet die Gemeinde jedes Jahr das dreitägige „Festival Eco-Equitable Bio Ungersheim" mit Musik und selbst erzeugten Spezialitäten und ist selbstverständlich Fair Trade-zertifiziert. Besonders bemerkenswert: Es sind nur etwa fünfzig Aktivist*innen, die in der Gemeinde die Rolle des kreativen Anschiebens und der praktischen Umsetzung übernommen haben und damit so große Veränderungen bewirken.
Konsequentes und eigensinniges Energiemanagement
Es gibt nicht viele Kommunen in Frankreich, die die Daseinsberechtigung der Atomenergie in Frage stellen. Ungersheim gehört dazu und hat nicht nur einen Antrag für den Ausstieg aus der gefährlichen Technologie gestellt, sondern ist selbst konsequent vorangegangen. Obwohl die Steuereinnahmen der Gemeinde nur 1,8 Mio. Euro betragen, betreibt sie mittlerweile eine große Sporthalle mit Schwimmbad und andere öffentliche Einrichtungen kostendeckend. Eine Hackschnitzelheizung, Solarwärme und der selbst produzierte Strom machen es möglich. Nicht nur die Halle, sondern sieben weitere öffentliche Gebäude werden vollständig mit regenerativer Energie versorgt. Die laufenden Kosten sind wegen der weitgehenden Energieautarkie gering und mit der Umstellung auf dimmbare LED-Technik konnten bereits ab 2006 40 Prozent der Energie bei der Straßenbeleuchtung eingespart werden. Eine Abschaltung der Parkplatz- und Radwegbeleuchtung ab Mitternacht verstärkt seit kurzem die Effizienz und hat den zusätzlichen Vorteil, dass die reduzierte Lichtverschmutzung Insekten und Menschen weniger schadet.
Inzwischen betreibt Ungersheim Photovoltaikanlagen mit 5,4 MWp auf Dächern und Konversionsflächen des Kalibergbaus und kann damit 10.000 Einwohner*innen mit Strom versorgen. Der Verkauf von Strom an umliegende Gemeinden und Private generiert seither stattliche Einnahmen für den Gemeindesäckel. Zukünftig fördert die Gemeinde private PV- und Solaranlagen und konzentriert sich nunmehr verstärkt auf die Einsparung von Wärmeenergie. Neubauten werden ausschließlich in Passivhaus-Bauweise oder Plusenergie-Bauweise mit Energiegewinnung genehmigt.

Doch damit nicht genug. Bereits 2006 hat Ungersheim ein vollständiges Pestizid- und Kunstdüngerverbot auf kommunalen und privaten Flächen erlassen und verwendet in allen öffentlichen Gebäuden ausschließlich ökologische Reinigungsmittel. Auch im Verkehrsbereich geht der Ort mutig voran: Zur Reduktion von Lärm und CO
2-Ausstoß gilt durchgehend Tempo 30 und Radfahrer*innen genießen sichtbaren Vorrang vor dem Autoverkehr. Eine auffällige und sympathische aller Maßnahmen ist jedoch der Einsatz von zwei Pferden für den Transport der Schulkinder, für die Müllsammlung und die Feldarbeit. Man glaubt es kaum, aber das Pferdegespann ist schneller, wendiger und obendrein leiser als die motorisierte Konkurrenz und liefert auch noch natürlichen Dünger für das Gemüse.
Lebensmittel für Lebewesen
In großen Gewächshäusern auf 4.000 m2 und auf 8 ha Freiflächen arbeiten Gärtner*innen und Langzeitarbeitslose an der Ernährungssouveränität von Ungersheim. Das Ziel ist, hochwertiges Gemüse, frischen Salat und gesundes Obst in Demeter-Qualität, der höchsten Bio-Stufe, zu erzeugen. Der Prozess beginnt bereits bei der Samengewinnung alter Sorten, um unabhängig von Hybridsaatgut von Agro-Konzernen zu bleiben. Auf Teilen der Gärten können Bürger*innen aktiv mitarbeiten, um auf diese Weise Anteile am Ertrag zu erhalten. Auch Kinder helfen auf den Feldern im Rahmen des Schulunterrichts mit, denn schließlich versorgt sie im Gegenzug die gemeindeeigene Catering-Küche täglich mit Bio-Essen.
In den Sommermonaten füllen die Gärten zusätzlich 250 Gemüsekörbe wöchentlich, die die Ungersheimer kaufen und selbst konsumieren. Weitere saisonale Überschüsse an Gemüse werden seit einigen Jahren in der eigenen kleinen Konservenfabrikation verarbeitet und im Winter verkauft. Ins Strahlen gerät der Bürgermeister, als er für uns das nagelneue Gebäude der Brauerei aufsperrt. Es ist noch leer, aber die Anlage soll in Kürze installiert werden. „Bald bekommen wir unser eigenes Bier, das wird den Zusammenhalt der Gemeinde noch einmal merklich verstärken". Zur Unterstützung des einheimischen Gewerbes hat Ungersheim auch eine lokale, komplementäre Währung eingeführt: „Le Radis" oder „d’r Ràadig" wie er im elsässischen Dialekt heißt. 1 Radis entspricht immer 1 Euro.
Warum braucht eine so kleine Gemeinde eigenes Geld?
Kleine Händler*innen leiden sehr unter der Globalisierung und unter dem ständig wachsenden Online-Handel. Eine lokale oder regionale Währung zirkuliert nur innerhalb eines begrenzten Raums, so dass das Geld nicht abfließen kann. Eine Regionalwährung bindet Kunden an die Region, das vorhandene Kapital fließt nicht ab und vermehrt nicht den Reichtum von internationalen Konzernen, sondern dient ausschließlich dem Auskommen und Wohlstand der örtlichen Geschäftsinhaber. Der Lebensmittelladen, der Bäcker und Metzger und nicht zuletzt das Gasthaus und das Restaurant im Ort haben somit eine Chance zu überleben. Sie bilden zusammen die Infrastruktur, die eine Gemeinde lebenswert und liebenswert macht. Es sind nicht das Gewerbegebiet und der Supermarkt am Ortsrand, die der Stadt, dem Dorf Identität geben. In Ungersheim nutzen nur 6 Prozent der Menschen den Radis, trotzdem sind es sind immerhin ca. 240.000 Euro, die regelmäßig pro Jahr im Ort auf diese Weise im Umlauf sind.
Zum Abschluss bleibt die Frage: Ist es möglich, den Ungersheimer Wandel auf andere Gemeinden zu projizieren? Das Resümee ist, dass viele Dinge gleichzeitig wie ein Puzzle zusammenpassen müssen. Es fängt bei der kommunalpolitischen Führung an, die offen und basisdemokratisch denken und handeln muss. Es geht weiter mit der Existenz von starken bürgerlichen Gruppen, die von sich aus initiativ werden und es endet mit dem Willen einer breiten und vor allem jungen Bürgerschaft, sich aus der Lethargie des „weiter so" zu lösen und an der Verbesserung der „weichen" Faktoren eines glücklichen Lebens arbeiten zu wollen. Treffen diese Dinge zu, dann kann eine Blaupause von Ungersheim überall Wirklichkeit werden.
Also – worauf warten wir noch? Fangen wir einfach noch heute an!
Von Karl Heinz Jobst
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2019 - Social Business beseitigt Plastik-Müll und schafft neue Jobs erschienen.
Weitere Artikel von Karl Heinz Jobst:
Sind wir schlauer als die Evolution?
Der aktuelle Kommentar von Karl-Heinz Jobst zu den neuen Gentechnik-Plänen der EUDie EU will die Neue Gentechnik deregulieren. Was bedeutet das für Mensch und Umwelt?
Du bist hier der Chef!
Verbraucher entscheiden gemeinsam, was ihnen wichtig istMit diesem Branding kommen jetzt Lebensmittel auf den Markt, die von den Verbraucher*innen selbst definiert werden. Kriterien wie Herkunft, Art der Produktion, Entlohnung, Qualität und Verpackung bestimmen in einem offenen Online-Prozess schließlich auch den Preis. Ab jetzt entscheiden Verbraucher*innen gemeinsam, was ihnen wichtig ist!
Die Gemeinwohl-Ökonomie
Wie setzt man sie konkret um?Schon im Jahr 2012 berichtete eine EMNID-Umfrage, dass sich rund 80 Prozent der Menschen in unserem Land eine neue Wirtschaftsordnung wünschen. Anlass war damals die Finanz- und Bankenkrise. Angesichts weiterer Herausforderungen wie Klimawandel, Plastikverschmutzung und wachsende Weltbevölkerung ist es an der Zeit, neue Modelle zu erproben.
Riace darf nicht sterben!
Rettung des "Best Practice"-Vorbilds für IntegrationWird der europäische Leuchtturm für eine gelungene Integration von Flüchtlingen ein Opfer rechtsradikaler Populisten? Gewinnt die Mafia oder erhält der Bürgermeister den Friedensnobelpreis?