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Indien - der Lederschuhgigant

Während die deutsche Schuhproduktion in den letzten Jahrzehnten konstant zurückging, sind China und Indien zu Weltmächten der Schuhherstellung aufgestiegen. Indiens herausragende Rolle bei der Fertigung von Lederschuhen war für SÜDWIND ein Grund, die Produktionsbedingungen vor Ort unter die Lupe zu nehmen.
 
Der Konsum von Schuhen ist stetig angestiegen. Derzeit werden in Deutschland pro Person im Schnitt fünf Paar Schuhe pro Jahr gekauft. Trotz zunehmender Nachfrage ging die heimische Produktion jedoch seit den 1960er Jahren stetig zurück. Produktionsverlagerungen der deutschen Schuhindustrie führten von den 1970ern bis in die 2000er zu einem Strukturwandel mit vielen Betriebsschließungen und massivem Stellenabbau. Deutschland hat sich somit von einem Produktionszentrum für Schuhe in ein typisches Schuhimportland verwandelt. So produzierte Deutschland im Jahr 2016 nur noch 37 Millionen Paar Schuhe, exportierte allerdings 253 und importierte insgesamt 645 Millionen Paar Schuhe. Und davon kamen die meisten Schuhe aus China, gefolgt von Indien. Insbesondere bei Lederschuhen sind deutsche Schuhunternehmen wichtige Handelspartner für Indien. So machten im Jahr 2016 die indischen Schuh- und Lederexporte nach Deutschland elf Prozent des Handels aus. Viele bekannte deutsche Unternehmen lassen in Indien produzieren, so z.B. Deichmann, Gabor, Görtz, Reno, Wortmann, Lloyds, Adidas und Puma.
 
Es ist unglaublich, wieviel und unter welchen Umständen hier noch per Handarbeit gefertigt wird. ©NaZemiDoch unter welchen Bedingungen werden Schuhe in Indien produziert? Um dies herauszufinden, führte SÜDWIND in den vergangenen Jahren gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen Recherchen durch.
 
Arbeitsbedingungen in Indien
232 Interviews mit ArbeiterInnen in den bedeutendsten Produktionszentren Indiens – Agra in Uttar Pradesh und Ambur in Tamil Nadu – geben Einsicht in die dort herrschenden Zustände.
  • Arbeitsverträge und Sozialversicherung
    Viele befragte ArbeiterInnen haben weder Einstellungsschreiben noch Arbeitsvertrag erhalten. Stattdessen sind mündliche Vereinbarungen die Regel. Zudem berichteten die ArbeiterInnen vom systematischen Ausschluss von Sozialversicherungsleistungen.

  • Diskriminierung
    Beinahe alle ArbeiterInnen gehören den niedrigen Kasten oder anderen sozial marginalisierten Gruppen an. Das 1949 offiziell abgeschaffte, auf Ausgrenzung und Unterdrückung basierende Kastensystem ist in der Schuh- und Lederindustrie nach wie vor präsent. Frauen werden für gleiche Arbeit schlechter bezahlt als Männer und haben keinen Zugang zu internen Beschwerdemechanismen.

  • Löhne und Arbeitszeit
    Die Löhne im Schuh- und Ledersektor sind niedrig und orientieren sich in der Regel am gesetzlichen Mindestlohn, der je nach Bundesstaat umgerechnet zwischen 50 und 100 Euro im Monat und somit weit unter dem existenzsichernden Lohn liegt. Entsprechend den Berechnungen der Asia Floor Wage Alliance müsste ein Arbeiter/eine Arbeiterin in Indien umgerechnet 294 Euro im Monat verdienen. Alle Einkommen der Befragten (zwischen 20 und 161 Euro) liegen weit darunter. Dennoch verdienen die meisten Befragten am Ende des Monats zumindest mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Das liegt allerdings an erheblich längeren Arbeitszeiten als gesetzlich vorgesehen. So arbeiten viele nach dem Stücklohnsystem, wo das Einkommen von der täglich produzierten Menge abhängt. Dadurch arbeiten manche bis zu zwölf Stunden am Tag. Im Stücklohnsystem werden Überstunden nicht entsprechend vergütet und Urlaubsansprüche oder Krankschreibungen meist nicht berücksichtigt.

  • Gewerkschaften
    Gewerkschaftliche Arbeit und Stärkung der Rechte von ArbeiterInnen sind nur schwach ausgeprägt. So verfügte keine der untersuchten Fabriken in Agra über eine Gewerkschaft. Im traditionell gewerkschaftlich besser organisierten Ambur sind die Gewerkschaften auf dem Rückzug. Die Liberalisierung des Sektors geht einher mit einer schrittweisen Aufweichung der ArbeiterInnenrechte, einem Rückgang von Gewerkschaftsaktivitäten und fehlenden Beschäftigungsalternativen.

  • Gesundheit und Sicherheit
    In den Fabriken gibt es häufig keine Erste-Hilfe-Ausrüstung. ArbeiterInnen bekommen oft keine adäquate Sicherheitsbekleidung, und viele werden nicht über Gefahren am Arbeitsplatz und Rettungsmaßnahmen aufgeklärt. Verbrennungen und Schnitte sind häufige Verletzungen. Behandlungskosten müssen meist selbst getragen werden. ArbeiterInnen in Gerbereien sind einer Reihe von weiteren Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt, die eng mit Umweltauswirkungen insbesondere der Chromgerbung zusammenhängen. Beim Gerben kann sich aus dem Gerbstoff Chrom (III) das gesundheitsgefährdende und krebserregende Chrom (VI) bilden. Diesem sind die ArbeiterInnen in den Gerbereien oft schutzlos ausgeliefert.
Umweltauswirkungen der Schuhproduktion
Anhand von Boden- und Wasserproben konnte SÜDWIND die unsachgemäße Entsorgung eines Abfallproduktes der Chromgerbung nachweisen. Dieses verseucht Gewässer in einem weiten Radius um ungesicherte Müllhalden. Gefährliches Chrom (VI) sickert dabei in den Boden und vergiftet die Umwelt. Hinzu kommt die Kontaminierung von Ackerböden durch Bewässerung mit chromverseuchtem Wasser. Dies gefährdet die Lebensgrundlage der Landbevölkerung, indem es Felder unfruchtbar macht.

Allerorts gaben die Befragten an, dass sich die Grundwasserqualität in ihren Regionen deutlich verschlechtert habe. Die unsachgemäße Entsorgung von Abfällen und die unzureichende Klärung von Abwässern schädigt somit Böden, Pflanzen und Wasserreserven. Dabei sind indische Umweltschutzgesetze für die Lederindustrie ähnlich streng wie ihre internationalen Pendants. Doch es herrscht eine Diskrepanz zwischen den Gesetzen und der tatsächlichen Praxis der Gerbereien, die sich meist nicht an bestehendes Recht halten. Behörden und Regierung setzen das Recht nicht durch und einkaufende Firmen nehmen dies billigend in Kauf.
 
Gütezeichen und Zertifizierungssysteme
Müllberge gehören in den Hochburgen der indischen Schuhindustrie zum alltäglichen Straßenbild. © GMB AkashEs gibt zahlreiche Siegel und Zertifizierungen, die die Bedingungen in der Schuh- und Lederindustrie kontrollieren. Alle haben unterschiedliche Schwerpunkte und einige schenken sozialen Kriterien gar keine oder zu wenig Beachtung. Für den deutschen Schuhmarkt sind derzeit folgende Siegel relevant: das EU-Umweltzeichen, das Österreichische Umweltzeichen UZ 65, der Blaue Engel für Schuhe und Leder, IVN Naturleder, ECARF und SG – Schadstoffgeprüft. Positiv hervorzuheben sind IVN Naturleder und das Österreichische Umweltzeichen UZ 65.

IVN befasst sich mit Umwelt-, Sozial- und Arbeitsstandards und hat umfassende Richtlinien für die ökologisch und gesellschaftlich verantwortungsvolle Herstellung von Leder. Das österreichische UZ 65 schließt neben der Chromgerbung auch andere mineralische Gerbstoffe aus. Arbeitsrecht und -bedingungen werden umfassend miteinbezogen. Damit verfolgt UZ 65 einen vorbildlichen holistischen Ansatz. Die Kriterien des Blauen Engels befinden sich derzeit in Revision. Wünschenswert wäre die Orientierung an den sozialen Kriterien des UZ 65. In den letzten Jahren sind zahlreiche Multi-Stakeholder-Initiativen (MSI) entstanden. Einige MSI bestehen aus Unternehmen und Nichtregierungs-Organisationen (NRO), andere binden auch Regierungsakteure mit ein, während wieder andere eine Struktur aus Unternehmen, NRO und Gewerkschaften bevorzugen. Diese bringen die besten Erfolgsaussichten zugunsten der Menschenrechte bei der Arbeit mit sich. Ein Beispiel hierfür ist die Fair Wear Foundation (FWF), die leider im Schuh- und Ledersektor noch wenig Beachtung gefunden hat. Wünschenswert wäre, wenn sich Sektorinitiativen wie zum Beispiel CADS – eine Organisation der deutschen Schuhindustrie, der 80 Betriebe angehören, darunter Produzenten wie die Ara AG und Händler wie Reno oder Deichmann – ein Beispiel an MSI nehmen, weitere Interessengruppen wie NRO und Gewerkschaften einbinden und soziale Aspekte berücksichtigen würden.

Die wenigen Siegel, die ernsthaft soziale Kriterien berücksichtigen, finden bislang kaum Anwendung. Verantwortungsvolle VerbraucherInnen müssen deshalb noch den umständlichen Weg der Eigenrecherche gehen und gezielt beim Händler nachfragen. So können sie durch ihr Kaufverhalten dazu beitragen, dass Unternehmen Praktiken ändern und Menschenrechte bei der Arbeit einbeziehen.
 
Forderungen von SÜDWIND
Die Öffentlichkeit soll über die Gefahren und Verwendung von chromgegerbtem Leder informiert werden. Unternehmen müssen sicherstellen, dass beim Gerben weitreichender Gesundheits- und Umweltschutz gewährleistet ist, und Verantwortung für Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken übernehmen. Dazu sollten Unternehmen einer dreigliedrigen MSI beitreten, die konkrete Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in der Lederindustrie voranbringen, und bereit sein, für höhere soziale und ökologische Standards zu zahlen.

Die indische Regierung muss Maßnahmen ergreifen, um die Menschenrechte bei der Arbeit zu schützen. Ein erster Schritt ist die Festsetzung des Mindestlohns auf mindestens 60 Prozent des regionalen Durchschnittslohnes, darüber hinaus sollte das Land die relevanten Arbeitsnormen der International Labour Organisation (ILO) ratifizieren. Politische EntscheidungsträgerInnen in Deutschland und in der EU sollten rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, um menschenrechtsverletzende Unternehmenspraktiken und Vergehen gegen das Unternehmensstrafrecht zu ahnden. Darüber hinaus sollten sie die Initiative bei der Schaffung von MSI für die Schuh- und Lederproduktion ergreifen.
 
Fazit: Nur wenn sich alle Interessengruppen aktiv einsetzen, können die Arbeits- und Umweltbedingungen in der Schuh- und Lederindustrie wirksam verbessert werden. Es muss sichergestellt werden, dass die Profite der Industrie nicht auf Kosten derer gemacht werden, die am unteren Ende der Wertschöpfungskette stehen.
Indien – der Lederschuhgigant
 
Indien ist das Land mit der zweitgrößten Schuhproduktion weltweit. 2016 wurden 2,26 Milliarden Schuhpaare und damit 9,6 Prozent der Weltproduktion in Indien hergestellt. Mehr als eine Million Menschen sind in der Schuh- und über 2,5 Millionen in der gesamten Lederindustrie beschäftigt. 2016 produzierte Indien ca. 119 Millionen Paar Lederschuhe. Der indischen Schuhindustrie fällt es jedoch schwer, ihre Schuhe teuer zu exportieren. So liegt der durchschnittliche Exportwert indischer Lederschuhe mit 15,81 US-Dollar deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt (25,16 US-Dollar). Hauptimportländer für Leder und Lederwaren sind Deutschland, USA, Großbritannien, Italien und Hongkong. In Indien gibt es viele Produktionszentren für Schuhe und Leder, die sich über das gesamte Land verteilen. Die wichtigsten Zentren befinden sich im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu – in der Region um Chennai (Madras), in Chromepet-Pallavaran, im Velloré-Bezirk, in der Stadt Erode – sowie in Agra im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh.
Anton Pieper war nach dem Studium der Politikwissenschaften und seinem Abschluss als Diplom-Politologe seit dem Jahr 2010 in verschiedenen Funktionen bei den Menschenrechtsorganisationen Fian Deutschland und Fian International tätig. Seit 2015 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei SÜDWIND.

Quelle: SÜDWIND e.V. - Institut für Ökonomie und Ökumene

Lifestyle | Mode & Kosmetik, 25.04.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2018 - Digital in die Zukunft? Tierische Geschäfte! erschienen.
     
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