Frankreich geht auf die Überholspur
Kommentar von Ministerin Eveline Lemke
Eine deutsch-französische Energiewende kann Motor einer neuen europäischen
Energiepolitik werden.
Die französische Nationalversammlung hat im Juli 2015 das Gesetz über die
nationale Energiewende beschlossen. Dieses sieht vor, den Anteil der Atomenergie
am Strommix auf 50 Prozent zu senken. Derzeit erzeugen 58 Reaktoren in 19
Kraftwerken drei Viertel des französischen Stroms. Vor dem Hintergrund des
großen Einflusses der französischen Atomlobby ist das ein ausgesprochen
überfälliges, aber jetzt ehrgeiziges Ziel. Wie schwierig es ist, den Einfluss
des nuklearindustriellen Komplexes in Frankreich zu brechen, zeigte sich wieder
kürzlich beim Scheitern der ursprünglich für 2017 zugesagten Stilllegung des
ältesten französischen Atomreaktors im elsässischen Fessenheim. Leider enthält
das französische Energiewende-Gesetz bislang keinen Fahrplan, wann und wie die
58 AKW vom Netz gehen sollen.
So unterschiedlich die Ausgangslage, so ähnlich sind sich die deutsche und
französische Energiewende in ihren Zielsetzungen: Energieverbrauch reduzieren,
erneuerbare Energie stärken. Frankreich plant, bis 2050 knapp ein Drittel des
Energiebedarfs aus Wind, Sonne und anderen erneuerbaren Quellen zu decken, in
Deutschland sollen es dann 80 Prozent sein.
Im französischen Gesetz sind sinnvolle Maßnahmen enthalten, etwa ein Zuschuss
von bis zu 8.000 Euro bei energiesparenden Umbauten oder eine Prämie von bis zu
10.000 Euro für den Kauf eines Elektroautos, verbunden mit dem Bau von bis zu 7
Mio. Elektro-Ladestationen. Zudem sollen Genehmigungen für Windkraftanlagen
erleichtert werden, die derzeit noch sieben bis acht Jahre auf sich warten
lassen können. Auch die Rolle von Stadtwerken und Bürgerenergie soll gestärkt
werden. Die französische Energiewende wird dezentraler – und das in einem Land,
in dem die meisten wichtigen politischen Entscheidungen noch immer zentral in
Paris gefällt werden.
Wir haben als Nachbar Frankreichs vielfältige Berührungspunkte und Erfahrungen
in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. So fand im Frühjahr 2014 unter der
Präsidentschaft von Rheinland-Pfalz ein Energiegipfel der Großregion in Trier
statt, an dem neben den Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und dem Saarland
auch französische, luxemburgische und belgische Regierungsvertreter teilnahmen.
Es wurde vereinbart, bei strategisch wichtigen Fragestellungen enger
zusammenzuarbeiten. Die Klima- und Energiepolitiken auf der Ebene der Großregion
sollen in eine gemeinsame Strategie münden und besonders die
Forschungsanstrengungen an Universitäten und in Unternehmen noch stärker in den
Prozess der Energiewende eingebunden werden. Die intensivere
grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der Energieversorgung soll dazu
beitragen, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt im
Kooperationsraum zu stärken.
In der energiepolitischen Zusammenarbeit mit Frankreich konnte bislang nicht in
allen Bereichen ein Konsens gefunden werden. Vor allem die starke Ausrichtung
Frankreichs auf die Atomenergie hat die rheinland-pfälzisch-französischen
Beziehungen in der Vergangenheit regelmäßig beschäftigt, die Abschaltung des AKW
Cattenom ist ein konkretes Beispiel. Immerhin konnte bereits die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich des Katastrophenschutzes
verstärkt werden. Hierzu gehören die Beteiligung eines gemeinsamen Beobachters
beim Stresstest im Atomkraftwerk Cattenom und die Öffnung der lokalen
Informationskommission für die angrenzenden Länder.
Der geplante Bau eines Endlagers für radioaktive Abfälle nahe des französischen
Orts Bure wird von der rheinland-pfälzischen Landesregierung ebenfalls mit
großer Aufmerksamkeit verfolgt. Unser Landtag hat bereits 2012 beschlossen, dass
die Landesregierung alle Möglichkeiten ausschöpft, um das Endlager zu
verhindern.
Gemeinsam denken und handeln
Der Erfolg der Energiewende hängt davon ab, dass sie europäisch gedacht und
verankert wird. Hier kann die deutsch-französische Zusammenarbeit als Motor der
europäischen Integration eine treibende Kraft sein. Aufgrund der politischen
Bedeutung beider Länder innerhalb der EU und ihres Gewichts auf dem europäischen
Markt, kann die deutsch-französische Zusammenarbeit entscheidenden Einfluss auf
die Verbreitung und den wirtschaftlichen Erfolg neuer Technologien und
industrieller Verfahren ausüben.
Das große Potential der Umwelttechnologien, wo es bereits zahlreiche deutsche
Weltmarktführer gibt, ist hier ein gutes Beispiel. Die europäische Industrie
kann weltweit einen Spitzenplatz einnehmen, wenn Deutschland und Frankreich
gemeinsame ehrgeizige Ziele zur Förderung der Energieeffizienz verankern. Hier
können wir von Frankreich lernen, das über die Energieeffizienz hinausgehend den
Gedanken der Suffizienz zum Leitbild seiner Energiewende gemacht hat. Dort wird
nicht nur die Frage gestellt, wie der Energie-Output reduziert, sondern auch wie
bereits der Energiebedarf einzelner Dienstleistungen und Güter reduziert werden
kann.
Die Europäische Union lebt von der Initiative ihrer Vorreiter. So war es beim
deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz, und so kann es auch in anderen Bereichen
sein. Derzeit schaffen wir in Europa einen gemeinsamen Energiebinnenmarkt. Im
Vorfeld des UN-Klimagipfels in Paris geht es um ehrgeizige Ziele zur Reduzierung
der Treibhausgasemissionen. Um auch zukünftig globaler Treiber beim Klimaschutz
und beim Umbau unserer Energieversorgungssysteme zu sein, brauchen wir eine
Aufbruchsstimmung in Europa. Ein deutsch-französisches Tandem, das
energiepolitisch in dieselbe Richtung marschiert, wird in Europa eine energie-
und klimapolitische Orientierung vorgeben. Ein Anfang wurde bereits 2006 mit der
Gründung des deutsch-französischen Büros für Erneuerbare Energien gemacht.
Hieran gilt es nun anzuknüpfen.
Die französische Regierung hat mit dem aktuellen Gesetz zur Energiewende ein
neues Kapitel aufgeschlagen. Wir können Frankreich mit unseren Erfahrungen
helfen und die Idee vermitteln, dass eine erfolgreiche Energiewende nur
dezentral funktionieren kann und von den Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen
getragen werden muss. Gemeinsam schaffen wir ein Aufbruchssignal für Europa, für
eine europäische Energiewende in einem echten Energie-Binnenmarkt. Nutzen wir
diese gemeinsame Chance, vive la chance!
Eveline Lemke
ist Tochter des Sozialdemokraten Dietrich Lemke und seit Mai 2011
Staatsministerin für Wirtschaft, Klimaschutz, Energie und Landesplanung und
Stellv. Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz. Sie ist die erste grüne
Wirtschaftsministerin der Bundesrepublik in einem Flächenland.
Technik | Energie, 01.10.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2015 - Ertrinken wir in Plastik? erschienen.
Pioniere der Hoffnung
forum 01/2025 ist erschienen
- Bodendegradation
- ESG-Ratings
- Nachhaltige Awards
- Next-Gen Materialien
Kaufen...
Abonnieren...
06
DEZ
2024
DEZ
2024
10
DEZ
2024
DEZ
2024
17
JAN
2025
JAN
2025
Systemische Aufstellungen von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien
Constellations machen Dynamiken sichtbar - Ticketrabatt für forum-Leser*innen!
online
Constellations machen Dynamiken sichtbar - Ticketrabatt für forum-Leser*innen!
online
Professionelle Klimabilanz, einfach selbst gemacht
Einfache Klimabilanzierung und glaubhafte Nachhaltigkeitskommunikation gemäß GHG-Protocol
Megatrends
Deutsche (Männer) lesen immer wenigerChristoph Quarch wünscht sich eine Kampagne von Buchhandel und Politik, um Leser zurückzugewinnen
Jetzt auf forum:
Mehr als eine schnelle Antwort auf aktuelle Trends
Die Geheimnisse der Papierindustrie
Wir brauchen einen DNP „reloaded“!
Eine Vision soll Wirklichkeit werden
Wenn Würdigungen entwürdigt werden
Jugendliche entwickeln Ideen für eine gerechtere Welt
TARGOBANK Stiftung unterstützt sieben Biodiversitäts-Projekte mit über 142.000 Euro