Er wollte eine atomwaffenfreie Welt
Der aktuelle Kommentar von Franz Alt zum ersten Todestag von Michail Gorbatschow
Vor einem Jahr, am 30. August 2022, starb Michail Gorbatschow. Deutschland hat ihm seine friedliche Wiedervereinigung zu verdanken und die Welt die größte und wichtigste militärische Abrüstung aller Zeiten. Aber kein einziger Vertreter der deutschen Bundesregierung nahm an seiner Beerdigung teil. Das ist eine immerwährende Schande der deutschen Politik.
Draußen schneit es die ersten Flocken. Das frostige Moskauer Wetter passte schon damals gut zum politischen Klima zwischen Russland und dem Westen. Doch Gorbatschow spricht auch jetzt unerschütterlich von "möglicher Versöhnung" und erinnert daran, dass auch vor 30 Jahren mitten im Kalten Krieg Abrüstung und Versöhnung möglich wurden. Noch immer träumt er von einer atomwaffenfreien Welt. Auch Präsident Putin, so Gorbatschow, habe am Vorabend im russischen Fernsehen von "Versöhnung mit dem Westen" gesprochen. Ich frage ihn jetzt, ob er enttäuscht sei über das heutige Russland und ob sein Lebenswerk "Glasnost" (Öffnung) und "Perestroika" (Wandel) heute zerstört sei. "Enttäuscht bin ich nicht, aber ernsthaft besorgt über die Lage in Russland und in ganz Europa", sagt er. Auf meine Nachfrage, ob er glücklich sei, meint er ausweichend: "Es gibt keine glücklichen Reformer. Nur ganz wenige haben die Früchte ihrer Reformen selbst ernten können. Aber ich hatte historisch die Chance, einen realen Wandel zum Besseren in meinem Land und zu einem positiven Wandel in der ganzen Welt beizusteuern. Dafür bin ich dankbar."
In seiner Stiftung sehe ich viele Bilder von seiner Frau, weit mehr als von US-Präsident Bush, Helmut Kohl oder von den damaligen sowjetischen Spitzenpolitikern. Wer Gorbatschow oft getroffen hat, weiß um sein inniges Verhältnis zu Raissa und um die innige Liebe dieses Paares. 20 Jahre zuvor hatte ich ihn bei einem ARD-Interview gefragt woher er die Kraft nehme für seine umstrittenen Reformen. Lachend deutet er auf seine Frau, die hinter der Kamera stand. Sie lächelte zurück. Dieses Ehepaar war das politische Liebespaar des 20. Jahrhunderts. Michail lernte von Raissa, dass Vertrauen der Goldstandard aller Beziehungen ist, der privaten wie der internationalen Beziehungen.
In der Politik heißt das: Die Dinge auch vom Standpunkt des Anderen zu sehen und zu verstehen. Nur so, sagte mir Gorbatschow bis zu seinem Tod vor einem Jahr, findet man zu Gemeinsamkeiten. Und nur mit diesem Urvertrauen konnte er eine Politik der einseitigen Vorleistungen riskieren. Schon 1996 hatte er mir in einem Fernsehinterview der ARD gesagt: "Nur mit Hilfe der westlichen Friedensbewegung konnte ich meine Abrüstungs-Politik gegen die Hardliner im Kreml durchsetzen."
"Sie haben damals den militärischen Warschauer Pakt aufgelöst. Sollte der Westen wenigstens jetzt die NATO auflösen? Wäre das ein Beitrag zum Frieden und zur Entspannung?" wollte ich von ihm wissen. "Dafür ist es zu spät", entgegnet Gorbatschow resigniert.
In der Innenpolitik kritisiert er seinen heutigen Nachfolger Putin heftig. Zu Putins Außenpolitik meint er: "Beide Seiten müssen abrüsten. Zu Putin muss man Vertrauen aufbauen. Auch er hat einen guten Kern. Wir brauchen Geduld," sagt Gorbatschow und fügt hinzu: "An Frieden denken heißt an unsere Kinder denken. Das ist das Wichtigste."
Tief besorgt äußerte sich der Expräsident über die politische und militärische Eskalation zwischen Ost und West: "Solange es noch Atombomben gibt, besteht die Gefahr eines Atomkriegs - wirklich. Ein solcher Krieg wäre der letzte in der Menschheitsgeschichte, denn danach gäbe es gar niemand mehr, der noch einen Krieg führen könnte. Ein neues atomares Wettrüsten wäre Wahnsinn und widerspricht der Lebens-Intelligenz von uns Menschen."
Gorbatschow praktizierte als erster Weltpolitiker im 20. Jahrhundert eine Politik mit Herz und Verstand. Der Friedensnobelpreisträger gehörte zur Avantgarde des Guten, auch weil er um das Böse in uns Menschen wusste. Sein Verdienst ist es, dass vor 35 Jahren aus dem "atomaren Gleichgewicht des Schreckens" ein Gleichgewicht der Vernunft wurde - zumindest vorübergehend. Wir können und müssen von ihm lernen. Noch immer können wir seine große Vision realisieren und das "gemeinsame Haus Europa" bauen. Heute brauchen wir eine globale Glasnost und eine globale Perestroika. Und keine Atombomben.
2019 traf ich Gorbatschow zum letzten Mal in Moskau. Dabei warnte er wieder vor der Gefahr eines Atomkriegs. Die Weltuntergangsuhr der US-Atomphysiker zeigte schon damals auf "Zwei Minuten vor 12." Heute zeigt sie auf "90 Sekunden vor 12." Gorbatschows Warnungen hat die Welt in den Wind geschlagen und verdrängt.
Die unerschütterliche Hoffnung auf Versöhnung
Ende Oktober 2016 hatte ich den Ex-Präsidenten und Friedensnobelpreisträger , der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Welt wie niemand sonst verändert und bewegt hat, in seiner Stiftung in Moskau getroffen. Wir schrieben zusammen das Buch "Nie wieder Krieg - Kommt endlich zur Vernunft". Ihm ist das Ende des Kalten Krieges zu verdanken, die atomare Abrüstung, die uns vor einem Atomkrieg rettete und schließlich die deutsche Wiedervereinigung. Draußen schneit es die ersten Flocken. Das frostige Moskauer Wetter passte schon damals gut zum politischen Klima zwischen Russland und dem Westen. Doch Gorbatschow spricht auch jetzt unerschütterlich von "möglicher Versöhnung" und erinnert daran, dass auch vor 30 Jahren mitten im Kalten Krieg Abrüstung und Versöhnung möglich wurden. Noch immer träumt er von einer atomwaffenfreien Welt. Auch Präsident Putin, so Gorbatschow, habe am Vorabend im russischen Fernsehen von "Versöhnung mit dem Westen" gesprochen. Ich frage ihn jetzt, ob er enttäuscht sei über das heutige Russland und ob sein Lebenswerk "Glasnost" (Öffnung) und "Perestroika" (Wandel) heute zerstört sei. "Enttäuscht bin ich nicht, aber ernsthaft besorgt über die Lage in Russland und in ganz Europa", sagt er. Auf meine Nachfrage, ob er glücklich sei, meint er ausweichend: "Es gibt keine glücklichen Reformer. Nur ganz wenige haben die Früchte ihrer Reformen selbst ernten können. Aber ich hatte historisch die Chance, einen realen Wandel zum Besseren in meinem Land und zu einem positiven Wandel in der ganzen Welt beizusteuern. Dafür bin ich dankbar."
"Mein Werk ist nicht tot"
Das ist die pure Bescheidenheit, wenn man als deutscher Journalist daran denkt, dass wir Michail Gorbatschow die friedliche Wiedervereinigung verdanken. "In Russland," meint er, "kam die Perestroika zwar zum Stillstand, aber Millionen Russen und viele Menschen darüber hinaus können die Früchte meiner Reformen noch heute genießen. Mein Werk ist nicht tot."
In seiner Stiftung sehe ich viele Bilder von seiner Frau, weit mehr als von US-Präsident Bush, Helmut Kohl oder von den damaligen sowjetischen Spitzenpolitikern. Wer Gorbatschow oft getroffen hat, weiß um sein inniges Verhältnis zu Raissa und um die innige Liebe dieses Paares. 20 Jahre zuvor hatte ich ihn bei einem ARD-Interview gefragt woher er die Kraft nehme für seine umstrittenen Reformen. Lachend deutet er auf seine Frau, die hinter der Kamera stand. Sie lächelte zurück. Dieses Ehepaar war das politische Liebespaar des 20. Jahrhunderts. Michail lernte von Raissa, dass Vertrauen der Goldstandard aller Beziehungen ist, der privaten wie der internationalen Beziehungen.
In der Politik heißt das: Die Dinge auch vom Standpunkt des Anderen zu sehen und zu verstehen. Nur so, sagte mir Gorbatschow bis zu seinem Tod vor einem Jahr, findet man zu Gemeinsamkeiten. Und nur mit diesem Urvertrauen konnte er eine Politik der einseitigen Vorleistungen riskieren. Schon 1996 hatte er mir in einem Fernsehinterview der ARD gesagt: "Nur mit Hilfe der westlichen Friedensbewegung konnte ich meine Abrüstungs-Politik gegen die Hardliner im Kreml durchsetzen."
Die Fehler von Ost und West
Der Hauptfehler des Westens war, sagte Gorbi noch kurz vor seinem Tod, dass er sich nach 1991 als Sieger gegenüber Russland aufspielte und bis heute ständig provoziert. Auch militärisch. Mit Säbelgerasseln schafft man keinen Frieden. Viele Absprachen wurden vom Westen nicht eingehalten."
"Sie haben damals den militärischen Warschauer Pakt aufgelöst. Sollte der Westen wenigstens jetzt die NATO auflösen? Wäre das ein Beitrag zum Frieden und zur Entspannung?" wollte ich von ihm wissen. "Dafür ist es zu spät", entgegnet Gorbatschow resigniert.
In der Innenpolitik kritisiert er seinen heutigen Nachfolger Putin heftig. Zu Putins Außenpolitik meint er: "Beide Seiten müssen abrüsten. Zu Putin muss man Vertrauen aufbauen. Auch er hat einen guten Kern. Wir brauchen Geduld," sagt Gorbatschow und fügt hinzu: "An Frieden denken heißt an unsere Kinder denken. Das ist das Wichtigste."
Tief besorgt äußerte sich der Expräsident über die politische und militärische Eskalation zwischen Ost und West: "Solange es noch Atombomben gibt, besteht die Gefahr eines Atomkriegs - wirklich. Ein solcher Krieg wäre der letzte in der Menschheitsgeschichte, denn danach gäbe es gar niemand mehr, der noch einen Krieg führen könnte. Ein neues atomares Wettrüsten wäre Wahnsinn und widerspricht der Lebens-Intelligenz von uns Menschen."
Noch immer können wir es schaffen
Ich bin überzeugt, dass gerade heute diese Stimme der Vernunft und Versöhnung mindestens so wichtig ist wie im letzten Jahrhundert, als die Welt am Rand des atomaren Abgrunds stand.
Gorbatschow praktizierte als erster Weltpolitiker im 20. Jahrhundert eine Politik mit Herz und Verstand. Der Friedensnobelpreisträger gehörte zur Avantgarde des Guten, auch weil er um das Böse in uns Menschen wusste. Sein Verdienst ist es, dass vor 35 Jahren aus dem "atomaren Gleichgewicht des Schreckens" ein Gleichgewicht der Vernunft wurde - zumindest vorübergehend. Wir können und müssen von ihm lernen. Noch immer können wir seine große Vision realisieren und das "gemeinsame Haus Europa" bauen. Heute brauchen wir eine globale Glasnost und eine globale Perestroika. Und keine Atombomben.
Sein Vermächtnis - in unserem gemeinsamen Buch festgehalten: "Wir sind eine Menschheit auf einer Erde unter einer Sonne." "Gibt es für Sie so etwas wie ein Überlebensprogramm für die Menschheit?" fragte ich Gorbi kurz vor seinem Tod. "Ja, die Bergpredigt Jesu," meinte der frühere Kommunistenchef
Franz Alt ist Journalist und Bestseller-Autor. Zusammen mit Michail Gorbatschow veröffentlichte er das Buch „Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft"
. Zusammen mit dem Dalai Lama schrieb er: „Ethik ist wichtiger als
Religion" und „Schützt unser Klima". Im Buch „Jesus – Liebe und Frieden
sind möglich" führt er ein fiktives Interview mit Jesus über die
Bergpredigt. Alle Bücher im Benevento-Verlag. Sein neues Buch ist im
Herder-Verlag soeben erschienen: „Frieden ist noch immer möglich – Die Kraft der Bergpredigt".
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