Der große Wandel
Über Christian Stöckers Buch „Das Experiment sind wir“
Um den großen Wandel der Welt sinnvoll gestalten zu können, meint forum Autorin Tamara Dietl, müssen wir ihn erst einmal richtig verstehen. Dabei hat ihr in diesem Herbst ein neues Buch geholfen: „Das Experiment sind wir" von Christian Stöcker.
Unsere Welt verändert sich seit einigen Jahrzehnten atemberaubend schnell und fundamental. Wirklich begriffen habe ich das, als ich 2013 anfing, für den Wirtschaftswissenschaftler und Management-Vordenker Prof. Fredmund Malik zu arbeiten. „Die Transformation von der alten in die neue Welt", erklärte er mir, „verändert grundsätzlich alles, was wir Menschen tun, wie wir es tun, warum wir es tun und am Ende wird sich auch verändern, wer wir sind!" Malik bezeichnet diese Entwicklung als „Die Große Transformation 21". Ihre Treiber sind vor allem die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Biotechnologie, aber auch die Globalisierung und nicht zuletzt der Klimawandel und das Artensterben.
Evolution auf der Überholspur
Massive Umbrüche, die durch neue Technologien getrieben werden, sind in der Geschichte der Menschheit natürlich nichts Neues; sie sind Teil der Evolution. Das besondere Kennzeichen der heutigen Veränderung ist jedoch neu: ihr Tempo! Frühere Transformationen vollzogen sich vergleichsweise langsamer und über mehrere Generationen, was eine allmähliche Anpassung an die Veränderung möglich machte. Die jetzige Transformation jedoch vollzieht sich in schwindelerregender Höchstgeschwindigkeit in nur einer Generation – und zwar in meiner.
Durch Zufall stieß ich damals auch auf das sogenannte „International Geosphere-Biosphere Programme", ein globales, interdisziplinäres Forschungsprogramm, das die technologische, ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Erde untersuchte. Tausende internationaler Wissenschaftler hatten fast 30 Jahre lang den Wandel der Welt erforscht. Am Ende ihrer Arbeit, im Jahr 2015, gaben sie dem Ergebnis der Studie den Titel „Die Große Beschleunigung".
Seither steht dieser rasante und historisch einmalige Umbruch der Welt im Zentrum meiner Neugier, seitdem will ich ihn nicht nur erleben. Ich will ihn vor allem auch verstehen, damit ich ihm nicht nur ausgeliefert bin. Damit ich ihn mitgestalten kann! Doch es ist gar nicht so einfach, eine Entwicklung, in der man mittendrin steckt, im selben Moment auch aus der Distanz – gewissermaßen von einer Meta-Ebene aus – zu betrachten und zu verstehen. Vor allem dann, wenn es sich um eine Entwicklung handelt, die in Komplexität und Geschwindigkeit exponentiell zunimmt. Bei so einer Entwicklung den buchstäblichen Über-Blick zu behalten, geht nur, wenn man unaufhörlich dazulernt. Deshalb hat sich bei mir im Laufe der letzten Jahre eine stattliche Bibliothek angesammelt, mit all den Büchern, die versuchen, diese Entwicklung zu beschreiben und kritisch zu hinterfragen.
Das Experiment sind wir
Da stehen sie nun in meinem Regal, die vielen Autoren, die aus den unterschiedlichsten Perspektiven auf diese komplexe Welt-Entwicklung blicken: aus soziologischer Sicht, aus ökonomischer, aus wissenschaftlicher, politischer, kultureller, ethischer, juristischer, philosophischer, ökologischer und demographischer Sicht; aber auch aus medizinischer, physischer, sozialer, psychologischer, emotionaler und seelischer Perspektive. Im September ist nun noch ein Buch dazugekommen – und das ist das beste von allen. Und zwar deshalb, weil es einem Autor endlich gelingt, diese vielen verschiedenen Perspektiven in den einen, den dringend notwendigen und ganz großen Gesamtzusammenhang zu bringen.
Dieser Autor heißt Christian Stöcker, sein Buch trägt den programmatischen Titel „Das Experiment sind wir" – und es ist ein Meisterwerk! Es ist Stöcker einmalig gut gelungen, zu beschreiben, wie alles mit allem zusammenhängt: Computertechnik, Wirtschaftswachstum, Weltbevölkerung, Klimaerwärmung, Biotechnologie, künstliche Intelligenz. Sein Blick auf das große Ganze ist nicht nur wissenschaftlich exzellent recherchiert, sondern auch ausgesprochen spannend und leicht verständlich geschrieben. Stöcker, der Psychologie in Würzburg und Bristol sowie Kulturkritik an der Bayerischen Theaterakademie München studierte, beschreibt und erklärt aber nicht nur, was da draußen gerade los ist in der Welt – er bietet auch bemerkenswerte Lösungen an.
Kein Weg zurück!
„Ich glaube", erläutert mir Christian Stöcker in unserem Gespräch über sein Buch, „wenn man diese ganzen Themen erstmal richtig verstanden hat, dann gibt es kein Zurück mehr. Dann ändert es den eigenen Blick auf die Welt fundamental und nachhaltig!" Stöcker, seit vier Jahren Kolumnist bei Spiegel Online, sagt, dass seine Arbeit der Ausgangspunkt für das Buch war: „Meine Kolumne trägt ganz bewusst den Titel ‚Der Rationalist‘. Ich habe ein wissenschaftliches Weltbild und bin maßlos neugierig. Man könnte auch sagen, dass ich mit meiner Kolumne evidenzbasierten Journalismus betreibe und einmal in der Woche sehr gründlich über ein Thema zum Zustand und der Entwicklung der Welt nachdenke. Ich wollte all diese Gedanken, die ich in der Kolumne ja nur in wöchentlichen Häppchen veröffentliche, mal an einem ganzen Stück denken und schreiben." Dabei ist kein apokalyptisches Horrorszenarium herausgekommen, auch keine Untergangslust. Vielmehr eine konstruktive Warnung davor, einfach nur so weiterzumachen wie bisher.
„Wenn man die ganzen Themen erstmal richtig verstanden hat, dann gibt es kein Zurück mehr. Dann ändert es den eigenen Blick auf die Welt fundamental und nachhaltig!"
Die große Beschleunigung
Drei der entscheidenden Entwicklungen, die unsere Zukunft im 21. Jahrhundert bestimmen werden – die der wachsenden Weltbevölkerung, die des fortschreitenden Klimawandels und die von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz – haben nach Stöckers Ansicht etwas gemeinsam. Sie sind Phänomene des exponentiellen Wachstums und der sogenannten „Großen Beschleunigung".
Christian Stöcker
Das Experiment sind wir
Unsere Welt verändert sich so atemberaubend schnell, dass wir von Krise zu Krise taumeln. Wir müssen lernen, diese enorme Beschleunigung zu lenken.
2020 |
Seine schlechte Nachricht: Schon immer haben wir Menschen uns schwer damit getan, solche Entwicklungen zu Ende zu denken. Die gute: Wir sind eine lernfähige Spezies. Und so hinterfragt der Kognitionspsychologe Stöcker, ob es uns gelingen kann, die mächtigen technologischen Entwicklungen so einzusetzen, dass sie uns und die Erde retten? Ob wir es schaffen können, uns an den eigenen Haaren aus dem selbstgeschaffenen Sumpf zu ziehen? Nach seiner Ansicht brauchen wir neue Instrumente im Werkzeugkasten unseres Denkens – einen neuen Pakt zwischen Bildung und Fortschritt. „Wir sind das größte Experiment der Menschheitsgeschichte", sagt er und stellt die zentrale Frage: „Können siebeneinhalb Milliarden Menschen mit einer sich exponentiell verändernden Welt umgehen oder nicht?" Für ihn steht im Zentrum seiner Überlegungen, wie wir die Transformation, diese Große Beschleunigung so gestalten können, dass sie die Menschheit nicht nur nicht in den Abgrund führt, sondern allen ein besseres Leben ermöglicht.
Gewidmet hat Christian Stöcker das Buch seinen drei Töchtern. „Diese Widmung", sagt er, „ist nicht einfach nur eine Widmung. Ich habe das Buch für meine Kinder geschrieben, die ja noch lange in der Welt von morgen leben werden. Mit meinem Buch möchte ich meinen Teil dazu beizutragen, dass die Zukunft besser wird." Das ist ihm hervorragend gelungen! Christian Stöckers Buch ist ein beherzter Aufruf, jetzt neues Wissen zu erschließen und die Große Beschleunigung zu lenken.
Von Tamara Dietl
Gesellschaft | Megatrends, 01.12.2020
Dieser Artikel ist in forum 04/2020 - Jetzt reicht's! erschienen.
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