Emanzipationskiller Corona?
Nicht jammern, machen!
Frauen sind angeblich Opfer der Corona-Krise. Aber liegt es wirklich am Virus oder an der eigenen, bequemen Bereitschaft, in alte Rollenbilder zurückzufallen? forum Autorin Tamara Dietl spricht Klartext und wünscht sich mehr Kampfeslust.
Soviel pessimistischer Gleichklang herrschte schon lange nicht mehr unter Deutschlands Frauen. Nahezu flächendeckend zogen sie ein düsteres Fazit der Corona-Pandemie: Gerade einmal zwei Monate Lockdown hätten ausgereicht, um Frauen um Jahrzehnte in traditionelle Rollenbilder zurückzuwerfen. Frauen würden wieder abgedrängt, nach dem Motto: vor allem „home" und wenig „office", während Männer die Krise zur Profilierung nutzten.
Vom „Rollback in die 50er Jahre" sprach die ehemalige sozialdemokratische Familienministerin Renate Schmidt, und die Wissenschaftlerin Jutta Allmendinger, Professorin für Soziologie, machte gleich einen Rückschritt um „mindestens 30 Jahre" aus. „Zurück in der Männerwelt" lautete die Überschrift eines Essays von Julia Jäkel, Vorstandsvorsitzende von Gruner und Jahr, in der ZEIT. „Wir Frauen", schrieb sie deprimiert, „sind so viel weniger weit, als wir dachten."
Wirklich? Das verallgemeinernde „Wir" ist problematisch. Und zwar deshalb, weil es eine unzulässige Vereinnahmung ist. Dem großen Opfer-„Wir", das da öffentlich angestimmt wurde, möchte ich widersprechen. Denn glücklicherweise gibt es das so nicht mehr. Der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen hat nämlich immer zwei Ebenen: die individuelle und die strukturelle.
Als die Corona-Pandemie in Europa ausbrach, wurden die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank ebenso von Frauen geführt wie die Länder Norwegen, Dänemark, Finnland und Deutschland. Im Kabinett unserer Bundeskanzlerin saßen zu diesem Zeitpunkt immerhin sieben Ministerinnen und drei Staatsministerinnen. Als Beraterin für Führungspersönlichkeiten erlebte ich Managerinnen, die an der Corona-Krise wuchsen; die gemeinsam mit ihren Männern im Homeoffice kreative, arbeitsteilige Lösungen fanden. Mit Freude sehe ich, wie täglich immer mehr beeindruckende Frauen mit all ihrer Kompetenz öffentlich sichtbar werden – nicht nur Spezialistinnen für Wissenschaft und Medizin, sondern auch Leiterinnen von Schulen, Pflegerinnen, Unternehmerinnen, Professorinnen und Kassiererinnen – manche eben erst jetzt als „systemrelevant". Natürlich: Es gab auch viel zu viele Frauen, die massiv unter der familiären Mehrbelastung litten (vor allem die Alleinerziehenden), und die vielen, die den Hauptanteil an der so genannten „Care-Arbeit" leisteten, dafür zwar beklatscht, aber beschämend schlecht bezahlt wurden und werden.
„Frauen und Männer sind zwar nicht gleich, aber gleichwertig."
Aber über die Behauptung, dass „wir Frauen" im Jahr 2020 durch die Corona-Krise in Deutschland wieder in den Rollenbildern des Patriarchats angekommen seien, hätten sicher auch meine Mutter und meine Großmütter irritiert den Kopf geschüttelt. Es sind Frauen wie sie, denen ich es verdanke, dass ich selbst eine emanzipierte Frau geworden bin – und in einer Welt leben kann, von der sie nur träumen konnten.
Als ich vor über einem halben Jahrhundert geboren wurde, war gerade die Pille auf den Markt gekommen und die „68er" hatten damit begonnen, die patriarchale Gesellschaft des westdeutschen Wirtschaftswunders aufzurütteln. Den Feminismus habe ich buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Für meine Mutter, eine engagierte Lehrerin, bestand kein Zweifel daran, dass Frauen genauso viel Macht zusteht wie Männern. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, vor allem junge Mädchen auf ihrem Weg in eine gerechtere Zukunft zu fördern. Und auch ihren beiden Töchtern machte sie immer wieder deutlich, dass Frauen und Männer zwar nicht gleich, aber gleichwertig sind. Für sie stand fest, dass uns die Hälfte des Himmels gehört. Dass wir ein Recht auf dieselben Bildungschancen und Berufe haben wie Männer. Dass uns derselbe Lohn für die gleiche Arbeit zusteht, und dass finanzielle Unabhängigkeit die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben ist.
Als ich 1970 in die Schule kam, war das noch keineswegs selbstverständlich. Ich war nicht nur das einzige Scheidungskind in der Klasse, sondern auch eines der wenigen, deren Mutter arbeitete. Bei den allermeisten war die Mutter „natürlich" Hausfrau. Kindergärten gab es wenige, Krippen gar keine. Dafür aber noch jede Menge repressive Gesetze, die eine Gleichberechtigung von Frauen unmöglich machten. Allen voran das Gesetz, dass Frauen einen Beruf nur dann ausüben durften, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar" war.
Soviel ich in Sachen Emanzipation durch die Erziehung meiner Mutter gelernt habe – den entscheidenden Impuls für meine eigene Entwicklung habe ich von meiner Großmutter bekommen. Die Mutter meiner Mutter, Jahrgang 1914, reiste zu meinem Abitur extra aus Amerika an, um mit mir die Hochschulreife gebührend zu feiern. Ihr selbst war als Tochter einer Arbeiterfamilie das Abitur verwehrt geblieben, weil ihre Eltern sich „diesen Luxus" schlicht nicht leisten konnten. Dass sie es dann doch schaffte, in England zu studieren und als Psychologin Karriere zu machen, verdankte sie ihrer eigenen Kraft und Hartnäckigkeit. „Es gibt im Kampf um Gleichberechtigung immer zwei Ebenen", erklärte sie mir, „die individuelle und die strukturelle." Dieser Satz meiner Großmutter hat dafür gesorgt, dass ich nie in die Opferrolle gefallen bin. Dass ich immer differenziert habe zwischen der strukturellen Verantwortung der Gesellschaft und meiner individuellen Verantwortung, für meine Rechte und auch meine Wünsche einzutreten – und, wenn nötig, auch zu kämpfen.
Strukturell passierte viel in den 1980er und 1990er Jahren, als ich mich für meine Karriere als Journalistin entschied und deshalb erstmal gegen Kinder. Die berufliche Entfaltung der Frau wurde durch zahlreiche Gesetze deutlich gefördert, an den Universitäten war inzwischen fast die Hälfte der Absolventen weiblich. Die Bedingungen für Frauen wurden immer besser. Das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass damit auch – strukturell und individuell – männlicher Chauvinismus aus der Arbeitswelt verschwunden war. Individuell bedeutete das für mich: Ich musste mich immer wieder behaupten, wehren, streiten und Konflikte aushalten. Das war alles andere als bequem und wahnsinnig anstrengend. Aber es musste sein, wollte ich meinen Teil der Hälfte des Himmels einfordern.
Das galt dann auch für meine Ehe. Denn ich hatte einen Mann geheiratet, der alles andere war, nur eben kein Feminist. Gleich zu Beginn machte ich ihm also klar, dass für mich nur eine Beziehung auf Augenhöhe infrage kam, und dass wir deshalb unser Zusammenleben „managen" müssten, damit es funktioniert. Das war überhaupt nicht romantisch – aber sehr hilfreich. Unseren Alltag definierten wir über klar verteilte Aufgaben und stritten so lange, bis wir sinnvolle Kompromisse gefunden hatten. Auch das war anstrengend, aber notwendig.
Als unsere Tochter zur Welt kam, machte ich dann eine Erfahrung, mit der ich niemals gerechnet hätte: Ich genoss das Mutterdasein in vollsten Zügen. Und auch das als Hausfrau. Mein Gott, ausgerechnet ich! Ganz individuell! Es kostete mich erstaunlich viel Überwindung, mir einzugestehen, dass ich großes Glück darin fand, mich um meine Familie zu kümmern. Und mit diesem Eingeständnis passierte noch etwas Überraschendes: Die Ambivalenz erhielt Einzug in mein Leben und mit ihr das Ende von Eindeutigkeiten und Gewissheiten. Ich begriff, dass es notwendig ist, sich immer wieder in Frage zu stellen, und dass das, was man mit 20 für die absolute Wahrheit gehalten hatte, mit 40 möglicherweise nicht mehr stimmen muss; dass die Erfahrungen in der Lebenspraxis die Theorien vom Leben überholen können. Am Ende meines inneren Ringens stand die Entscheidung, eine Zeit lang auf meine finanzielle Unabhängigkeit zu verzichten, um mir nach zwanzig Jahren Arbeitsleben eine Auszeit zu nehmen. Die Reaktion meines Mannes empfinde ich bis heute als großes Privileg. Mit den Worten „Mein Geld ist auch dein Geld" organisierte er mir eine EC-Karte für sein Konto, das erst einmal unser gemeinsames Konto wurde.
Als unsere Tochter in den Kindergarten kam, beendete ich meinen Ausflug in die traditionelle Frauenrolle. Während es in der Zwischenzeit strukturell ein ordentliches Stück weitergegangen war und es mittlerweile sogar den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gab, suchte ich selbst nach meiner individuellen Rolle.
Ich fand sie schließlich dort, wo sich in den letzten Jahrzehnten so gut wie gar nichts getan hatte in Sachen Gleichberechtigung – nämlich in den Zentren der Macht. Ich wurde Beraterin für Frauen in Führung und unterstützte meine Geschlechtsgenossinnen unter dem Logo „Frau.Macht.Sinn" auf ihrem beschwerlichen Weg nach ganz oben. Dabei wandelte ich mich von einer überzeugten Gegnerin der Quote zu deren Befürworterin, weil individuelle Spitzen-Qualifikation allein eben doch nicht ausreicht und oft an strukturellen Mechanismen scheitert. Und ich erkannte: Mächtigen Frauen kommt eine Schlüsselrolle im Kampf um die Hälfte des Himmels zu. In dem Moment, in dem Frauen in Führung gehen, übernehmen sie immer auch gesellschaftliche, also strukturelle Verantwortung und sind Vorbild für andere Frauen. Sie werden Teil des Systems, dessen Missstände sie nun nicht mehr nur beklagen können, sondern zu dessen Verbesserung sie beitragen müssen.
„Mächtigen Frauen kommt eine Schlüsselrolle im Kampf um die Hälfte des Himmels zu. In dem Moment, in dem Frauen in Führung gehen, übernehmen sie immer auch gesellschaftliche, also strukturelle Verantwortung und sind Vorbild für andere Frauen."
Das gilt ganz besonders in Krisenzeiten. Denn in einer Krise geht es darum, neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln, nach neuen Ressourcen und innovativen Ideen zu suchen. Wenn man die findet, dann hat man die berühmte Chance, die in jeder Krise steckt: nämlich die positive Weiterentwicklung.
Die Corona-Krise wirft Frauen nicht als Opfer in die Vergangenheit zurück, sondern fordert dazu heraus, für all das zu kämpfen, was in der Gegenwart noch nicht in Ordnung ist – sowohl strukturell als auch individuell. Es mag mühsam sein, in der Arbeitswelt neue Strukturen zu etablieren, die auch Mütter besser partizipieren lassen – aber es lohnt sich. Es mag individuell konfliktreich sein, zu Hause für eine gerechte Aufgabenverteilung zu streiten. Aber auch das muss sein.
Bleibt zum Schluss noch der Ausblick in die Zukunft und damit die Frage an meine 17-jährige Tochter, wie ihre Generation es hält mit der Emanzipation? „Wer hat mit beeindruckender Hartnäckigkeit und viel Mut eine weltweite Protestbewegung ausgelöst und so dafür gesorgt, dass der Klimaschutz und die Rettung unseres Planeten endlich ernst genommen werden?", fragt sie zurück und liefert die Antwort gleich mit: „Eine junge Frau! Sie heißt Greta und ist so alt wie ich."
Tamara Dietl war fast 20 Jahre als Journalistin tätig und arbeitet heute als Businesscoach für Führungskräfte mit dem Schwerpunkt Krisenmanagement sowie Sinn- und Werteentwicklung in Unternehmen. Daneben arbeitet Tamara Dietl als Publizistin – seit Anfang 2020 auch für forum Nachhaltig Wirtschaften. Sie lebt zusammen mit ihrer Tochter aus der Ehe mit dem verstorbenen Filmemacher Helmut Dietl in München.
„Man kann heute kein unpolitischer Mensch mehr sein"
Tamara Dietl ist neue Autorin bei forum Nachhaltig Wirtschaften
Nicht nur ihr Engagement für die Emanzipation hat Tamara Dietl buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Auch ihr allgemeines politisches Bewusstsein wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. Als Tochter des Politikers, Menschenrechtlers und Publizisten Freimut Duve lernte sie von Anfang an, welch zentrale Bedeutung gesellschaftliches Engagement für ein gelingendes Leben hat. Als langjährige Redakteurin bei SPIEGEL TV produzierte sie zahlreiche politisch-historische Dokumentationen, u. a. über die Deutsche Einheit, den Deutschen Herbst und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, sowie biographische Dokumentationen, u. a. über Willy Brandt, Axel Springer und Rudolf Augstein. Als Beraterin widmete sie sich zunächst der Förderung von Frauen in Führungspositionen, bevor sie sich durch die Zusammenarbeit mit dem Management-Vordenker und Systemtheoretiker Professor Fredmund Malik ganz auf das Thema der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung spezialisierte.
Durch die Begegnung mit dem Friedensnobelpreisträger Professor Muhammad Yunus im Frühjahr 2020 erkannte sie, dass die Themen Digitalisierung, Nachhaltigkeit, soziales Engagement und Klimawandel nicht mehr voneinander zu trennen sind (s. auch „Das Experiment sind wir"). Tamara Dietl zögerte nicht lange und unterstützte den „Summer of Purpose" zur Feier von 75 Jahren Human Rights und des 80. Geburtstags von Muhammad Yunus. Hier begegnete sie Fritz Lietsch, und schon nach wenigen Minuten war beiden klar: Tamara Dietl wird in forum Nachhaltig Wirtschaften eine neue publizistische Heimat bekommen. Denn wo könnte eine gelernte Journalistin, Dokumentarfilmerin, erfolgreiche Bestsellerautorin und Managementberaterin eine bessere Veröffentlichungsplattform finden als hier?! „Angesichts der Lage der Welt", sagt Tamara Dietl, „kann man heute kein unpolitischer Mensch mehr sein."
In diesem Sinne freuen wir uns sehr auf die Zusammenarbeit mit Tamara Dietl! Wer mehr über unsere neue Autorin wissen möchte, findet ihre bereits erschienen Texte in Heft 02/2020 „Die Corona-Krise – Blaupause für die VUCA-Welt" und in Heft 03/2020 „Innovation aus Leidenschaft", sowie auf ihrer Webseite: www.tamaradietl.com.
Hinweis: Das Heft im Heft zum „Summer of Purpose" erhalten Sie Print und Online auf www.forum-csr.net.
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Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 01.12.2020
Dieser Artikel ist in forum 04/2020 - Jetzt reicht's! erschienen.
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