Ingo Leipner

Krücken schnell wegwerfen

Das provokante Buch: „Die Katastrophe der digitalen Bildung“

 
Ingo Leipner
Die Katastrophe der digitalen Bildung
Bei der die Kinder mit vielen Tablets und wenig Bildung auf der Strecke bleiben

2020
304 Seiten
ISBN: 978-3-86881-804-8
19,99 EUR
Seit Mai 2019 stellt der Bund fünf Milliarden Euro bereit, um Schulen zu digitalisieren. Doch erst fünf Prozent der Gelder wurden bis Mitte August beantragt, wie die taz berichtet. Trotz des digitalen Fernunterrichts in der Corona-Krise. Ganz klar: Das ist ein Fehlschlag für die Befürworter digitaler Bildung – führte aber zu einem sinnvollen Innehalten, um über die Konsequenzen einer zu euphorischen Digitalisierung nachzudenken.

Genau das geschieht in dem neuen Buch „Die Katastrophe der digitalen Bildung", das Ingo Leipner verfasst hat. Er beginnt mit einer Analyse des digitalen Fernunterrichts im Lockdown: IT-Lobbyist Achim Berg, Präsident der Bitkom, rief einen „Epochenwechsel" in Schulen aus und freute sich, dass endlich digitale Systeme den Bildungsbereich durchdringen. Das hält Leipner für „einen Holzweg"! Der digitale Fernunterricht habe in einer Notzeit seinen Platz, dürfe aber nicht ohne Not verlängert werden.

Zu groß sind in der Corona-Zeit seine Defizite, die Wissenschaftler in einigen Studien ermittelt haben: Lernschwache Schüler wurden abgehängt, Kinder bekamen Aufgaben-Pakete ohne Feedback der Lehrer, Eltern waren überfordert, selbst Oberstufenschüler hatten Schwierigkeiten, ihren Lernalltag gut zu organisieren. Interaktive Videokonferenzen gab es kaum, der bürokratische Aufwand für engagierte Lehrer war hoch – und die Bildschirmzeiten für Computer-Spiele schossen in die Höhe, laut DAK-Gesundheit um 75 Prozent im Vergleich zur Zeit vor Corona.

Selbst in einer perfekten Digital-Welt mit Laptops und stabilem Internet für alle Schüler, so Leipner, werde eine Quelle niemals sprudeln: die besondere Kraft des Menschen, „durch Resonanz und Begegnung vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, die immer das soziale Fundament für Lernprozesse bilden. Dazu müssten sich Menschen direkt in die Augen schauen – ohne Technik als Hindernis!" So lautet die Kernbotschaft im Kapitel „Unterricht fürs ‚Schwarze Loch‘", das sich mit Schule im Lockdown beschäftigt.

Leipner schreibt, beim „Homeschooling" fehle der entscheidende Faktor: „ein Mensch, der in Beziehung tritt, um freundlich Wertschätzung zu äußern. Ein Mensch, der seelisch schwingungsfähig ist, weil Beziehungen durch wechselseitige Resonanz lebendig werden." Dieser Mensch sollte real in „seinem emotional-kognitiven Wesen" zu spüren sein - und dürfe nicht auf das „Briefmarkenformat eines Videochats" reduziert werden. Er müsse durch klares Feedback Kinder stärken, Lernprozesse nicht aufzugeben.

Wichtig sind für den Autor Ideen des Philosophen Hartmut Rosa, der sich grundlegende Gedanken über Resonanzbeziehungen gemacht hat, „zwischen der Welt und dem Menschen, sowie zwischen den Menschen selbst", wie es Leipner formuliert. Ein Gedankengebäude, das gerade im Bildungsbereich hilfreich sein kann. Resonanz findet immer im dreidimensionalen Raum statt, weil sich Geist und Seele im Körper ausdrücken. Rosa spricht von einem gegenseitigen „geistigen Berührtwerden". Etwa, wenn es einem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Daher hält Rosa Bildschirme für „potenzielle Resonanzkiller", weil im digitalen Fernunterricht die reale Zusammenarbeit im Klassenzimmer fehlt.

„Realität schlägt Virtualität, wenn es um ‚Resonanz‘ geht", stellt Leipner fest. So bleibe der Präsenzunterricht erste Wahl! Er lebe von der körperlichen Anwesenheit des Lehrers – als Mensch, „der nicht einfach Informationen präsentiert." Der Autor spitzt seine Position so zu: „Digitaler Notunterricht über die Distanz bleibt eine Krücke, die wir schnell wegwerfen sollten. Was nichts an der Notwendigkeit ändert, diesen Notunterricht zu praktizieren, um Schüler nicht völlig ins Hintertreffen geraten zu lassen. Wer ein Bein gebrochen hat, freut sich auch über seine Krücken." Der digitale Notunterricht füllt nur eines von 14 Kapiteln, die digitale Illusionen der Gegenwart abklopfen: Virtuell bereiste Leipner viele Länder, vom Silicon Valley über China und Japan bis nach Holland. Überall traf er auf Spuren einer Digitalisierung, die er im Bildungsbereich für katastrophal hält.

Sackgassen sind für Leipner individualisierte Lernprogramme: „Zu oft werde die Illusion genährt, diese Programme würden Kinder besser fördern, als es ein Lehrer jemals leisten kann." Dabei sei „Individualisierung" ein positiv besetzter Begriff, der die wahren Konsequenzen fürs Individuum verschleiert: überforderte, in die Einsamkeit getriebene Kinder, die als „kleine Erwachsene" einer gefährlichen Frühdigitalisierung zum Opfer fallen.

Hinzukommt: Die „individualisierten" Programme leben von einem „gewaltigen Datenstaubsauger", dem Rückkanal („Learning Analytics"). „Er ist nötig, damit das Programm die richtige Schublade öffnet, in der eine passende Aufgabe liegt", erklärt Leipner. Vorher habe es die Leistung des Schülers in allen Details analysiert. Eine Technik, die zum „Bestandteil lebenslanger Überwachung" werden kann.
 
Es droht der gläserne Mensch – schon ab der Schulzeit! Denn „Learning Analytics" lässt sich mit biometrischer Vermessung kombinieren, um digitale Lernumgebungen zu „optimieren". „Der gläserne Schüler bekommt genau gesagt, wann sein Interesse erlahmt, und er eine Pause braucht, weil seine Nase wärmer geworden ist", warnt Leipner. Katastrophal sei dieser „Trend zur Entmündigung", wenn er sich langfristig durchsetzen sollte.

Er hat auch ein Interview mit einer japanischen Psychiaterin geführt, die über „Hikikomori" spricht – also eine Million Menschen, die in Japan ihr Zimmer nicht verlassen und am Computer kleben. Dann kam er auf seiner virtuellen Reise in die USA: Da wurden Online-Kurse für arme Kinder eingerichtet, die sie im Bildungsprozess gleich am Lebensanfang benachteiligen. Aber privilegierte Eltern im Silicon Valley halten ihre Kinder von Bildschirmen fern oder schicken sie auf die Waldorfschule. Das erinnert Leipner an „Dealer, die ihren Stoff in Discos verkaufen – und den eigenen Kindern
verbieten, in Discos zu gehen."

Interessant ist auch, was in dem Buch über manche IT-Experten im Valley zu lesen ist. Sie haben mittlerweile ein schlechtes Gewissen und packen über die Manipulationstechniken von Facebook und Co. aus. Davon handelt das Kapitel „Glücksspiel in der Hosentasche", das Suchtmechanismen aus der Sicht der Täter beschreibt. Ein Blick nach China zeigt, wie digitale Überwachung auch vor Klassenzimmern nicht Halt macht, und Schüler mit GPS-Sendern in der Uniform getrackt werden ... Bemerkenswert ist auch die Geschichte der iPad-Schulen in Holland, die nach wenigen Jahren gescheitert sind. Bei aller Kritik formuliert Leipner auch positive Ansätze, wie eine neue Medienpädagogik digitale Medien in Schulen integrieren kann – ohne die emotionalkognitive Entwicklung der Schüler zu ignorieren. Das Kapitel „Es muss nicht immer digital sein …" geht auf solche Ideen ein, die eine aktive Nutzung im richtigen Alter fordern.

Wird es zu einer digitalen Katastrophe kommen? Vielleicht schießt der Titel des Buches etwas übers Ziel hinaus. Aber: Leipner lässt Marketingblasen der IT-Industrie platzen! Er zeigt an vielen Beispielen, dass die Digitalisierung der Schule von vielen Seiten zu betrachten ist – und nicht nur aus der üblichen Sichtweise von Wirtschaft und Politik, die digitale Medien für ein Allheilmittel im Bildungsbereich halten. Dieser frische Blick ist wertvoll; er bereichert die Digital-Debatte um eine wesentliche Perspektive.

Ingo Leipner, Dipl.-Volksw. Der Wirtschaftsjournalist ist ein gefragter Referent in Sachen Digital-Kritik und leitet die eigene Textagentur EcoWords. Autor verschiedener Bücher zur digitalen Transformation: „Zum Frühstück gibt’s Apps" / Springer Spektrum, 2014 (mit Gerald Lembke). „Die Lüge der digitalen Bildung" / Redline, 2015 (mit Gerald Lembke). „Heute mal bildschirmfrei", Knaur, 2018 (mit Paula Bleckmann). „Verschwörungstheorien – eine Frage der Perspektive", Redline, 2019 (mit Joachim Stall). „Die Katastrophe der digitalen Bildung" / Redline 2020. Außerdem Lehraufträge an der „Duale Hochschule Baden-Württemberg" (DHBW). Journalistische Themen: Unternehmenskultur, Ökonomie/Ökologie oder Erneuerbare Energie (u. a. Wirtschaftsmagazin „econo", „forum Nachhaltig Wirtschaften", „Farbe des Geldes").

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