Countdown für Planet B. Leila Dreggers Plädoyer für einen Aufbruch ins utopische Denken
9 - Ökonomie der Angstfreiheit
Es gibt keinen Planeten B, sagt die Klima-Streik-Bewegung. Nein? Dann wird es höchste Zeit, ihn uns auszudenken. Was ist anders in einer Welt, die den Systemwechsel schafft? Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wieviel Veränderung in kurzer Zeit möglich ist. Wir laden ein zu einem Countdown des utopischen Denkens! Alle zwei Wochen stellen wir - ganz unsystematisch - einen Kernfaktor des Systemwechsels vor.
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9 - Ökonomie der Angstfreiheit
Planet B ist eine Welt, in der Menschen voreinander keine Angst haben. Das führt zu völlig unerwarteten Konsequenzen. Unter anderem wird es den Walen besser gehen. Sie denken, das seien zwei völlig unterschiedliche, voneinander unabhängige Tatsachen? Irrtum, beides hängt zusammen.
Die Wale, unsere fernen Verwandten in den Weltmeeren, produzieren seit dem Corona-Lockdown viel weniger Stresshormone. Sie können sich wieder durch ihr Echolot orientieren, denn unter Wasser ist es stiller geworden. Der Motorlärm von Containerschiffen oder Kreuzfahrten ist auf ein erträgliches Maß gesunken, da der globale Handel auf ein Minimum geschrumpft ist.
Warum aber behaupte ich, Angstfreiheit werde denselben Effekt haben?
Strapazieren wir einmal unsere utopische Fantasie! Stellen wir uns vor: ein Leben ohne Angst vor anderen Menschen... also: Wir gehen morgens aus dem Haus zur Arbeit - nicht aus Leistungsdruck oder weil wir Angst haben, unsere Familie sonst nicht ernähren zu können. Sondern weil wir die Arbeit gern tun und sie sinnvoll finden. Wir setzen uns in der Straßenbahn neben einen fremden Menschen und beginnen ein Gespräch. Natürlich interessiert uns der Sitznachbar, warum sollten wir schweigen, wenn wir keine Angst mehr vor Peinlichkeit haben? Vielleicht mischen sich andere ein, weil wir ein interessantes Thema gefunden haben?
Wenn wir jemanden attraktiv finden, dann zeigen wir das - warum nicht? Wir haben ja schließlich keine Angst: nicht davor, dass der Lebensgefährte erschrickt, denn der hat ja auch keine Verlustangst mehr. Auch nicht vor Ablehnung: Wenn der andere mich nicht so attraktiv findet oder gerade anderes im Kopf hat, sagt er es freundlich, aber ohne unnötige Aggression, denn er hat ja auch keine Angst.
Ohne Angst werden wir uns weder auf der Arbeit, noch im Verkehr, noch in der Familie gegen andere behaupten, recht haben, miteinander konkurrieren, uns übertrumpfen, Anerkennung suchen. Denn wir kennen unsere Liebenswürdigkeit. So werden die Gepräche interessanter, Kontakte erfüllender, man hört einander tatsächlich zu.
Wir essen, wenn wir Hunger haben - nicht aus Langeweile oder um Aggressionen oder Ängste abzubauen.
Wir kaufen etwas, weil wir es brauchen, es uns das Leben erleichtert oder wir es schön finden - nicht aus Statusgründen, Langeweile oder Gier.
Wenn wir etwas verkaufen, versuchen wir, gemeinsam mit dem Käufer einen fairen Preis zu ermitteln - und nicht so viel wie möglich für uns selbst herauszuschlagen. Wir müssen überhaupt kein Geld mehr anhäufen, um uns sicher zu fühlen.
Wir haben auch keine Angst vor uns selbst und vor dem Allein-Sein. Wir müssen uns nicht mehr ablenken durch riesige Unterhaltungsprogramme. Wir fahren nicht mehr um die halbe Welt, um Abenteuer oder Entspannung zu finden - wir sind dort, wo wir sind, mit ganzem Herzen - ohne Angst.
Wenn eine Freundin etwas braucht, was wir haben, schenken wir es ihr gerne.
Auch Geld - denn sie liegt uns am Herzen, und wir haben ja keine Angst, dass wir dann selbst zu wenig haben könnten. Durch den intensiveren Kontakt in unserem Umfeld merken wir, wenn Nachbarn Hilfe benötigen - und helfen. Umgekehrt ist es uns nicht zu peinlich, um Hilfe zu bitten, wo wir sie selbst einmal brauchen. So entstehen lebendige Schenkökonomien.
Schön? Ja. Und eine reale Erfahrung in vielen Gemeinschaften und Ökodörfern, die ich kenne.
Aber für die Industrie und den Welthandel ist Angstfreiheit der reinste Alptraum. Jede einzelne Situation besagt: Wir müssen nicht mehr so viel konsumieren. Wir kümmern uns umeinander. Banken, Pflegedienste, Versicherungen verlieren an Boden, denn wir haben ja keine Angst, dass wir dann selbst zu wenig haben könnten. Auch diesen ganzen Mist, den man ständig um den Globus schippert, brauchen wir für unser Glück nicht mehr. Was an Gütern noch benötigt wird, kann auch regional erzeugt werden, fast überall auf dem Planeten. Ergo: Die Containerschiffe bleiben liegen, die Wale dürfen entspannen.
In der Zeit meiner Großeltern kamen noch fast alle Gebrauchsgüter aus der Region.
Heute wäre das angesichts moderner Methoden der Permakultur, des regionalen Wassermanagements, der dezentralen Energieversorgung, der gemeinde-gestützten Landwirtschaft noch leichter - immer in Kooperation mit der Natur. Was dann noch bleibt an Produkten aus anderen Regionen, an Spezial-Technologien, an gelegentlichen Überseegütern für einen besonderen Luxus: Das ist der exotische Rest, mit dem wir dann auf Planet B Tauschhandel betreiben können.
Auf Planet A waren Angst, Misstrauen und Mangeldenken die wichtigsten Steuermechanismen der Wirtschaft. Das hat ihn ruiniert. Auf Planet B spürt mensch wieder, dass er Teil eines Ganzen ist, Organ inmitten anderer Organe in einem gemeinsamen Organismus. Schmerz und Freude eines anderen Organs sind der eigene Schmerz, die eigene Freude. Würde die Leber den Magen übervorteilen wollen? Würde das Herz sich auf Kosten der Lunge an Sauerstoff bereichern? Kein Organismus würde das überleben. Nein, alle sind auf Gegenseitigkeit bedacht: Wenn es den anderen gut geht, geht es mir auch gut. Wir können alle Ungleichheit unter Menschen darauf zurückführen, dass wir diese Tatsache verdrängt haben.
Auch Mangeldenken ist der Natur fremd. Ein Baum erzeugt im Laufe seines Lebens viele tausend Samen, verschenkt seine Früchte unglaublich großzügig, ohne eine Gegenleistung zu fordern.
Großzügiges Schenken aus vollem Herzen sowie anmutiges Annehmen von Geschenken - das ist "heilige Ökonomie": die ursprünglichste Form des Wirtschaftens. Gerade in Zeiten eines drohenden Wirtschaftskollapses ist sie die nachhaltigste, sozialste, sicherste Wirtschaftsweise.
Bei einigen Stämmen nordamerikanischer Ureinwohner galt der als reich, der am meisten verschenken konnte. Es waren hochgeachtete Respektspersonen. Als arm galten hingegen die, die alles für sich behalten oder an sich raffen wollten. Sie hatten wenig Anteil am gesellschaftlichen Leben und wurden allgemein bemitleidet trotz all ihrer Güter. Genauso mitleidig werden eines Tages die Bewohner von Planet B an uns Planet-A-Bewohner zurückdenken. Glücklicherweise haben wir uns rechtzeitig daran erinnert, dass wir nicht allein sind auf der Welt.
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal. www.tamera.org
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