Corona als Chance für einen Systemwechsel
Fünf konkrete Anregungen aus Tamera
Wir erleben eine Zeit, in der immer mehr Dinge geschehen, die wir bis vor kurzem noch nicht für möglich hielten. Wir sehen die besorgniserregenden Entwicklungen hin zu totalitären Gesellschaften. Wir sehen die unglaubliche Not, Angst, Einsamkeit bei alten Menschen, in benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Regionen der Erde. Wir sehen aber auch sehr viele Beispiele von Mut und Solidarität. Und wir erleben das Aufatmen der Natur.
Wie wird das alles ausgehen? Werden wir in absehbarer Zeit wieder in die Normalität zurückkehren? Oder nutzen wir als Menschheit die Chance auf einen echten Systemwechsel? Finden wir den Neustart in eine Kultur, die mit dem Leben in tiefer Resonanz steht?
Wir in Tamera werden immer wieder um unsere Einschätzung gebeten, was wir über die Corona-Krise denken und wie wir damit umgehen. Dazu gibt es viele Antworten auf vielen Ebenen. Hier fassen wir unsere Einschätzungen sowie Denk- und Handlungsansätze zusammen, die wir weitergeben möchten.
Für alle, die diese Erde und das Leben lieben, bedeutet die Krise neben allem anderen auch eine große Chance: Wir können und müssen jetzt weltweit unsere Kräfte auf ein gemeinsames Ziel bündeln, auf sozialen Zusammenhalt, auf den Aufbau dezentraler Strukturen, auf solidarische Ökonomie und einen echten Neustart. Lassen wir uns nicht durch unterschiedliche Meinungen auseinander dividieren! Durch das, was wir jetzt tun, denken und uns vorstellen, bestimmen wir das Geschehen mit.
Angesichts der Entwicklungen und Informationen von FreundInnen aus aller Welt halten wir einen wirtschaftlichen Kollaps und damit wesentliche Einschränkungen der Versorgungssysteme für einen möglichen Ausgang der Situation. Dazu kommt die Gefahr, dass die Krise für einen Anschlag auf Demokratie und Persönlichkeitsrechte bis hin zu Überwachungsmaßnahmen mit Hilfe modernster Technik und die Einführung von totalitären Strukturen benutzt werden könnte. In einigen Ländern (wie China, Indien, Israel, den Philippinen) beobachten wir bereits derartige Entwicklungen und das große Leid der betroffenen Bevölkerung. In diesem Szenario wird ein Klima aus Angst vor Nähe sowie Kontakt-Vermeidung aus Furcht vor Ansteckung den sozialen Zusammenhalt immer schwieriger machen - und damit die gemeinsame Meinungsbildung, gegenseitige Hilfe und Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen.
Es ist richtig, sich jetzt solidarisch zu verhalten, auch in Bezug auf die Anweisungen der Regierungen. Aber wenn wir Unwahrheiten, Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen sehen, dürfen wir auch nicht schweigen.
Es ist ein Muss, sich jetzt einer konstruktiven Richtung zuzuwenden. Jetzt ist unsere global vernetzte Intelligenz gefragt. Die Situation ist ein Auftrag an uns alle, die tiefer liegenden Strukturen der Gesellschaft und unsere eigenen Muster gründlicher zu durchschauen und zu wandeln. Einige Anregungen aus der Sicht des Systemwechsels:
1. Angst durchschauen und entwaffnen
Das gefährlichste und ansteckendste Virus ist das Virus der Angst. Undurchschaute Ängste waren immer Auslöser von Schutzmechanismen, Aggression, Kriegen, Faschismus und Verfolgung von Minderheiten. Nehmen wir uns die Zeit, unsere Ängste zu durchschauen und zu entwaffnen. Dazu gehört auch ein kritischer Umgang mit Informationen. Wir kennen die Mechanismen der Mainstream-Medien und den Druck, vor allem in Krisensituationen dasselbe zu denken. Es wäre jedoch geschichtlich nicht das erste Mal, dass sich die eine große Erklärung als falsch herausgestellt hat. Deshalb bewahren wir unseren kritischen Geist, bleiben offen für andere Informationen, haben den Mut, das, was wir für wahr halten, auch zu sagen - mit aller Toleranz für die Wahrnehmungen anderer!
2. Solidarität
Als Gemeinschaft orientieren wir uns an den ethischen Grundlinien von Verantwortung, Wahrheit und gegenseitiger Unterstützung. Diese Werte bewähren sich besonders in Zeiten wie diesen. Bewahren und verstärken wir den sozialen Zusammenhalt, der sich in der globalen Gemeinschaft und in unseren regionalen Nachbarschaften gebildet hat! Vergessen wir vor allem nicht diejenigen, die am meisten unter der Krise leiden. Dazu gehören auch die Flüchtlinge an geschlossenen Grenzen und in großen Lagern; alle Menschen in beengten Verhältnissen wie Slums; all die Obdachlosen, Straßenkinder, Menschen ohne Aufenthaltsrechte ganz besonders in Ländern mit totalitären Tendenzen. Helfen wir, wo wir können! Leisten wir Widerstand gegen die Einschränkung von Menschen- und Bürgerrechten, die jetzt im Namen der Gesundheit an vielen Orten durchgesetzt werden, Widerstand auch gegen jede Form von Propaganda, die die Schuld an unserer Krise bei den jeweils "anderen" sieht (v.a. Minderheiten).
Während wir unsere Netzwerkpartner in der Region derzeit nicht direkt treffen können, halten wir den Kontakt aufrecht, versuchen, wach dafür zu bleiben, wo Hilfe und Solidarität gebraucht werden. Für Besucher ist Tamera derzeit geschlossen.
3. Dezentralisierung
Machen wir uns unabhängiger von der globalen Versorgung eines im Zusammenbruch begriffenen Systems! Jetzt ist der Moment, unseren Rückhalt in der Region zu stärken und unsere Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Energie soweit wie möglich auf regionale und dezentrale Basis umzustellen. Stärken wir die Bauern und Produzenten unserer Region! Bauen wir eigene Lebensmittel an - immer in Kooperation mit der Natur! Teilen wir die Überschüsse mit denen, die dazu keine Möglichkeit haben! Sammeln wir eigenes Saatgut! Lernen wir unsere Wasserquellen kennen und pflegen! Sammeln wir Regenwasser in Retentionsbecken und -gräben und nutzen es weise! Informieren wir uns über dezentrale Energieproduktion durch Solar- und Windkraft, sowie für Energieautonomie durch Solarkocher und Biogas zum Kochen!
Zur Dezentralisierung gehört auch die Verantwortung für Gesundheit, Schulbildung und Information: Auch hier brauchen wir Unabhängigkeit von globalen Versorgern durch den Aufbau von regionalen, verlässlichen Kooperationen.
4. Visionsbildung
Das herrschende kapitalistische System bezieht seine große Macht immer auch aus dem kollektiven Mangel an Vorstellungskraft von Alternativen. Buckminster Fuller sagte: "Die Welt ist zu gefährlich geworden, um uns mit weniger als der Utopie zufrieden zu geben."
Die gegebene Situation ist eine besondere Chance, um unseren Kontakt zur Natur und zum Leben selbst wieder zu finden. Nutzen wir die jetzige Auszeit für Visionsbildung. Wie wollen wir leben? Wie sieht eine Welt aus, in der Menschen solidarisch und kontaktvoll zusammenleben, respektvoll mit der Natur kooperieren, überschaubare Entscheidungs- und Versorgungsstrukturen aufbauen und ihre verlorene Macht zu denken, zu lieben, füreinander da zu sein, zu sich zurückholen?
Eine Vision ist mehr als ein individueller Wunschtraum; es ist die Verbindung mit einer überpersönlichen, dem Leben innewohnenden Richtung.
5. Eine globale Richtung
Nun, da bisherige Systeme scheitern, werden mehr Menschen tiefer verstehen, auf welche gemeinsame Richtung wir unsere Kräfte bündeln können: ein grundlegender Systemwechsel hin zu einer Kultur der Partnerschaft. Dazu gehören der Aufbau von Gemeinwesen, die unter sich Misstrauen und das geschichtliche Trauma auflösen und zu echter Wahrnehmung, Vertrauen und humaner Willensbildung fähig werden; autonome Regionen, die ihre Versorgung auf die Grundlage der Kooperation mit der Natur stellen; ein tiefes Verständnis der heiligen Matrix und der Erde als lebendiges, beseeltes Wesen; Heilung der Liebe und Versöhnung der Geschlechter; Kooperation mit dem, was wir "Omega" oder universelle Kräfte nennen - mit dem Undefinierbaren, von dem wir alle Teil sind. Dazu gehört auch der Abbau von Feindbildern! Auch Viren sind keine Feinde, sondern Teile des gemeinsamen Lebenskörpers, die uns auf notwendige Veränderungen aufmerksam machen.
Das alles ist gemeint mit dem Plan der Heilungsbiotope. Wir nehmen uns jetzt die Zeit, seine Grundgedanken neu zu studieren und zu vertiefen.
Am Ende möchten wir euch eine Inspiration aus dem unveröffentlichten Text "Zukunftsvision" von Sabine Lichtenfels mitgeben. Er stammt aus dem Jahr 2008; sie hat darin die Entwicklung einer möglichen Zukunft beschrieben und die Herausforderungen, die wir dafür durchlaufen mussten. Es ist also ein sehr aktueller Text.
"Es blieb keine andere Wahl mehr. Der Außendruck war gewaltig gestiegen, um unsere innere Bewusstheit und verändernde Kraft zu wecken. Das beschleunigte unsere Transformationskraft von Woche zu Woche. Die äußeren Umstände zwangen uns dazu, makellos zu werden. Sie zwangen uns dazu, in uns den Punkt zu entdecken und zu entwickeln, wo wir tatsächlich unangreifbar sind.
Das entscheidende Ereignis, das auch jetzt in der Lage war, eine neue Zukunft einzuleiten, war die Rückkehr zur Gottesgewissheit. Die leuchtende Qualität, die wir gewohnheitsmäßig ins Jenseits projiziert hatten, ist in Wahrheit bereits jetzt im Leib zu Hause. Es war eine absolute Seinsgewissheit und Seinsfreude, die plötzlich erwachte und uns motivierte zu erneuerndem Handeln. Jetzt wussten wir es genau: Wenn wir in der Lage sind, jetzt ein Leben zu führen, wo wir ganz an uns selbst begreifen, wie wir den Krieg beenden können, dann wird sich diese Realität bewahrheiten."
Leila Dregger ist Diplom-Agraringenieurin und langjährige Journalistin. Mit den Schwerpunktthemen Frieden, Ökologie, Gemeinschaft, Frauen arbeitet sie seit 25 Jahren für Presse und Rundfunk sowie als Drehbuchautorin und Regisseurin für Theater und Film. Sie war Herausgeberin der Zeitschrift „Die weibliche Stimme – für eine Politik des Herzens", Pressesprecherin des Hauses der Demokratie in Berlin und lebt heute überwiegend in Tamera in Portugal. Sie lehrt konstruktiven Journalismus für Berufsanfänger sowie in Krisenregionen und ist Autorin mehrerer Bücher. www.tamera.org
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