Christoph Quarch
Gesellschaft | Megatrends, 29.09.2025
Deutsche Einheit - deutsche Identität(en)
Christoph Quarch sieht die Zukunft in der Stärkung individueller Identitäten im Dialog mit anderen
Wenn der dritte Oktober naht, haben Meinungsforschungsinstitute Konjunktur. Dann nämlich möchte man wissen, wie es um die deutsche Einheit bestellt ist. So auch in diesem Jahr: wobei die Ergebnisse nachdenklich stimmen. Folgt man einer Forsa-Umfrage, dann meinen nur noch 35 Prozent der Deutschen, dass Ost- und Westdeutsche seit der Wiedervereinigung zu einem Volk zusammengewachsen sind. Vor Covid teilten immerhin noch 51 Prozent diese Sichtweise. Eine gemeinsame Identität von Ost und West scheint in weiter Ferne. Wie soll man sich dazu verhalten? Ist das schlimm oder steckt darin auch eine Chance? Darüber haben wir mit dem Philosophen und Bestseller-Autor Christoph Quarch gesprochen.
Herr Quarch, muss es uns Deutsche alarmieren, wenn es uns nicht gelingt, eine gemeinsame Identität auszubilden?
Grundsätzlich nicht. Es steht nirgends geschrieben, dass ein Gemeinwesen nur dann funktioniert, wenn alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eine gemeinsame nationale Identität ausprägen. Dass so etwas wichtig sein könnte, ist eine Idee, die historisch gesehen erst in der französischen Revolution aufgekommen ist. Vorher definierten sich die Menschen über regionale oder über religiöse Identitäten. Und damit fuhr man ganz gut, weil Identitäten zunächst einmal nicht dazu dienen, Zugehörigkeit zu politischen Gebilden zu erzeugen, sondern zur Selbstvergewisserung der einzelnen Menschen beizutragen. Menschen suchen etwas, mit dem sie sich identifizieren können, weil ihnen klare Selbstbilder eine gewisse Sicherheit in Aussicht stellen. Aus der Perspektive des Einzelnen muss das keine nationale Identität sein. Wenn sich der Schwabe als Schwabe und der Kölner als Kölner sieht, reicht das völlig aus.
Grundsätzlich nicht. Es steht nirgends geschrieben, dass ein Gemeinwesen nur dann funktioniert, wenn alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eine gemeinsame nationale Identität ausprägen. Dass so etwas wichtig sein könnte, ist eine Idee, die historisch gesehen erst in der französischen Revolution aufgekommen ist. Vorher definierten sich die Menschen über regionale oder über religiöse Identitäten. Und damit fuhr man ganz gut, weil Identitäten zunächst einmal nicht dazu dienen, Zugehörigkeit zu politischen Gebilden zu erzeugen, sondern zur Selbstvergewisserung der einzelnen Menschen beizutragen. Menschen suchen etwas, mit dem sie sich identifizieren können, weil ihnen klare Selbstbilder eine gewisse Sicherheit in Aussicht stellen. Aus der Perspektive des Einzelnen muss das keine nationale Identität sein. Wenn sich der Schwabe als Schwabe und der Kölner als Kölner sieht, reicht das völlig aus.Aber irgendetwas wird die französischen Revolutionäre veranlasst haben, sich für eine nationale Identität stark zu machen – vermutlich die Überzeugung, dass ein starkes nationales Zugehörigkeitsgefühl die politische Einheit kräftigt. Und brauchen wir so etwas nicht auch in Deutschland?
Ein nationales Zugehörigkeitsgefühl ist wichtig, wenn dadurch verhindert wird, dass Partikular-Identitäten entstehen, die leicht für Konflikte nutzbar gemacht werden können. Darin sehe ich das Problem, mit dem wir in Deutschland zu tun haben: nicht, dass es uns an einer gemeinsamen Identität fehlt, sondern dass sich im Osten des Landes eine Wir-Ossis-Mentalität entwickelt hat, die sich konfrontativ gegen "die Wessis" formiert – die sich allerdings ihrerseits überhaupt nicht als "die Wessis" fühlen. Darin liegt Sprengstoff, der von Populisten und Demagogen nutzbar gemacht wird. Vor diesem Hintergrund sind die von Ihnen genannten Zahlen tatsächlich alarmierend. Sie lassen vermuten, dass die Spaltung im Land tiefer wird. Ich glaube aber nicht, dass man dem beikommen kann, indem man nun auf Teufel-komm-heraus eine deutsche Identität mit deutschen Werten oder dergleichen propagiert.
Warum nicht? Wo sehen Sie das Problem?
Ein Zurück zu nationalen Identitäten kann im heutigen Europa niemand mehr wollen. Nicht nur vor dem Hintergrund einer europäischen Geschichte, die zwei von Nationalismen befeuerte, fatale Weltkriege gesehen hat. Nein, vor allem, wenn man sich klar macht, dass die europäischen Gesellschaften im geopolitischen Wettstreit der Gegenwart nur bestehen können, wenn sie sich zu mehr Europa entschließen. Wenn wir über politische Identitäten nachdenken, sollten wir deshalb unser Augenmerk direkt auf Europa lenken, alles andere bringt uns nicht weiter. Aber das ist nur das eine. Viel wichtiger scheint mir zu sein, dass hinter der aufkeimenden Sehnsucht nach Identitäten ein ganz anderes Problem steckt: eine umfassende Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit, die durch Identitäten jedweder Art immer nur notdürftig kaschiert werden kann.
Wollen Sie damit sagen, dass es am besten wäre, komplett auf Identitäten zu verzichten? Aber woher soll dann noch so etwas wie ein Gemeinschafts- oder ein Zughörigkeitsgefühl entstehen?
Wie ich schon sagte: Jeder Mensch, braucht etwas, womit er sich identifizieren kann. Aber das Wichtigste ist, dass wir uns mit uns selbst identifizieren: dass ich mich selbst in meinem So-Sein annehmen kann und deshalb nicht irgendeinem Identitätskonstrukt hinterherlaufen muss, das im Zweifelsfall andere entworfen haben und mir schmackhaft machen wollen: die Ossi-Identität zum Beispiel, die mich in den Vergleichsmodus treibt und dadurch meine Unzufriedenheit steigert. Viel besser ist es, eine individuelle Identität auszubilden – und das geschieht, wie Goethe betont hat, gerade dadurch, dass ich mich nicht an äußerliche Identitäten klammere oder gegen andere abgrenze, sondern indem ich den Dialog mit anderen suche und meine Horizonte erweitere. Identitäten sind lebensdienlich, wenn sie uns wachsen lassen – aber sie sind problematisch, wenn sie uns in engen Selbstbildern erstarren lassen. Davor müssen wir in Deutschland im Augenblick auf der Hut sein.

Der Philosoph, Speaker und Bestseller-Autor Christoph Quarch begleitet Unternehmen, unterrichtet an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen. In seinen Vorträgen und Büchern greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophie zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen. Gemeinsam mit seiner Frau Christine Teufel gründete er die Neue Platonische Akademie für eine geistige Erneuerung der Gesellschaft.
Aktuelle Bücher von ihm sind „Wacher Geist und fester Schritt. The Donkey School for Leadership" (2024), „Schönheit rettet die Welt” (2024) und "Der Club der alten Weisen" (2023).
Mehr zu ihm unter christophquarch.de und akademie-3.org
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