Tina Teucher
Wirtschaft | Führung & Personal, 04.12.2019
Das Ende der Hierarchie?
Jetzt entschieden alle
Der Wunsch nach Augenhöhe mit seinen Mitarbeitern hat Stephan Heiler dazu bewogen, sein Unternehmen grundlegend auf den Kopf zu stellen. 2014 traf er seine letzte Entscheidung auf die bis dahin übliche hierarchische Art: Seither entscheiden alle.
Anweisungen von oben nach unten, Strategietreffen hinter verschlossenen Türen, sinkende Umsatzrenditen: So konnte es nicht weitergehen. Als Stephan Heiler 2011 das Handwerksunternehmen von seinem Vater übernahm, war für ihn klar: Die Hierarchien müssen weg. Dem Gedanken der Dezentralisierung folgend, begann er, die Verantwortung der damaligen Führungskräfte auf den Schultern aller Mitarbeiter zu verteilen. So entscheiden in seinem Unternehmen heute alle gemeinsam strukturelle und strategische Fragestellungen. Stephan Heiler gilt als Pionier, der es wagte, sein Unternehmen zu transformieren und im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf zu stellen. Trotz des mühsamen und emotionalen Prozesses überwiegen heute die ökonomischen und sozialen Vorteile seines Organisationsmodells.Ein ganz normaler Handwerksbetrieb...
Bis 2011 war die Alois Heiler GmbH noch ein ganz normaler Handwerksbetrieb mit Sitz in Waghäusel, Baden-Württemberg. Seit über 30 Jahren verschönern seine rund 60 Mitarbeiter Wohn- und Arbeitswelten mit Glaselementen. Wie so oft im Familienunternehmen liefen die Fäden bei einer zentralen Figur zusammen: Geschäftsführer Alois Heiler entschied als Gestalter und Macher quasi alles, vom großen Auftrag bis zur Materialauswahl des kleinsten Bauteils. Doch 2011 öffnete sich ein Fenster für etwas Neues: Vater Alois übergab die Firma seinem Sohn Stephan. Der Nachfolger hatte sich von Denkern wie Jeremy Hope und Robin Fraser („Beyond Budgeting") inspirieren lassen und sich in den Kopf gesetzt, mit den Mitarbeitern stärker auf Augenhöhe arbeiten zu wollen.
Alternativen zu klassischen Steuerungs- und Organisationmodellen faszinierten ihn seit Jahren. Hinzu kam der Druck von außen: Die Alois Heiler GmbH arbeitete in einem sich stark verändernden Markt. Stagnierende Umsatzzahlen und die Abwanderung einer zentralen Führungskraft erschütterten den Familienbetrieb. In diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten überkam den Unternehmensnachfolger Stephan Heiler plötzlich ein Aha-Erlebnis: „Was, wenn wir einfach keine neue Führungskraft einstellen? Können wir den Mitarbeitern nicht Stück für Stück die Entscheidungsmacht der ehemaligen Führungskräfte und mehr Verantwortung übergeben?" Kurz, das erste Experiment gelang. Von da an war für Heiler klar, dass die radikale Transformation des eigenen Unternehmens hin zu Selbststeuerung ohne formale Führung der richtige Weg in die Zukunft ist. Stephan Heiler begann den Großteil seiner eigenen Macht als Geschäftsführer abzugeben – eine bewegte Zeit für das gesamte Team.
Die Mitarbeiter entscheiden mit
Heute arbeiten die Mitarbeiter selbstbestimmt in funktionsübergreifenden Teams. Diese sind in sogenannte Organe eingeteilt: Markt, Projekt, Produkt und POI (Prozesse, Organisation & Information). Sie haben übergreifende Prozessverantwortung. Die Mitarbeiter sind in der Lage und aufgefordert, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und zusammenzuarbeiten. Neu ist die Rolle von sogenannten Betriebs-Katalysatoren. Sie beraten bei Problemen. Sie moderieren Entscheidungsprozesse und sie bereiten Informationen für die Belegschaft auf, damit vernünftige Entscheidungen getroffen werden können. Heiler unterscheidet in Alltags-, Struktur und Strategieentscheide. So sind die Mitarbeiter in der Lage, auf operativer Ebene sehr selbstbestimmt zu arbeiten – ohne den Geschäftsführer miteinzubeziehen. Bei Struktur- und Strategiethemen geht die Entscheidung in die Gruppe. Zum Beispiel unterliegen Personalprozesse den Organen. Die jeweiligen Teams entscheiden, ob Bedarf für neue Mitarbeiter besteht. Auch die Vorstellungsgespräche und die Entscheidung über die Einstellung liegt bei den Mitarbeitern. Allein die Budgetierung bedarf einer Absprache mit dem Geschäftsführer. Weiter partizipiert jeder auf struktureller und strategischer Ebene aktiv. Eine Ausnahme bleibt bisher das Gehaltssystem. Nicht etwa, weil Stephan Heiler es vermeidet – die Belegschaft selbst geht das Thema (noch) nicht an.|
Betriebsversammlung als Unkonferenz
Die Methode einer Unkonferenz (engl. Barcamp) bietet Raum und Zeit, eine Zusammenkunft wie eine Konferenz zu strukturieren, jedoch inhaltlich direkt an den Bedürfnissen der Teilnehmenden auszurichten. Bei der Betriebsversammlung 2017 wurden offen alle Themen gesammelt, die die Belegschaft als wichtig wahrnahm. Themen, die den Kollegen unter den Nägeln brannten, waren z.B.: Wie können wir Objektaufträge effizienter machen? Wie können wir unsere veraltete IT erneuern? Wie bekommen wir mehr Klarheit zu unseren unterschiedlichen Rollen, die sich erst langsam durch den starken Hierarchieabbau herauskristallisieren? Für insgesamt acht Themen wurden Räume und Slots eingerichtet. Am Ende des Barcamps skizzierten die Teilnehmer auf einer sieben Meter langen Zeittafel die Prioritäten und Projekte der nächsten zwei Jahre. |
Mehr Verständnis für die Arbeit
Mit dem Transformationsprozess hat sich nicht nur das Organisationsmodell verändert. Vor allem durchlief die Unternehmenskultur einen grundlegenden Wandel. Eigenverantwortung und Mitentscheidung wird von jedem Mitarbeiter verlangt – manche bringen das schon mit, manche noch nicht. Damit die Organisation funktioniert, mussten die Mitarbeiter und auch Stephan Heiler viel lernen und sich in ihren neuen Rollen zurechtfinden. Heute gehen alle offener miteinander um: Zufriedenheit, aber auch Unzufriedenheit kommen deutlicher zur Sprache. Einen Abteilungsleiter, der Entscheidungen und Sorgen abnimmt, möchte heute keiner mehr über sich haben. „Die Anstellung in einem ‚normalen‘ Unternehmen ist für viele im Team mittlerweile nicht mehr vorstellbar", hat Stephan Heiler festgestellt. Insgesamt führt das Unternehmensmodell ohne formale Hierarchie zu einer besseren Zusammenarbeit aller Beteiligten: Jeder hat mehr Überblick, was gerade passiert, mehr Verständnis für den anderen und kann die eigenen Kompetenzen ausweiten.
Qualität steigt durch Kundennähe
Stephan Heiler wollte, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo auch das Wissen liegt, nämlich bei den Mitarbeitern. Das erleichtert die direkte Umsetzung und verhindert lange Kommunikationswege von oben nach unten. Der Ansatz folgt nicht nur einer humanistischen Grundeinstellung, sondern ermöglicht unternehmerisches Denken und Effizienz in der Praxis. Durch die größere Eigenverantwortung entstehen neue Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Unternehmen. Das beflügelt die eigene Kreativität, Dinge anders und besser zu gestalten. Denn gerade der Mitarbeiter ist derjenige, der nah am Kunden, nah an den Produkten und nah an den Prozessen ist. So können heute alle Ansprechpartner dem Kunden gegenüber über den Preis entscheiden. Die Mitarbeiter im Markt-Organ können Kundenfeedback direkt in eigene Ideen und Vorschläge umsetzen, welche in der Gruppe dann entschieden und umgesetzt werden. Das schafft den Nährboden für Innovationen. So hat es das Unternehmen geschafft, die Qualität der eigenen Arbeit zu steigern. Eigene Produktentwicklungen wie das neue Pendelscharnier DS15 oder das Schiebesystem softslide setzen Maßstäbe im Markt.
Neben der Nähe zum Markt und dem Recht der Mitarbeiter auf Mitentscheidung beeindruckt das die Kunden ganz besonders. Mittlerweile wird über die neue Firmenkultur bei dem mittelständischen Handwerksbetrieb in Online- und Printmedien berichtet. Ein Blog zu diesem Thema auf der Unternehmens-Website informiert Journalisten und Stakeholder. Durch diese Öffentlichkeitsarbeit erhält die Firma immer mehr Initiativbewerbungen von hochqualifizierten Fachkräften welche aus den starren Machtstrukturen ihrer aktuellen Betriebe entfliehen möchten. Angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland dürfte das ein entscheidender Wettbewerbsvorteil und ein wichtiger Faktor für den stabilen wirtschaftlichen Erfolg der Alois Heiler GmbH in den nächsten Jahren sein.
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Chef sein? Lieber was bewegen!
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2018, Heiler&Borck, ISBN: 978-3-947572-14-4 |
Von Alina Weiss und Tina Teucher
Dieser Artikel ist in forum 04/2019 - Food for Future erschienen.
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