Sir Vival
Auf so eine Idee kann nur ein Abenteurer kommen. Einer, der die Herausforderung sucht.
Rüdiger Nehberg will das Recht der Frauen nach Mekka tragen und eine leidbringende Tradition aus der Welt schaffen.
Rüdiger Nehberg? Das ist doch der Typ mit der Spinne als Haarersatz auf dem Kopf. Der, der sich dauernd dem Überlebenskampf aussetzt, der sich nackt vom Hubschrauber im Regenwald aussetzen lässt und sich ohne Nahrung 1.000 Kilometer durch Deutschland quält, nur von seiner Körpersubstanz lebend, um... Ja, warum macht einer so was?
"Ich habe eine angeborene Freude am Abenteuer, bin neugierig auf die Welt und bereit zum Risiko", sagt Nehberg, "Ich habe aber auch eine gewisse Leidensfähigkeit und Anspruchslosigkeit. Ich wollte schon immer lieber kurz und knackig leben, als lang und langweilig."
Dabei hatte eigentlich alles ganz vernünftig begonnen. Nehberg, Jahrgang 1935, ist ein Kriegskind. Er hat den Hunger kennengelernt. Und weil im Deutschland der Nachkriegszeit vieles pragmatisch war, machte er eine Bäcker- und Konditorlehre. "Bäcker verhungern nicht", erinnert sich Nehberg an seine Motivation.
Weil Pragmatismus oft wenig mit dem Sinn des Lebens zu tun hat, wurde der Bäcker früh zum Reisenden. Da, wo er Grenzen erfahren konnte, wollte er hin. Mit 17 Jahren fuhr er mit dem Fahrrad nach Marokko, um die Kunst der Schlangenbeschwörung zu lernen.
Was dann kam, kennen Sie: Vorträge, Survivalkurse und Bücher mit Titeln wie Überleben ums Verrecken, um nur eines von 28 nennen. In den verträumten bundesdeutschen 1980er-Jahren traf er damit den Geschmack der Massen. Und aus den Abenteuern wurde ein Geschäft. 1990 verkaufte Nehberg seine Konditorei und verlegte sich ganz aufs eigene Überleben.
Doch auch die hauptberufliche Suche nach dem Abenteuer war noch nicht das Richtige. "Ich war auf der Suche nach einer echten Lebenserfüllung", erzählt Nehberg. Als er 1980 zum Augenzeugen des Bürgerkrieges bei den Yanomami-Indianern in Brasilien wurde, bekam seine Arbeit langsam einen tieferen Sinn. "Ich fühlte mich verpflichtet, zu helfen, als ich spürte, dass die Betroffenen nicht in der Lage waren, sich selbst zu helfen", beschreibt er das Gefühl von damals. "Hilfe konnte nur von außen kommen. So, wie es der Hilfe der Alliierten bedurfte, um die Deutschen von den Nazis zu befreien."
"Der Islam ist nicht dialogfähig", hörte Nehberg immer wieder
Aus Mister Survival war Sir Vival geworden. Er kämpfte nicht mehr nur ums eigene Überleben, sondern für das Recht auf Leben anderer. Seitdem geht das, was er tut, über den Abenteurer Rüdiger Nehberg hinaus. In Brasilien hat er sein Ziel schon erreicht. Er nennt es einen "annehmbaren Frieden zwischen den Yanomami-Indianern und der brasilianischen Regierung".
Das ändert nichts daran, dass manche ihn für einen Verrückten halten. Denn es gibt längst eine neue Mission für den 78-Jährigen. Nehberg will die Verstümmelung von Mädchen und jungen Frauen beenden.
Es ist ein Tabuthema, vielleicht weil es so schrecklich ist, dass sich viele lieber abwenden. Vor allem in Afrika, aber auch im Jemen oder etwa in Indonesien, ist diese alte Tradition weit verbreitet. Es passiert alle elf Sekunden, obwohl an vielen Ecken und Enden von Nichtregierungsorganisationen und Regierungen dagegen angekämpft wird.
Bei der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz: FGM) werden Frauen und Mädchen die äußeren Geschlechtsorgane entfernt. Meist wird der alte Brauch vor Beginn der Pubertät durchgeführt. Es kommen aber auch Verstümmelungen im Säuglings- oder Erwachsenenalter vor. Betäubungen sind nicht üblich und die hygienischen Bedingungen katastrophal. Die Mädchen und jungen Frauen leiden oft lebenslang an den körperlichen und seelischen Schäden, wenn sie die Beschneidung überleben.
Bereits in den 1970er-Jahren bereiste Nehberg zweimal Äthiopien. Die Danakilwüste und der Blaue Nil haben sich ihm ins Gedächtnis eingeschrieben. "Das sind unauslöschliche Bilder", erinnert er sich. "Monatelang allein durch ein ursprüngliches Afrika, die archaische Lebensweise, aktive Vulkane, Blutrache und Überfälle. Und genau dort engagieren wir uns heute mit unserer Organisation Target. Manchmal frage ich mich schon selbst: Hab ich sie noch alle?"
Sir Vival glaubt an eine schöpferische Kraft, vor allem aber daran, dass sich Visionen realisieren lassen. "Niemand hatte mir und Annette zuvor eine Chance eingeräumt. 'Der Islam ist doch gar nicht dialogfähig', mussten wir uns anhören", berichtet er von den Reaktionen auf den Plan, den er und seine Frau gefasst haben.
FGM gibt es nicht nur in islamisch geprägten Gebieten. Auch in den christlichen Regionen Äthiopiens etwa ist sie verbreitet. Doch gerade Moslems begründen die Tradition häufig mit dem Koran.
Darin sah Rüdiger Nehberg eine Chance. Und er startete ein ungewöhnliches Projekt: Er holte die Religionsführer Afrikas an einen Tisch, um über das Thema zu beraten. Sie wurden zu Fürsprechern seiner Sache. Eine internationale Gelehrtenkonferenz in der Al Azhar-Universität in Kairo brachte den Durchbruch. Die höchsten islamischen Glaubensführer der Welt erklärten den Brauch der Verstümmelung zu einem "strafbaren Verbrechen gegen höchste Werte des Islam" und erließen eine Fatwa, ein islamisches Rechtsgutachten. Seitdem ist die schreckliche Tradition eine verbriefte Sünde.
Transparente aufhängen mit dem saudischen König
Diese Fatwa soll FGM aus der Welt schaffen. Ihre Botschaft muss nun in die Köpfe der FGM-Befürworter. Um das zu erreichen, ist das Goldene Buch entstanden: eine Dokumentation der Ergebnisse der Gelehrtenkonferenz. Es soll Imamen auf der ganzen Welt als Predigtvorlage dienen und existiert bereits in mehreren Sprachen. "Das Buch wird uns aus den Händen gerissen", erzählt Nehberg, "aber vielen Imamen fehlt der Mut, das Thema in den Moscheen anzusprechen. Die, die es tun, erleben großen positiven Widerhall."
Target, die Hilfsorganisation der Nehbergs, verteilt das Buch in den verschiedensten Ländern und immer wieder sucht das Paar die Chance zu Gesprächen mit möglichen Mitstreitern vor Ort. Und sie stoßen auf viele offene Ohren. Nehberg wäre nicht er selbst, wollte er nicht noch viel höher hinaus: "Die größte Hilfe wäre ein Kontakt zum saudischen König, um ihm in aller Demut Vorschläge zu unterbreiten. Mit seinem Engagement ließe sich FGM sehr schnell beenden. Und das würde dem Islam ein neues Ansehen in der Welt verleihen", sagt Nehberg.
Er meint das sehr ernst. Und mit seinen Visionen ist er schon ziemlich weit gekommen. So ein Abenteurer lässt sich nicht so leicht kleinkriegen.
Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie eines Tages Rüdiger Nehberg sehen, wie er auf dem Heiligen Platz in Mekka zusammen mit dem saudischen König und vier Millionen Pilgern aus aller Welt ein Transparent aufhängt: "Weibliche Genitalverstümmelung ist mit dem Koran und der Ethik des Islam unvereinbar. Sie ist Sünde." Vielleicht sitzt ihm dabei sogar eine Spinne auf dem Kopf.
Von Karin Burger
KARIN BURGER
ist seit 10 Jahren Inhaberin der Redner-Agentur "team karin burger" in München.
Als freie Journalistin engagiert sie sich leidenschaftlich für die Themen Nachhaltigkeit, Soziales Engagement und Bildung.
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Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2014 - Voll transparent, voll engagiert erschienen.
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