Christoph Quarch

Ach Europa!

Ob Terror, Migration oder Erosion der EU: Die passenden Antworten auf die Herausforderungen der Zeit sind Kultur, Bildung und Geist.

Hier spricht der Philosoph

Europa. Folgt man dem Mythos, war sie eine Königstochter. Was aber ist aus ihr geworden? Den einen ist sie das gelobte Land. Sie jubeln, wenn sie dem Meer entronnen sind und die Gestade von Lesbos oder Kos erreichen. Den anderen ist sie Inbegriff des Bösen. Sie bomben und töten in Europas Städten, wen und wo sie können. Und wieder anderen ist sie egal. Vor allem denen, die sich ihrer Segnungen erfreuen. Die Briten wenden sich ab, die Ungarn und die Polen stehlen sich heimlich davon, die Deutschen wählen AFD.

Die Königstochter trägt noch immer eine Krone. In ihr funkeln Juwelen. Sie sind das, was man ›Europas Werte‹ nennt. Ihrer gedenkt man immer dann, wenn Dunkelheit sich auf Europa legt. Zum Beispiel nach den jüngsten Anschlägen von Brüssel. Da wird man Zeuge, wie die Bundeskanzlerin mit ausdruckslosen Zügen feststellt, der Angriff jener Dschihadisten habe den Werten Europas gegolten. Hm. Welchen Werten eigentlich?
 
Verrat an den Werten.
Solange von »den Werten« nur abstrakt geredet wird, ist jene Rede wertlos. Dann nämlich ist man schnell dabei, die Werte, die man gestern noch für sich in Anspruch nahm (z. B. den Schutz von Asylsuchenden) auf einem türkischen Basar gegen ein bisschen »Sicherheit« zu verschachern. Man nimmt es hinnimmt, dass sich ein Teil der Mitgliedsstaaten der EU von jenen schönen Werten Solidarität und Menschlichkeit aus Angst und Egoismus abwendet und paktiert angesichts des Ausbleibens einer echten »europäischen Lösung« mit einem Staat, der seiner eigenen Bevölkerung einen blutigen Bürgerkrieg aufzwingt und dessen Potentat sich rühmt, tausende seiner Landsleute getötet zu haben. Man sieht: Die Werte des Westens werden nicht nur von Islamisten angegriffen, sondern zu allem Überfluss auch noch von manchen Europäern selbst verraten.
 
Werte sind nur so viel wert, wie diejenigen auf Spiel zu setzen bereit sind, die sie für sich in Anspruch nehmen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schon Friedrich Nietzsche hat das klar gesehen. Und was er ebenfalls erkannte: Als Wert erscheint stets das, was einem in den Kram passt und sich in den Dienst der eignen Ziele stellen lässt. Entsprechend büßt etwas den Wert ein, den es noch gestern hatte, wenn heute andere Interessen dominieren. Was Nietzsche damit sagten wollte: Die Halbwertzeit der Werte richtet sich nach den Interessen derer, die mächtig genug sind, sie durchzusetzen. Sie sind das Produkt der Wertsetzungen und Wertschätzungen der Mächtigen.
 
Von Werten reden, reicht nicht.
Deshalb reicht es nicht, die europäischen Werte bloß zu beschwören. Es geht um das konkrete Leben, um eine Lebensform, von der wir in Europa glauben, dass sie gut ist; ja, dass sie wahr ist. Nicht weil sie unseren Neigungen und Wünschen dienlich ist, sondern weil wir meinen, dass es dem Wesen und der Würde der Menschen entspricht, Tugenden auszubilden und durch die Folge der Generationen weiterzugeben. Tugenden sind mehr als Werte. Tugenden sind praktisch: gelebte Werte, gelebtes Leben; Leben, das die Potenziale des Menschseins entfaltet.

Wir sollten nicht vergessen, dass es in Europa Menschen gab und gibt, die gute Gründe dafür zu ermitteln, warum es eines Menschen würdig ist, im privaten und öffentlichen Leben Tugenden zu kultivieren: andere ungeachtet ihrer »Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt« anzuerkennen (UN-Charta, Art. 2); anderen Asyl zu gewähren (Art 14.1), die Ausübung ihrer Religion zu erlauben (Art. 18), Gerechtigkeit und soziale Sicherheit zu schaffen (Art. 22), die Teilnahme am kulturellen Leben zu ermöglichen (Art. 28). Um nur ein paar der Tugenden zu nennen, die in Europa mal gepredigt, mal verraten und endlich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Geltung gebracht wurden.
 
Was braucht Europa von uns?
Wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann müssen wir – und damit ist nun jede Bürgerin und jeder Bürger angesprochen – jene Tugenden Europas leben und verteidigen. Wir dürfen nicht müde werden, sie im Bewusstsein zu halten. Vor allem dürfen wir nicht müde werden, sie zur praktizieren und unseren Kindern weiterzugeben, sie über unsere Medien zu vermitteln und ihre Schönheit durch unsere Kunst zu feiern. Wir dürfen nicht müde werden, sie durch unsere Umgangsformen zu verinnerlichen. Das Drama aber ist: Wir sind all dessen müde. Wir sind erschöpft und weichgepült von einer medial vermittelten Pseudokultur, die zwischen Empörung und Gleichgültigkeit schwankt, aber kaum je zur Aktion beflügelt. Wir denken

»Was geht mich das an?« oder »Jetzt bin ich dran«, und fragen nicht danach, was eigentlich die Welt von uns erwartet. Wir fragen nicht, was Europa braucht, und was es heißen kann, die Werte unserer Kultur praktisch als Tugenden zur Welt zu bringen. Dabei ist nichts notwendiger als diese Fragen aufzuwerfen und miteinander nach Antworten zu suchen. Kein Mensch kann sich vor Terrorismus schützen. Kein Zaun wir hoch genug, kein Meer so tief sein, dass Flüchtlinge nicht ihren Weg nach Europa fi nden werden. Der Druck wird weiter wachsen. Wir werden ihm nicht standhalten, wenn wir es nicht zuwege bringen, das, was nach Terroranschlägen als »Werte Europas« im Munde geführt wird, in unserem Leben zu verwirklichen: Solidarität und Menschlichkeit im Alltag le ben; andere nicht herunterputzen, sondern ihnen ein Lächeln schenken; ihnen in die Augen schauen, sich für das Gemeinwohl interessieren.
 
Wesen der Freiheit und Verbundenheit.
Vor allem müssen wir uns darüber verständigen, wofür wir wirklich etwas aufs Spiel zu setzen bereit sind: Reichtum und Unterhaltung? Konsumfreiheit und Sonntagsshopping? Wohl kaum. Wenn das alles wäre, wären wir schon jetzt verloren. Nein, es sind doch wohl die Qualitäten unseres Menschseins, die oben genannt wurden: Tugenden, die dem Rechnung tragen, wer wir sind: Wesen der Verbundenheit und Freiheit – Wesen, die sich nur im Miteinander mit den anderen entfalten können und die ihr Bestes dann entwickeln, wenn sie im Zusammenspiel mit anderen agieren können. Sich dessen zu besinnen und sich daran auszurichten, politisch und individuell, ökonomisch und gesellschaftlich: Das ist es, was Europa braucht. Das ist es, was ihr königliches Wesen neu erglänzen lässt.

Wir brauchen eine Renaissance des guten Geistes, der in Europa über die Jahrhunderte zum Vorschein kam. Die einzigen aussichtsreichen Antworten auf die drei großen Herausforderungen der Gegenwart – Terror, Migration und Solidaritätserosion in Europa – sind Bildung, Kultur und Geist. Wir müssen, wie Jaques Delors einst formulierte, Europa eine Seele geben. Und das geht nur, indem wir es zurückbinden an die Wahrheiten, die hier über das Menschsein entdeckt, erprobt und kultiviert wurden.
 
Wir brauchen eine Bildungsoffensive
Wir brauchen eine europaweite Bildungsoffensive, die unseren jungen Leuten ebenso wie den zu uns gekommenen Migranten nicht nur theoretisch unsere Werte beibringt, sondern praktisch unsere Tugenden vermittelt. Ein europaweiter Bürgerdienst könnte das Mittel der Wahl sein: als praktisches Jahr im Dienste unserer Werte, die auf diese Weise als Tugenden eingeübt werden; als Schule des Gemeinsinns, in sozialen Einrichtungen, ökologischen Initiativen, politischen Projekten.

Immer mehr Sicherheitsdienste und Waffen werden uns nicht stark machen. Politische und soziale Tugenden aber durchaus. Europas Kraft und Schönheit liegen in ihrer Akzeptanz der Vielfalt, ihrer Liebe zum Leben und ihrer Menschenfreundlichkeit. Dass die Königstochter wieder erstrahlen kann, ist die Aufgabe vor der ein jeder Europäer, eine jede Europäerin, in dieser Stunde stehen.

Petition zur Einführung eines Europäischen Bürgerdienstes
Text: Christoph Quarch

Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2016 - Zukunft gestalten erschienen.

Weitere Artikel von Christoph Quarch:

Zeit - Ressource oder Kostenfaktor
Christoph Quarchs philosophischer Blick auf Reformstau und notwendige Investitionen in Infrastruktur und Innovationen
Diese Woche wird nach fünfzehn Wochen Vollsperrung der Mont-Blanc-Tunnel wieder freigegeben. Damit ist rechtzeitig zum Winterbeginn eine der wichtigsten Alpenverbindungen wieder passierbar. Aber das wird sich bald schon wieder ändern, denn die Sanierungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen.


Großzügigkeit und Wohlwollen
Christoph Quarch wünscht sich einen Relaunch des Nikolaus-Festes
Alle Jahre wieder... kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch der Nikolaus. Am 6. Dezember ist es wieder so weit. Vielerorts finden die Kinder dann in ihren eigens vor der Tür deponierten Schuhen kleine Geschenke, und in den Kitas und Kindergärten tummeln sich zumeist rot kostümierte, bärtige Gestalten, die den Kids kleine Präsente überreichen. Was es ursprünglich mit dem Nikolausfest auf sich hat, wissen allerdings nur noch die wenigsten.


"Du sollst konsumieren!"
Für Christoph Quarch ist der Black Friday ein schwarzer Tag
Wenn der Dezember naht, beginnt die schwarze Zeit. Nein, nicht von den trüben ersten Wintertage ist die Rede, sondern von der Black Week, der Woche vor dem Black Friday, in der all überall die Preise purzeln und die Konsumenten darauf hoffen, rechtzeitig vor Weihnachten noch das eine oder andere Schnäppchen zu ergattern.


Selbstgewählte Einsamkeit
Christoph Quarch analysiert den Trend und empfiehlt, Komfortzonen zu verlassen
In dieser Woche sprechen wir über das Thema Einsamkeit. Ein Aspekt, der dabei noch nicht so viel Beachtung gefunden hat, ist die selbstgewählte Einsamkeit bzw. das selbstgewählte Allein-Sein. Und das liegt im Trend: Jüngsten Erhebungen zufolge legen vor allem ältere Frauen immer weniger Wert auf ein Leben zu zweit.


Wenn Klimaschutz nur der Ökonomie schadet...
Christoph Quarchs Überlegungen zur Generationengerechtigkeit
In Belém tagt seit Montag die Weltklimakonferenz COP30. Bei ihren Eröffnungsreden waren sich alle Sprecher einig: Unternimmt die Weltgemeinschaft nicht mehr als bisher gegen den Klimawandel, gerät unser Überleben auf diesem Planeten immer mehr in Gefahr. Ob die angereisten Vertreter und Repräsentanten aus über 190 Ländern zu konstruktiven Ergebnissen kommen, ist allerdings fraglich.




     
        
Cover des aktuellen Hefts

forum future economy

forum Nachhaltig Wirtschaften heißt jetzt forum future economy.

  • Zukunft bauen
  • Frieden kultivieren
  • Moor rockt!
Weiterlesen...
Kaufen...
Abonnieren...
17
DEZ
2025
Lunch & Learn: Geschichten & Inspirationen zum Mitmachen
Impulse: Katrin Hansmeier, Basil Merk, Tina Teucher
online
17
JAN
2026
INNATEX
Internationale Fachmesse für nachhaltige Textilien
65719 Hofheim-Wallau
05
FEB
2026
Konferenz des guten Wirtschaftens 2026
Veränderung willkommen? Wie Wandel gelingen kann
90475 Nürnberg
Alle Veranstaltungen...
Anzeige

Professionelle Klimabilanz, einfach selbst gemacht

Einfache Klimabilanzierung und glaubhafte Nachhaltigkeitskommunikation gemäß GHG-Protocol

Digitalisierung

Smartphones und Philosophie
Werden Handy-Verbote in Schulen und Altersgrenze bei Social Media Nutzung die Probleme lösen?
B.A.U.M. Insights
Hier könnte Ihre Werbung stehen! Gerne unterbreiten wir Ihnen ein Angebot

Jetzt auf forum:

FNG-Siegel: 25 Fonds der Erste Asset Management mit Bestnote ausgezeichnet

Vom Öko-Pionier zum chinesischen Familienalltag: SODASAN und Stakunft Home gestalten nachhaltiges Wohnen

So klappt's mit den Weihnachtsgeschenken – ohne Stress und Schulden

Deutschland hat kein Geldproblem, Deutschland hat ein Skill-Problem

Zuversicht und Inspiration schenken

Landesinnungsverband des Maler- und Lackiererhandwerks Berlin-Brandenburg und Zentek halten Kunststoffeimer im Kreislauf

Ab 14.12.2025 gilt der neue Fahrplan der Deutschen Bahn für 2026

Wie verbessern Skibrillen die Sicht und Sicherheit auf den Pisten

  • World Future Council. Stimme zukünftiger Generationen
  • Engagement Global gGmbH
  • BAUM e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften
  • NOW Partners Foundation
  • Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. (BNW)
  • Futouris - Tourismus. Gemeinsam. Zukunftsfähig
  • toom Baumarkt GmbH
  • TÜV SÜD Akademie
  • Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG
  • circulee GmbH
  • Global Nature Fund (GNF)
  • Protect the Planet. Gesellschaft für ökologischen Aufbruch gGmbH
  • DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen