Gesellschaft | Politik, 01.03.2025
Lehren aus der Pandemie
Über Grundrechte, Wissenschaft und ein besseres Krisenmanagement
Wer denkt denn jetzt noch an Corona? Beinahe wäre das Thema in der Schublade verschwunden. Die Ampelregierung konnte sich auch in diesem Punkt nicht einigen: Sollte die Coronapandemie mit ihren Abstandsregeln, Bundesnotbremsen, Impfdebatten und Maskenpflichten in einem Bürgerdialog aufgearbeitet werden – so wie es die Österreicher im Kleinen erprobt haben?
Zwei aktuelle Umfragen der ZEIT und des NDR zeigen: 55 bis 65 Prozent der Deutschen wünschen sich eine gründliche Aufarbeitung der Pandemiepolitik. Auch oder gerade jetzt, zum 5. Jahrestag des Ausbruchs der Pandemie. Der Publizist Christian Felber fordert eine grundlegende Stärkung der Demokratie und besseren Grundrechtsschutz für künftige Krisen. Ein Gespräch über das Fundament der Demokratie, wissenschaftliche Verantwortung und eine neue Diskurskultur.
Stabile Grundrechte sind das zentrale Erkennungsmerkmal und historisches Alleinstellungsmerkmal von Demokratien. Sie wurden in jahrhundertelangen Kämpfen errungen, proklamiert und in Verfassungen verankert. Doch in der Covid-19-Pandemie wurden sie in einem nie dagewesenen Ausmaß eingeschränkt. Plötzlich wurden 25 Grundrechte verletzt oder beschnitten, darunter die Menschenwürde, das Recht auf Bildung oder das Recht auf Unversehrtheit.
Viele dieser Eingriffe erfolgten ohne wissenschaftliche Evidenz und verursachten erhebliche Kollateralschäden. Mein Anliegen ist es, aus diesen Erfahrungen zu lernen und Mechanismen zu schaffen, die Grundrechte in zukünftigen Krisenzeiten, die bestimmt wieder kommen werden, besser schützen.
Sie kritisieren, dass wissenschaftliche Unsicherheiten während der Pandemie nicht offen kommuniziert wurden. Warum ist das problematisch?
Ein Beispiel: Virologe Christian Drosten hat Covid-19 als 16-mal tödlicher als die Grippe eingestuft, während sein Charité-Kollege Stephan Willich, zuständig für Epidemiologie, die Gefährlichkeit nur „etwas über" der Grippe sah und vor Lockdowns klar warnte. Doch diese Differenzen wurden in den Medien kaum thematisiert.
Wissenschaft lebt vom Diskurs, aber dieser wurde in der Pandemie oft unterdrückt. Eine fundierte Entscheidungsfindung setzt eine breite Debatte und eine Abwägung aller Einschätzungen und Erkenntnisse voraus. Eine demokratische Gesellschaft darf wissenschaftliche Debatten nicht durch eine Einheitsmeinung und eine Rhetorik der Alternativlosigkeit ersetzen.
Welche Lehren müssen aus dieser Zeit gezogen werden?
Ich sehe drei zentrale Handlungsfelder: Erstens muss die Demokratie gestärkt werden. Es darf keine Notstandsgesetze geben, und einige Grundrechte sollten absolut werden, etwa das Recht auf Unversehrtheit. Zweitens braucht es eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung für Maßnahmen. Eine unabhängige Instanz muss vor jeder Krise bewerten, welche Maßnahmen wirklich erforderlich sind, auf Basis wissenschaftlicher Evidenz und einer verpflichtenden Folgenabschätzung.
Und drittens brauchen wir eine realistischere Wissenschaftskommunikation. Wissenschaft ist kein Wahrheitsverkünder, sondern ein offener und im Regelfall kontroverser Prozess, bei dem Unsicherheiten und unterschiedliche Positionen transparent gemacht werden müssen. Der Instrumentalisierung genehmer Einzelmeinungen muss vorgebeugt und Schlüsselinstitutionen wie das Robert-Koch- oder das Paul-Ehrlich-Institut (RKI / PEI) sollten unabhängiger werden.
Sie plädieren auch für eine Reform des Krisenmanagements. Wie könnte diese aussehen?
Ich schlage einen demokratischen Krisenrat vor, in dem Vertreter aller gesellschaftlichen Gruppen sitzen und der ein Vetorecht gegen Grundrechtseinschränkungen hat. Generell sollte die Bevölkerung stärker eingebunden werden und die Regierung mehr auf Empfehlungen, Eigenverantwortung und freiwillige Solidarität setzen.
Der Blick nach Schweden zeigt, dass es anders ging und dass das auch besser war: Ohne Lockdowns war die Übersterblichkeit dort geringer als in Deutschland. (Untersuchungsausschüsse in den USA und Kanada haben ähnliche Ergebnisse zutage gebracht.) In Slowenien hat sich die (sozialdemokratische) Justizministerin nach einem Urteil des Verfassungsgerichts, das viele Corona-Gesetze nachträglich aufhob, bei der Bevölkerung entschuldigt. Die Regierung zahlte alle Covid-Strafen in Höhe von 5,7 Millionen Euro zurück. Diese Beispiele zeigen, dass es Alternativen zu harten Grundrechtseinschränkungen gibt.
Die Polarisierung in der Gesellschaft hat in der Pandemie stark zugenommen. Welche Rolle spielten Medien und Politik dabei?
Der öffentliche Diskurs wurde zunehmend in einen Kampf zwischen „Maßnahmenbefürwortern" und „Maßnahmengegnern" polarisiert, was den Blick auf andere Maßnahmen, die keine Grundrechte einschränkten, völlig verstellt hat. Menschen mit kritischen Fragen wurden als „Verschwörungstheoretiker" oder „Corona-Leugner" diffamiert.
Die neuartigen „Faktenchecker" haben sehr einseitig die Aussagen von Regierungskritiker*innen geprüft. Eine gesunde Demokratie braucht jedoch einen respektvollen Austausch, keine Cancel Culture. Medien müssen in Krisenzeiten differenzieren, statt zu polarisieren. Ein wertschätzender Diskurs mit Fokus auf Zuhören und Respekt vor anderen Meinungen ist essenziell für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Bundesregierung hat sich bisher nicht auf eine umfassende Aufarbeitung geeinigt. Wie bewerten Sie das?
Das ist eine vertane Chance. Die Umfragen von ZEIT und NDR zeigen, dass ein Großteil der Deutschen eine bessere Aufarbeitung wünscht. Andere Länder wie Österreich haben in klugen Formaten Bürger einbezogen und damit positive Erfahrungen gemacht. Deutschland sollte dem Beispiel folgen und sowohl eine wissenschaftliche Analyse als auch einen gesellschaftlichen Dialog initiieren. Nur so können wir aus Fehlern lernen und die Demokratie für kommende Krisen wappnen.
Welche konkreten Reformen schlagen Sie vor?
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Neben dem demokratischen Krisenrat halte ich die Erweiterung bestehender und auch die Einführung neuer Grundrechte für notwendig. Das Zensurverbot sollte auf die Nachzensur in Sozialen Medien ausgeweitet werden, das Diskriminierungsverbot auf den Gesundheits- und Medikationsstatus, und die Genfer Flüchtlingskonvention auf Klima- und Umweltflüchtlinge.
Zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten im UN-Sozialpakt könnten ökologische Menschenrechte ergänzt werden, das wäre am Puls der Zeit – und der bessere Weg als ein Klimanotstand, der erneut die Grundrechte bedroht. Umgekehrt muss das Eigentumsrecht endlich so begrenzt werden, dass alle davon profitieren können, und nicht wenige Superreiche die Medien beherrschen und den sozialen Zusammenhalt gefährden.
Aus der Pandemie müssen die richtigen Schlüsse gezogen und die Demokratie krisenfester gemacht werden. Ohne eine offene Debatte und konkrete Reformen riskieren wir, in künftigen Krisen erneut Freiheitsrechte und den sozialen Zusammenhalt leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
In einer Zeit der zunehmenden Polarisierung und der Verweigerung von Diskursen zwischen gegnerischen Lagern, ist es dringend notwendig, niemanden zurückzulassen, eine offenere Diskussionskultur zu schaffen und keine „Outsider"- Gruppen zu erzeugen, denen auch noch Grundrechte verweigert werden. In einer Demokratie müssen alle Meinungen, die nicht dem Grundgesetz widersprechen, gesagt und gehört werden dürfen. Lob der Grundrechte ist mein Beitrag zu diesem dringend notwendigen Diskurs.
Herr Felber, wir danken für das Gespräch.
Mag. Christian Felber ist Buchautor, Hochschullehrer und Initiator der Genossenschaft für Gemeinwohl und der Gemeinwohl-Ökonomie. Bestseller: „This is not economy", „Ethischer Welthandel" und „Die Gemeinwohl-Ökonomie". „Geld. Die neuen Spielregeln" wurde als Wirtschaftsbuch des Jahres 2014 ausgezeichnet, die „Gemeinwohl-Ökonomie" schaffte es 2021 auf die SPIEGEL-Bestsellerliste.
Dieser Artikel ist in forum 02/2025 - Save the Ocean erschienen.
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