Umwelt | Wasser & Boden, 01.03.2025
Der fremde Planet
Über die Bedeutung der Polarmeere und der Tiefsee
Prof. Dr. Antje Boetius leitet seit 2017 das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Im Frühjahr 2025 wird sie als Präsidentin an das Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) in Kalifornien wechseln, das sich unter anderem der Erforschung der Tiefsee widmet. Dr. Alexis Katechakis sprach mit ihr über die unglaubliche Bedeutung der Polarmeere und der Tiefsee für unser Leben.

Frau Boetius, welche Bedeutung haben Arktis, Antarktis und die Tiefsee für die Menschheit?
Die Arktis, die Antarktis und die Tiefsee zusammen machen den größten Teil des belebten Raumes unseres Planeten aus. Die Polargebiete und der Ozean regulieren unser Klima, indem sie Wärme und Kälte ausgleichen. Dazu stellt die Tiefsee einen gigantischen Wärme- und Kohlenstoffspeicher dar und kann so das Klima langfristig stabilisieren. Die Arktis ist unser empfindlichstes Frühwarnsystem für das Klima der Erde, denn sie erwärmt sich schneller als alle anderen Regionen, in den letzten 40 Jahren vier Mal so schnell wie der globale Durchschnitt. Der antarktische Kontinent trägt das meiste Süßwasser der Erde, gefroren in einer mehrere Kilometer dicken Eisschicht. Die Tiefsee enthält die größte Lebensvielfalt der Erde und damit einen gigantischen Schatz unbekannter genetischer Information. Eine Investition in den Schutz dieser Regionen ist auch eine Investition in die Zukunft der Menschheit.
Was wissen wir bereits darüber, wo betreten wir Neuland?
90 Prozent des Lebensraums der Erde ist ozeanisch. Geschätzt sind noch gut eine Million unbekannter Tierarten zu beschreiben und eine Milliarde unbekannter Typen von Einzellern. Auch in Bezug auf die Vermessung seiner Landschaften, vor allem der Gebirge und Gräben, stehen wir noch am Anfang. Daher ist der Ozean und vor allem seine Tiefsee noch immer wie ein fremder Planet im Planeten Erde.
Was macht die Erforschung so schwierig?
Wir müssen mit Kälte und Eis sowie mit großem Druck umgehen. Das braucht spezielle Instrumente und Erfahrung. Schiffe, Flugzeuge und Geräte müssen extra für ihren Einsatz in der Kälte entwickelt werden und man benötigt Fachpersonal für ihren Betrieb. Das ist eine recht teure Forschung, eher in Richtung Raumfahrtmission.
Wir konnten nachweisen, dass das veränderte Nahrungsangebot im arktischen Ozean das Vorkommen der Tiefsee-Lebewesen bis in über vier Kilometer Tiefe verändert.
Was hat Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit bisher am meisten überrascht?
Die unglaubliche Vielfalt des Lebens, auch in den extremen Gegenden der Erde. Oft erwartet man, dass bei hohem Druck, Dunkelheit, großer Kälte, ohne Sonnenlicht und kaum Energie Leben nicht möglich ist. Doch immer wieder stoßen wir auf unerforschte Lebensformen, die sich auf erstaunliche Weise angepasst haben.
Der Ozean ist der größte Klimapuffer, den wir haben. Er hat bereits 25 Prozent der CO2-Emissionen und über 90 Prozent der Wärmeenergie aufgenommen, die wir seit der industriellen Revolution verursacht haben. Welche Folgen hat dies für den Lebensraum Ozean?
Die Klimakrise verändert die Lebensräume im Ozean massiv. Es gibt immer mehr Hitzewellen im Meer. Das beeinflusst die Gesundheit von Larven und Eiern der Meerestiere, zum Beispiel der Fische, die Zusammensetzung der Algen als Hauptnahrung an der Basis des Nahrungsnetzes oder den Zustand der Korallenriffe. Wärme und Einleitung von Nährstoffen vom Land führen darüber hinaus zu abnehmender Sauerstoffkonzentration im Meer. Auch die steigenden CO2-Gehalte, die den Ozean versauern, sind bis in die Tiefe messbar. Wir konnten nachweisen, dass das veränderte Nahrungsangebot im arktischen Ozean das Vorkommen der Tiefsee-Lebewesen bis in über vier Kilometer Tiefe verändert. Dort wo das Meereis durch die Erwärmung von Atmosphäre und Ozean zurückgeht, verändern sich das Algenwachstum und damit das Nahrungsnetz vom Krill bis zu den Meeressäugern und Vögeln. Aber auch andere wichtige Lebensgemeinschaften wie Seegraswiesen oder Algenwälder sind bedroht. Die vielleicht schlimmste Prognose: Bis Ende des Jahrhunderts könnten über 90 Prozent der Korallenriffe geschädigt oder zerstört sein. Das ist ein Drama, denn sehr viele Meereslebewesen und Menschen hängen von diesen Lebensräumen ab.
Welche Folgen hat es für uns, wenn der Klimapuffer aufgebraucht ist?
Je wärmer der Ozean wird, umso weniger CO2 kann er speichern. Durch das Schmelzen des kontinentalen Eises von Grönland und der Antarktis wird der Meeresspiegel immer schneller steigen und das ist für die dicht bevölkerten Küstenregionen und Megastädte am Meer ein Problem – und damit für uns alle.Wie schätzen Sie Carbon Capture and Storage (CCS), das heißt das Verpressen von CO2 im Meeresboden, ein?
Es ist klar, dass wir nicht schnell genug die CO2-Emissionen senken werden, um unter 1,5 Grad Celsius Erderwärmung in diesem Jahrhundert zu bleiben. Daher gibt es einen Fokus darauf, wie wir bis zum vollständigen Ausbau von regenerativer Energieversorgung Emissionen zentral vermeiden und auch CO2 aus der Atmosphäre zurückholen. An sich kann das die Natur am besten und günstigsten, wie Urwälder und Moore, Mangroven, Salz- und Seegraswiesen und Algenwälder. Aber deren Fläche reduzieren wir weiter, und es dauert lange sie zurückzugewinnen. Daher gibt es auch Vorschläge zu technischen Lösungen. Die Speicherung von CO2 in erschöpften Gasfeldern im Meeresboden ist eine Technologie, die viel Potenzial, aber auch Risiken birgt. Lecks sind schwer zu detektieren und zu kontrollieren, und CCS ist auch recht teuer. Wir müssten erheblich höhere Preise für Kohle, Öl und Gas vereinbaren, damit sie sich trägt. Auch andere Formen von CO2-Abscheidung und -Speicherung, zum Beispiel das Recyclen von CO2 in grünes Methanol mit Wasserstoff, werden diskutiert und könnten vielversprechender sein.
Was die Risiken der CO2-Speicherung im Meer angeht, hat unsere Forschung gezeigt, dass akut erhöhte CO2-Konzentrationen im Sediment, wie zum Beispiel durch ein Leck, lokal die dort lebenden Organismen und mikrobiellen Gemeinschaften verändern. Manche Lebewesen sind da empfindlich, die Stachelhäuter wie Seegurken und Seesterne zum Beispiel, andere weniger. Ich plädiere daher für eine umfassende und verantwortungsvolle Erforschung der CCS-Technologie. Es ist essenziell, die Balance zwischen dem Nutzen für den Klimaschutz und den potenziellen Schäden für den Ozean zu finden. Dabei ist zu beachten, dass es auch um die ökonomischen und sozialen Auswirkungen einer Technologie geht. Alles, was Energie verteuert, wird in der Bevölkerung sehr kritisch gesehen. Es braucht also nicht nur Forschung zur Wirkung auf Meerestiere, sondern auch Forschung, wie eine Verteuerung der Energie so gestaltet werden kann, dass sie fair verteilt wird.
Wie bewerten Sie neue Begehrlichkeiten im Hinblick auf die Verwertung von Tiefsee-Ressourcen wie Manganknollen, Kobaltkrusten oder Massivsulfiden?
In den letzten Jahren konnten wir mit Studien zeigen, dass es wegen der zu erwartenden gigantischen toxischen Abfälle bei der Metallextraktion im Tiefsee-Bergbau hohe Risiken gibt. Die Tiefsee-Ökosysteme könnten langfristig gestört werden. Es fehlt bisher an einheitlichen ökologischen und sozioökonomischen Standards, um zu bewerten, wie Schäden am Meeresboden und für die Lebensvielfalt ausgeglichen werden könnten. Ein international organisierter Meeresschutz und klare Regeln für die Hohe See sind genauso wichtig wie lokales Wissen und Entscheidungskompetenz.
Was halten Sie von der Nutzung neuer Seewege wie der Nordostpassage in der Arktis?
Ich sehe da vor allem ein Risiko. Wir haben noch nicht einmal die aktuell viel befahrenen Routen im Griff. Unfälle könnten riesige Meeres- und Küstenregionen verschmutzen. Mich besorgt derzeit besonders das Problem der sogenannten Schattenflotten durch die Ostsee, Nordsee und über die Weltmeere. Es geht um zumeist alte Tanker und Transportschiffe in schlechtem Zustand, oft kaum versichert, die dazu da sind, Handelssanktionen zu umgehen, und die immer häufiger dafür verantwortlich gemacht werden, Schäden an untermeerischer Infrastruktur zu verursachen. Wir sind bisher gigantischen Schäden in Nord- und Ostsee entkommen, anderswo wie im Schwarzen Meer gibt es schon Katastrophen. Je weniger ein Meeresgebiet geschützt ist, zum Beispiel mit Küstenwache, Ölbekämpfungsschiffen, Rettungshäfen, umso gefährlicher ist steigender Schiffsverkehr. Natürlich eröffnen sich wirtschaftliche Möglichkeiten durch kürzere Handelsrouten zwischen Europa und Asien, aber diese Chancen dürfen nicht auf Kosten der empfindlichen arktischen Ökosysteme gehen. Ein Unfall oder eine Havarie in diesen abgelegenen Gebieten könnte katastrophale Folgen haben. Ich halte es daher für unverzichtbar, dass wir die Nutzung solcher Routen streng regulieren, internationale Abkommen schließen und vor allem sicherstellen, dass der Schutz der Arktis oberste Priorität hat. Wir müssen die Balance zwischen Entwicklung und Umweltschutz bewahren.Was ist Ihr dringlichster Wunsch, was ist Ihre Vision für unseren zukünftigen Umgang mit dem Ozean?
Meine Vision für die Zukunft ist eine Welt, in der wir unsere Mitwelt einschließlich des Ozeans als Netzwerk des Lebens anerkennen, in dem wir ein Teil sind. Unsere Entwicklung hängt davon ab, einen nachhaltigen, produktiven Umgang zu organisieren. Das bedeutet zum Beispiel, die Verschmutzung zu stoppen, die Überfischung zu beenden, den Klimawandel zu bekämpfen.
Was braucht es dafür?
Gerade beim Klima- und Naturschutz bedarf es viel mehr internationaler Zusammenarbeit. Es braucht die richtigen sozioökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, damit es uns Menschen leicht gemacht wird, uns am nachhaltigen Umgang zu beteiligen, und damit die Ökosysteme an Land und im Meer renaturiert, restauriert und nachhaltig genutzt werden können. Der wichtigste Schritt ist, den Ausbau regenerativer Energien noch schneller voranzutreiben, um die Abhängigkeit von Kohle, Öl und langfristig auch Gas zu verringern. Es ist wichtig, dass Meeresschutz auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene zusammengedacht wird, dann kann der Ozean Teil der Lösung sein für eine nachhaltige Zukunft. Auch Bildung, Forschung und Innovation müssen dafür fortwährend gestärkt werden.
Was sind Ihre Empfehlungen für eine nationale Meeresstrategie der Bundesregierung?
Es geht um Zusammenarbeit auf allen Ebenen, zwischen Bund und Ländern, zwischen den verschiedenen Ministerien und mit Forschung, Naturschutz, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Wir haben gerade in Deutschland und Europa große Chancen, unsere Entwicklung in einem ökonomischen, ökologischen und sozialen Gleichklang zu begreifen, dazu ist mit dem europäischen Green Deal ein Anfang gemacht. Ich wünsche mir politisches Handeln, das sich auf die großen Stellschrauben der Transformation bezieht und aufhört, Nebelkerzen zu werfen, wie in den Diskussionen um Wärmepumpen, Tempolimit und Spritpreise. Es wird zu oft suggeriert, wenn wir klimafreundlicher leben, dann geht das nur über Verzicht. Von dem großen Gewinn wird gar nicht gesprochen. Aber für mich und für viele andere Menschen wäre die Konsequenz des Nichthandelns der größte Verzicht auf eine lebensfreundliche Zukunft.
Wie kann es gelingen, den Menschen die Bedeutung und die Faszination des Ozeans nahezubringen, auch im Binnenland?
Es gibt so viele Menschen, die mehr wissen wollen über den Ozean und sich für Forschung dazu interessieren. Dabei geht es nicht nur um Wissen, sondern auch um Empathie für ferne Lebensräume. Darum geht es doch bei uns allen: fühlen und wissen zu können, dass wir Chancen haben, mit unserem Handeln die Umstände um uns herum zu verbessern, und das auch für die Meere. Dazu gehört auch, darüber zu sprechen, was uns schon gelungen ist. Es gibt ja viele Beispiele, wie den weltweiten Schutz der Wale oder die viel saubereren Flüsse und Meere als zu meiner Kindheit. Wichtig scheint mir genau das: klare Kommunikation zu Risiken und Lösungen und mehr Beispiele dafür, dass wir alle Chancen haben, voranzukommen mit einem guten Umgang mit dem Ozean.
Frau Boetius, ich danke für das Gespräch und wünsche viel Erfolg bei Ihren neuen Aufgaben!
Dieser Artikel ist in forum 02/2025 - Save the Ocean erschienen.
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