Calle Fuhr

Revolution!

Jede Kampagne, die 3,5 Prozent der Bürger hinter sich hatte und gewaltfrei war, war erfolgreich

Eine Wissenschaftlerin will den Erfolg gewalttätiger Revolutionen beweisen – und beweist zu ihrer Überraschung das Gegenteil.
 
© Mohamed_hassan, pixabay.comEricas Geschichte beginnt im Jahr 2005. Damals arbeitete sie an ihrer Doktorarbeit in Politikwissenschaften. Das Thema: Wie wird Gewalt eingesetzt, um politischen Wandel zu erreichen? Sie war keine Befürworterin von Gewalt, aber sie wollte wissen, wie viel Gewalt es denn genau braucht, um zum Beispiel eine Regierung zu stürzen. Müssen Menschen sterben? Reicht es, ein paar Autoreifen aufzustechen? Was braucht es?
 
Der Workshop, der alles änderte
Im Zuge ihrer Arbeit erhielt Erica eine Einladung für einen Workshop, organisiert vom "Zentrum für Gewaltfreiheit". Im Vorhinein bekam sie eine Leseliste für Lektüre, die dafür argumentierte, dass Gewaltfreiheit das einzig legitime Mittel ist, um Veränderung zu erwirken. Erica war skeptisch und als sie sich auf dem Workshop einfand, war sie auch gleich die Erste, die sich meldete und sagte: "Danke für die Leseliste, sehr inspirierend. Aber für jeden erfolgreichen Fall einer gewaltfreien Protestbewegung, den ihr hier erwähnt, kann ich mindestens einen Gescheiterten nennen. Mir fallen auch genug Beispiele ein, in denen Gewalt wunderbar funktioniert hat, wie bei der Algerischen Revolution oder bei der Französischen oder der Russischen. Vielleicht funktioniert gewaltfreier Widerstand bei kleineren politischen Anliegen aber, bei bestem Willen, es kann nicht funktionieren, wenn du versuchst, einen Diktator zu stürzen, oder generell einem rücksichtslosen Gegner gegenüberstehst."
 
Erica fand keine neuen Freunde auf dem Workshop. Nach der Veranstaltung kam allerdings eine Frau auf sie zu und sagte zu ihr: "Wenn du wirklich Recht hast, dass gewaltvoller Widerstand effektiver ist als gewaltfreier, dann beweise es."
 
Erica dachte sich, na gut, das wird nicht schwer herauszufinden sein. Also fing sie an zu recherchieren und fand – nichts. Da war keine einzige wissenschaftliche Arbeit. Gleichzeitig dachte sie sich: Naja, damit die Hippies mal einen Realitätscheck bekommen, sollte das wohl mal jemand machen. Deswegen sammelte sie in den nächsten zwei Jahren Daten zu allen großen gewaltvollen und gewaltlosen Kampagnen der letzten hundert Jahre, die eine Regierung stürzen wollten. Die Daten deckten die ganze Welt ab und bestanden aus jeder bekannten Kampagne, die aus mindestens tausend Teilnehmern bestand.
 
Die Überraschung
Daraufhin analysierte sie die Daten und kam zu folgendem Ergebnis: Von 1900 bis 2006 waren gewaltfreie Kampagnen weltweit doppelt so erfolgreich wie gewaltvolle. Tendenz steigend. Das traf auch zu, wenn die Bedingungen extrem unterdrückend und autoritär waren. Erica war daraufhin irritiert. Die Daten sprachen ihre eigene Sprache, daran war nicht zu rütteln, aber warum zur Hölle sollte zum Beispiel ein Diktator einfach zurücktreten, nur weil ein paar Menschen friedlich protestieren?
 
Erica analysierte ihre Daten ein weiteres Mal und noch einmal und noch einmal, und schließlich fiel ihr etwas auf: Keine einzige Protestbewegung war gescheitert, wenn sie die aktive und aufrechte Unterstützung von 3,5 Prozent der Bevölkerung hatte. Und jede Bewegung, die mehr als 3,5 Prozent Unterstützung hatte, war gewaltfrei gewesen. Also war jede Kampagne erfolgreich, die 3,5 Prozent der Bevölkerung hinter sich hatte und gewaltfrei war. Erneut stellte sich ihr die Frage: Warum? Warum 3,5 Prozent?
 
Die magischen 3,5 Prozent
Die Antwort darauf ist explosiv und banal: Weil wir miteinander vernetzt sind. Wenn eine Bewegung es schafft, 3,5 Prozent der Bevölkerung zu vereinen, dann ist es statistisch gesehen unumgänglich, dass die Bewegung persönliche Verbindungen hat zu Sicherheitskräften, Beamten, Politikern, Medien und Unternehmern – also zu Menschen, die noch mehr Macht haben. Diese Menschen werden ihre Loyalität gegenüber einer Regierung hinterfragen, sie werden aufgrund einer persönlichen Verbindung vielleicht selbst Teil der Bewegung.
 
Diese Form der persönlichen Betroffenheit ist es, die das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Beispiel dafür: Als in Serbien klar wurde, dass Hunderttausende nach Belgrad strömten, um Milosevic aufzufordern, sein Amt niederzulegen, haben Polizisten den Befehl ignoriert, auf Demonstranten zu schießen. Auf die Frage nach dem Warum, antwortete einer: „Ich wusste, dass meine Kinder in der Menge sind." Das ist natürlich ein Extrem-Beispiel, aber jeder kennt diesen Effekt auch auf einer kleineren Skala, den Effekt, wenn sich bei einem Menschen die Perspektive dreht. Und Ericas wissenschaftliche Arbeit hat gezeigt, dass dies auf gesellschaftlicher Ebene eintritt, wenn 3,5 Prozent der Bevölkerung auf die Straßen gehen.

Ein kleiner Workshop war der Auslöser dafür, dass sich das gesamte Weltbild der Wissenschaftlerin Erica Chenoweth mal ebenso auf den Kopf stellte, und sie fragte sich: Wie konnte es sein, dass sie einfach intuitiv davon ausgegangen war, dass Gewalt funktioniert? Warum hatte sie geglaubt, dass der Weg aus gewissen Situationen eben nur durch Gewalt möglich ist? Ihre eigene Antwort war: Weil sie Gewalt mit Mut verwechselt hatte. Weil ihr von klein auf beigebracht wurde, dass wir uns Geschichte anhand von Kriegen erzählen.
 
Was wäre, wenn …
Seitdem fragt sich Erica Chenoweth, wie unsere Welt aussehen würde, wenn wir aufhören würden gegeneinander zu arbeiten und stattdessen darauf vertrauen, dass unsere persönlichen Beziehungen bindend sind. Was wäre, sagt sie, wenn wir anfangen würden, aneinander zu glauben? Was wäre, wenn Ghandi und Martin Luther King die Basis unseres Geschichtsunterrichts wären? Was, wenn es Allgemeinwissen wäre, dass große Gruppen von Menschen, die auf Gewaltfreiheit setzen, Erfolg haben?
 
Wir wissen es nicht. Aber Frau Chenoweth hat dennoch eine Botschaft für uns: Ermutigt eure Kinder, über das Erbe der gewaltfreien Bewegungen zu lernen. Erkundet das Potenzial der Macht des Volkes. Denn egal ob in der nahen oder der fernen Zukunft, gewaltfreier Widerstand tendiert dazu, Gesellschaften zu hinterlassen, die freier sind, friedvoller und gerechter.
Autor: Calle Fuhr

Der Text erschien ursprünglich im Magazin „
brennstoff", Ausgabe Januar 23. Mit freundlicher Genehmigung.


     
        
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