Ökonomie anders denken

Ein Grundlagentext zur "Großen Transformation"

In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wird seit geraumer Zeit des Öfteren über die „Große Transformation" gesprochen. Was muss eine solche Transformation beinhalten und warum?
 
Die Ökonomie kann von der Natur und ihrem Kreislaufprinzip viel lernen. © kareni, pixabay.comWenn es um die „Große Transformation" geht, überwiegen besorgte Stimmen, Unsicherheit und Angst vor Kontrollverlust. Konkret geht es um folgende Themen, die es nach überwiegender Auffassung anzugehen gilt:
  • Künstliche Intelligenz, wobei der Schwerpunkt auf den möglichen (positiven und negativen) Auswirkungen auf die Menschheit gerichtet ist.

  • Klimawandel, wobei alle renommierten Institute und Wissenschaftler die für die Menschen und die Natur schlimmen Auswirkungen hervorheben. Ebenso werden als Nebenwirkungen die Zunahme von Migrationsströmen und die steigende Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen genannt.

  • Etwas weniger intensiv werden weitere problematische Entwicklungen betont, wie die zunehmende Ungleichheit von Vermögen und Einkommen auf nationaler und internationaler Ebene; eine ungünstige demografische Entwicklung in den westlichen Industrienationen; mögliche ungünstige Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte.
Daraus folgt zwingend die Notwendigkeit einer radikal andersartigen Denkweise. Die fundamentale Schwierigkeit liegt nun darin, dass kulturell verfestigte Traditionen und Sichtweisen dem entgegenstehen.
 
Der Marktmechanismus und seine Schwächen
Unbedingt erforderlich ist eine konsequente Hinterfragung gängiger Dogmen und Denkweisen. Dazu muss grundsätzlich und umfassend eine kritische Reflexion als Grundlage dienen – dies gilt selbstverständlich ebenso für die Makro- und Mikroökonomie! In der derzeitig vorherrschenden Theorie und Praxis der Ökonomie stellt dies eher die Ausnahme dar. Der Verfasser dieses Beitrags kann nur ein paar wenige dieser Fehleinschätzungen kritisch beleuchten.
 
In der Makroökonomie wird der Marktmechanismus praktisch als unantastbar, quasi als „heilige Kuh", eingestuft. Der Marktmechanismus besitzt selbstverständlich etliche positive Eigenschaften. Dennoch gibt es auch fundamentale Schwächen:
  • Externe Effekte werden in den Marktpreisen nicht automatisch abgebildet – der Marktpreis entspricht demzufolge nicht der ökologischen Wahrheit! Nehmen wir als Beispiel des Deutschen liebstes Kind: Autos stoßen Abgase aus, sorgen für Feinstaub, beschädigen Straßen, die Landschaften versiegeln usw. Ihre FahrerInnen verursachen häufig Unfälle mit zum Teil schlimmsten Folgen. Paradoxerweise werden die Leistungen der Beerdigungsinstitute, im Gesundheitswesen, durch Reparaturwerkstätten etc., als „Wohlstandsmehrung" im BIP verbucht. Mittels einer Internalisierung müssten die dabei entstehenden Kosten den Verursachern übertragen werden, um eine Lenkungswirkung zu erzeugen. Dies könnte beispielsweise durch eine massive Erhöhung der Benzinpreise oder andere Abgaben geschehen. Bisher wird dies nur minimal umgesetzt.

  • Einige wichtige Voraussetzungen für das Funktionieren von Märkten sind in der Realität häufig nicht gegeben: Das Vorliegen vollständiger Konkurrenz – also viele kleine Anbieter und Nachfrager ohne Marktmacht – gilt eher als Ausnahmefall. In vielen Märkten dominieren marktmächtige Anbieter (Oligopole) und Kartelle, die sich zum Beispiel durch Absprachen zum Nachteil der Nachfrager verhalten. Auch der umfassend informierte Konsument bleibt allzu oft reine Fiktion, trotz Internet. Das bestehende Kartellrecht erweist sich im Regelfall als wirkungslos. Viele Werbespots dienen nicht der Aufklärung der Kunden, sondern versuchen eher die Kunden zu überflüssigen Käufen zu verleiten.

  • Uneingeschränkte Finanzmärkte fördern nachweislich die Spekulation. Hiermit wird keine Wertschöpfung für die Gesellschaft gewährleistet. Zudem werden dadurch immer wieder globale Finanzkrisen ausgelöst, deren massive Folgen (nicht nur für die Finanzinstitute) die SteuerzahlerInnen abfedern müssen. Eine möglichst international geltende Transaktionssteuer könnte diese Fehlentwicklungen zumindest abschwächen.

  • Marktpreise können vor allem die Wertvorstellungen der Menschen nicht annähernd abbilden. Ein Beispiel: Die meisten Menschen stimmen in Gesprächen darin überein, dass die Höhe der Gehälter und Ablösesummen für Profifußballer absurd hoch ist. Gemessen an dem Durchschnittseinkommen „normaler" ArbeitnehmerInnen ist dies unverständlich, ja regelrecht verrückt. Genauso könnte man auch die Gehälter und Tantiemen Von (Top-) Managern sehen. Ein unverkrampftes Gerechtigkeitsempfinden wird damit auf den Kopf gestellt.
Summa summarum bleiben Märkte unverzichtbar, um effizient Hersteller, Absatzmittler und Endkunden zusammenzubringen. Dennoch zeigen die erwähnten Schwachstellen, dass gezielte staatliche Eingriffe unerlässlich sind. Ob dies über direkt (z.B. Verbote) oder indirekt greifende Maßnahmen (mittels Steuern) geschieht, muss zielgerichtet entschieden werden.
 
Dogmen und tradierte Denkweisen beiseitelegen 
Eine weitere zentrale Fehleinschätzung besteht darin, dass in der Ökonomie der „homo oeconomicus" als agierender Menschentyp vorherrscht. Der eigentliche Zweck dafür liegt nahe: Mit dem ausschließlich nutzenmaximierenden Menschen bekommt die Ökonomie einen berechenbaren Akteur. Nun zeigt aber die menschliche Realität, dass Entscheidungen nicht von vorneherein als rational einzustufen sind. Vielmehr spielen viele Einflussfaktoren hierbei eine Rolle, die nicht in mathematischen Formeln abgebildet werden können, beispielsweise Statusdenken, Neid, Herdenviehverhalten, Suchtphänomene oder Machtstreben.
In der makro- wie mikroökonomischen Welt spielt der jeweilige Kulturkreis eine herausragende Rolle. Betrachtet man die westlichen Wirtschaftsnationen, so fallen spezielle kulturelle Prägungen auf, die sich über viele Jahrzehnte manifestiert haben:
  •  Vorherrschend ist eine kurzfristige Sicht- und Denkweise, insbesondere bei Unternehmensentscheidungen. Durch den Shareholder-Value-Ansatz wurde diese Orientierung nochmals verstärkt. Quartalsabschlüsse sind bei Großunternehmen selbstverständlich geworden, um die Interessen der Anteilseigner vorrangig zu beachten. Die Interessen anderer Stakeholder, wie zum Beispiel der Kunden werden damit vernachlässigt. Außerdem werden wichtige strategische Investitionen eher in den Hintergrund gedrängt, um ja nicht die kurzfristigen Erfolgsaussichten zu schmälern.
      
  • Nicht weiter verwunderlich ist deswegen, dass eine Fixierung des Managements auf „hard facts" bei der Steuerung des Unternehmens vorherrscht. „What you can´t measure, you can´t manage", lautet die Devise. Das betriebliche Rechnungswesen liefert Kennzahlen, die leicht verfügbar sind. Die eigentlich interessanteren Vorsteuergrößen („Intangible Assets"), wie zum Beispiel Betriebsklima, Mitarbeitermotivation, Führungsqualität, Unternehmenskultur, Firmenimage, bleiben weitgehend unbeachtet.

  • Nicht nur in den Lehrbüchern der BWL findet sich immer noch die Gewinnmaximierung als die oberste Zielsetzung, sondern auch in den Köpfen vieler ManagerInnen und UnternehmerInnen.  Die unbedingte Ausrichtung an kurzfristigen maximalen Gewinnen verhindert dann aber allzu oft den Aufbau einer starken Kundenbindung. Diese Profitgier mündet im Extremfall in betrügerisches Verhalten – jüngstes Beispiel ist der fortwährende Dieselskandal bei Mercedes Benz.

  • Typisch für die vorherrschende Herangehensweise der Ökonomie die Dominanz einfacher, monokausaler Hypothesen und. Theorien. Einige Beispiele sind schon erwähnt worden: Der „homo oeconomicus" oder „der Markt hat immer recht". In der Unternehmenspraxis gibt es ebenfalls derartige Vereinfachungen mit fatalen Auswirkungen. So werden in vielen Unternehmen Kostensenkungen als Allheilmittel angesehen, insbesondere wenn wirtschaftliche Probleme auftreten, aber auch um das oberste Ziel der Gewinnmaximierung zu erreichen. Im Fokus stehen dabei die Personalkosten. Dass damit schädliche Auswirkungen, wie Qualitätseinbußen und Mitarbeiterfrustration wegen erhöhten Leistungsdrucks auftreten, wird einfach vom Management verdrängt. Wird permanent an der Kostenschraube gedreht, besteht die Gefahr, dass die Leistungen verschlechtert werden und Kunden abspringen.
Von der Natur lernen
Es ist mehr als erstaunlich, dass auch andere erkennbare Zusammenhänge und Lösungsansätze von den Entscheidern nicht erkannt werden. In den Naturwissenschaften wie in der Technik werden zunehmend Problemlösungen aus der Natur adaptiert, um Innovationen zu kreieren (siehe Bionik). Für die Ökonomie wäre es schon hilfreich, die oberste Zielsetzung in der belebten Natur, nämlich die Existenzsicherung der Arten, zu verstehen und als Grundlage für das eigene Wirtschaften zu übernehmen. Damit würde sich der Zeithorizont erheblich weiten und viele Entscheidungen müssten mittels anderer Perspektiven getroffen werden.
 
Das Funktionieren der Natur und deren Wunder können nur mit Hilfe des systemischen Denkens erschlossen werden. Dass in der Natur komplexe, miteinander verzahnte Subsysteme vorherrschen, die sensible Ökosysteme bilden, ist mittlerweile zum Allgemeingut geworden. Auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Technik oder in Gesellschaften, findet man Systeme vor. Entscheidend ist dabei, sich der Wechselwirkungen der Elemente und Subsysteme untereinander  bewusst zu werden. Monokausale und ichzentrierte Denkweisen wirken hierbei kontraproduktiv.
 
Vor allem in den westlich orientierten Gesellschaften muss eine Rückbesinnung auf eine Gemeinwohlorientierung als oberste Maxime erfolgen. Nur so konnte die Menschheit auch in schwierigsten Zeiten überleben. Der Siegeszug der neoliberalen Ideologie hat diese Ausrichtung nahezu ausgelöscht. Das Dogma von Adam Smith, die Verfolgung der individuellen Eigeninteressen trage zwangsläufig zum Gesamtwohl bei, geistert immer noch durch die Köpfe. Dieser unterstellte Zusammenhang konnte empirisch nicht nachgewiesen werden. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kann man in Artikel 14 Abs. 2 nachlesen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen". Die Bayerische Verfassung wird noch deutlicher: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl". In der ökonomischen Realität bilden gemeinwohlorientierte Unternehmen nur eine verschwindend kleine Minderheit – der Outdoor-Ausrüster VAUDE stellt hier ein löbliches Beispiel dar.
 
Nachhaltiges Wirtschaften
Prof. Armin Müller. © privatNachhaltiges Wirtschaften weist viele Gemeinsamkeiten mit der Gemeinwohl-Ökonomie auf. Im Zentrum steht der Gesamtblick auf die ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgen des Wirtschaftens. Gemäß der herrschenden Meinung werden diese drei Säulen nachhaltigen Wirtschaftens zunächst als gleich wichtig eingeschätzt. In der Praxis gilt in solchen Fällen im Regelfall die ökonomische Perspektive leider noch als die wichtigste.
 
Für das Überleben der Menschheit und weiter Teile der Natur muss jedoch alles in allem eine andere Priorisierung umgesetzt werden: Die Bekämpfung des Klimawandels muss an erster Stelle stehen! Die sozialen Verwerfungen dürfen nicht länger toleriert werden! Schlussendlich muss sich die Ökonomie dem unterordnen und schleunigst den Menschen sinnvolle Güter gemäß nachhaltigen Vorgaben bereitstellen! Vor einer solchen Transformation brauchen wir keine Angst zu haben.
 
Prof. em. Dr. Armin Müller: Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Danach etliche Jahre Tätigkeit in Firmen der Privatwirtschaft; Berufung an die FH München, danach an die FH Ingolstadt (THI); Fachgebiete: Management und Controlling, insbesondere Umwelt- und Nachhaltiges Management; zahlreiche Veröffentlichungen.

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Gesellschaft | Politik, 28.09.2023

     
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