Bruno Kern
Technik | Energie, 01.12.2021

Rückbau statt Umbau

Die Veränderung der Industriegesellschaft

Wir brauchen eine industrielle Abrüstung! Ohne sie kann der ökologische „Umbau" der Industriegesellschaft nicht gelingen.  

© TasukaranImmer wenn wir vom „Umbau" der Industriegesellschaft sprechen, wird eines unterstellt: Dass wir die nötigen Reduktionen und schließlich die CO2-Neutralität allein mittels effizienterer technischer Verfahren erreichen könnten. Hinzu kommt die Annahme, dass wir die Energie, die bislang aus fossilen Quellen stammt, problemlos durch erneuerbare Energien substituieren könnten. Wer allerdings seriös rechnet, kommt zu dem Ergebnis: Ein Umbau muss zwangsläufig mit einem Rückbau einhergehen; wir müssen den absoluten Verbrauch an Energie und anderen Ressourcen drastisch absenken.

Ernüchternde Bilanz der erneuerbaren Energien
Eigentlich sagt es einem der Hausverstand: Erneuerbare Energiequellen weisen eine viel geringere Energiedichte auf als fossile, sie haben ein beschränktes Potenzial und ihre ehrlich gerechnete Energiebilanz ist eher ernüchternd, wie ich in meinem Buch „Das Märchen vom grünen Wachstum" dargelegt habe. Die meisten Energiewendeszenarien verschiedener Umweltorganisationen und Umweltinstitute legen bereits die verkürzte Fragestellung zugrunde, wie viel an fossiler Energie man in welchem Zeitraum durch erneuerbare Energien substituieren muss. Den konkreten Nachweis der entsprechenden Potenziale bleibt man dabei in der Regel schuldig. Die unbequeme Einsicht, dass wir an einer absoluten Reduktion des Verbrauchs nicht vorbeikommen, wird tabuisiert. Dazu kommt, dass die Diskussion meist auf die Elektrizität verkürzt wird, die aber in Deutschland lediglich 20 Prozent des Endenergieverbrauchs ausmacht.

Selbst im Optimum reicht es nicht
Der Gesamtenergieverbrauch in Deutschland, der neben elektrischem Strom Raumwärme, Verkehr, Prozessenergie et cetera umfasst, beträgt derzeit jährlich 2.500 Terawattstunden. Eine im Auftrag des WWF erstellte Studie hat errechnet, dass in Deutschland ein Potenzial von erneuerbaren Energien ausgeschöpft werden könnte, das insgesamt 700 Terawattstunden bereitstellt. Auch wenn da und dort etwas optimistischer gerechnet wird – das Bundesumweltamt etwa geht von einem Potenzial von 800 bis 900 Terawattstunden aus –, klafft eine große Lücke zwischen unserem derzeitigen Energieverbrauch und dem, was uns aus erneuerbaren Quellen theoretisch zur Verfügung steht. Diese Lücke wird auch nicht mithilfe von Energieimporten aus sonnenreichen Gegenden wie etwa Nordafrika zu füllen sein. Wer sich etwa mit dem inzwischen gescheiterten Desertec-Projekt auseinandergesetzt hat, das lediglich 15 Prozent des Strombedarfs der EU decken sollte, und den gigantischen Materialaufwand ehrlich in der Energiebilanz berücksichtigt, der weiß auch um die Grenzen dieser Potenziale – abgesehen davon, dass Deutschland nicht das einzige Land sein dürfte, das hier entsprechende Begehrlichkeiten entwickelt.
 
Unvermeidlich: die Verkehrswende
Es führt also kein Weg daran vorbei: Das heutige Niveau an industrieller Produktion ist mit ökologischer Nachhaltigkeit nicht vereinbar. Es muss ein möglichst rascher und konsequenter Rückbau eingeleitet werden. Diesen möglichst konkret zu beschreiben und aufzuzeigen, wie er solidarisch zu gestalten wäre, ist meines Erachtens nun die vordringliche Aufgabe. Sehen wir uns den Befund für einige Bereiche exemplarisch näher an.

Von größter Bedeutung ist in Deutschland eine ökologische Verkehrswende. Der Verkehr ist zur Zeit für etwa 20 Prozent der Kohlendioxidemissionen und für einen Gesamtenergieverbrauch von etwa 750 Terawattstunden verantwortlich. Die Umstellung auf alternative Antriebe hilft da wenig. E-Fuels und Brennstoffzellen auf Wasserstoffbasis weisen einen sehr schlechten Effizienzgrad auf. Der zusätzliche Strombedarf für E-Autos kann aus erneuerbaren Quellen nicht gedeckt werden, zumal wenn man bedenkt, dass Kohlendioxidneutralität in anderen Bereichen einen erheblichen zusätzlichen Strombedarf bedingt – etwa wenn die Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen ersetzt werden.

Keine Rettung durch E-Autos
In die Gesamtbilanz mit einzubeziehen ist aber darüber hinaus bereits die Automobilproduktion! 48 Prozent des in der Erzeugung sehr energieintensiven Aluminiums (eine erzeugte Tonne frisst 14 Megawattstunden Strom!), 26 Prozent des Stahls und zwölf Prozent der Kunststoffe fließen derzeit in die deutsche Automobilproduktion. Die vorgelagerten Ausrüstungsindustrien, die Produktion entsprechender Fertigungsmaschinen, Roboter et cetera sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Das E-Auto verschärft dieses Problem noch: Die schwere Batterie, deren Erzeugung selbst bereits mit einem erheblichen CO2-Ausstoß verbunden ist, muss durch mehr Leichtbauweise (mehr Aluminium, mehr Kohlenstofffaserverbundstoffe usw.) kompensiert werden, so dass ein E-Auto bereits in der Produktion erheblich mehr Energie und Ressourcen verbraucht als ein vergleichbarer Benziner oder Diesel. Die derzeit in Deutschland zugelassenen 47 Millionen PKWs, geschweige denn die weltweit eine Milliarde Autos auf alternative Antriebe umzustellen, ist – allein schon aufgrund der Knappheit der dafür nötigen Rohstoffe wie etwa Lithium und Kobalt – schlicht absurd.

Abschied vom Individualverkehr
Ökologische Verkehrswende kann deshalb nur den konsequenten Abschied vom motorisierten Individualverkehr bedeuten. Der Vorschlag der Initiative Ökosozialismus lautet deshalb: Spätestens ab dem Jahr 2030 sollten keine PKWs mehr für den rein privaten Gebrauch zugelassen werden (ausgenommen sind natürlich Einsatzfahrzeuge, Taxis inklusive Transporttaxis, Betriebsfahrzeuge für Handwerker usw.). Ein entsprechender Ausbau des öffentlichen Verkehrs kann, wie das Beispiel Schweiz zeigt, auch abgelegene Siedlungen im ländlichen Raum sinnvoll anbinden. Allerdings können wir das heutige Verkehrsaufkommen nicht im Verhältnis eins zu eins auf öffentliche Verkehrsmittel verlagern. Dies würde eine Vervielfachung der Kapazitäten bedeuten, die weder logistisch machbar noch ökologisch sinnvoll wäre. Die Reduktion der Notwendigkeit von Mobilität ist eine anspruchsvolle, strukturpolitische Aufgabe. Die Eindämmung des Güterverkehrs durch eine Regionalisierung der Wirtschaft, die derzeit auch an den Vorgaben des EU-Binnenmarkts scheitert, ist unabdingbar. Darüber hinaus werden wir auch ein anderes Verhältnis zur Mobilität entwickeln und uns von bestimmten Ansprüchen verabschieden müssen.
 
Die Verantwortung der Bauindustrie
Ein weiterer Problembereich ist die Bauindustrie, die unter anderem 35 Prozent des bei uns erzeugten Stahls verbraucht. Die Stahlerzeugung ist nicht nur mit einem erheblichen Energieverbrauch verbunden, darüber hinaus fällt auch prozessbedingt – durch die Herauslösung des Sauerstoffs – Kohlendioxid an. Nun gibt es technisch ausgereifte Verfahren, die das Reduktionsmittel Koks durch Wasserstoff ersetzen und das so gewonnene Roheisen in Elektrolichtbogenöfen zu Stahl weiterverarbeiten. Die Effizienz kann noch dadurch gesteigert werden, dass man den Wasserstoff aus Wasserdampf gewinnt und hierfür die Abwärme der Hochöfen nutzt. Doch auch bei Ausschöpfung all dieser Möglichkeiten: Dieser „grüne Stahl" wird uns angesichts des knappen Angebots an der nötigen Energie (etwa zur Wasserstofferzeugung) nur in erheblich geringeren Mengen zur Verfügung stehen. Die Zementherstellung – allein sie verschlingt bislang insgesamt 28 Terawattstunden Energie – ist nicht nur energieintensiv (Kalkstein muss auf 1.400 Grad Celsius erhitzt werden), durch die Zerkleinerung des Kalksteins werden große Mengen von darin gebundenem CO2 prozessbedingt freigesetzt. Auch wenn man also den nötigen Energiebedarf durch alternative Verfahren verringert, betrifft dies nur den geringeren Teil des Kohlendioxidausstoßes. Wenig bekannt ist auch, dass zum Bauen geeigneter Sand (Wüstensand ist dies nicht!) inzwischen ein sehr knapper Rohstoff ist. Unausweichlich ist eine absolute Reduktion der Bautätigkeit, das heißt ein vollständiger Verzicht auf Prestigebauten und auf alles, was der alten, fossilen Infrastruktur dient.

Was den nötigen Wohnraum betrifft, sind Mechanismen der Umverteilung des vorhandenen Wohnraums politisch zu entwickeln. Die Baugenehmigungsverfahren sind so zu reformieren, dass sie überzogene Größenordnungen, freistehende Einfamilienhäuser et cetera verhindern. Jenseits von Stahl und Beton müssen wir in Zukunft auf alternative Bauweisen, vor allem auf Holzbau setzen, der inzwischen, wie unter anderem das Beispiel Österreich zeigt, hoch entwickelt ist. (forum berichtete dazu mehrfach.)

Problemkind mit großem Potenzial: die Chemieindustrie
Auch für die wichtige Branche Chemieindustrie gilt, dass man sie im Prinzip vollständig treibhausgasneutral gestalten könnte, dass man sowohl die prozessbedingten (etwa durch CO2-freie Herstellung von Wasserstoff, wie er etwa für Ammoniak für die Kunstdüngerherstellung verwendet wird) als auch die durch die Wärmeerzeugung bedingten Emissionen (etwa für das sogenannte Steamcracking, mittels dessen die langen Kohlenwasserstoffverbindungen aufgespalten werden) vollständig vermeiden könnte. Eine im Auftrag des Verbands der chemischen Industrie erstellte Studie, die sogenannte „Roadmap der deutschen chemischen Industrie", hat für die entsprechende Umstellung der technischen Verfahren allerdings einen Strombedarf von 687 Terawattstunden errechnet – das ist deutlich mehr als der derzeit insgesamt in Deutschland erzeugte Strom! Man kommt also auch in diesem Bereich um eine erhebliche Reduzierung der Gesamtproduktion nicht herum.

Wider den Verpackungswahnsinn
Neben den bereits besprochenen Bereichen Bauindustrie (22 Prozent) und Automobilindustrie (12 Prozent) weist derzeit vor allem die Verpackungsindustrie einen Kunststoffbedarf in erheblichem Umfang auf (35 Prozent). Gerade in diesem Bereich aber könnte man sehr einfach ordnungspolitisch eingreifen: Ein erheblicher Anteil der heutigen Kunststoffverpackungen (Lebensmittelkonserven aller Art, Reinigungsmittel, Getränkebehälter) kann ohne Weiteres durch entsprechende Mehrwegsysteme ersetzt werden. Einwegflaschen aus Plastik sollte man ebenso verbieten wie Weißblech-Aluminiumdosen. Für einen verbleibenden Rest von schwer vermeidlichen Kunststoffverpackungen gilt es, durch Vorschreiben von Farb- und Sortenreinheit eine hohe Recyclingquote sicherzustellen. Damit hätte man neben der Emissionsvermeidung gleichzeitig die Müllproblematik zu einem erheblichen Teil behoben.

Auf den Willen kommt es an
Anhand dieser vier großen Branchen wird exemplarisch deutlich, in welcher Dimension wir einen Rückbau von Produktion und Konsum möglichst rasch bewerkstelligen müssen. Bei entsprechendem politischen Willen ist dies mit den jetzt schon zur Verfügung stehenden ordnungspolitischen Instrumenten möglich. Klugerweise wird man, um eine Mehrheit von Menschen auf diesem schwierigen Weg mitzunehmen, mit all den Maßnahmen beginnen, die niemandes Lebensqualität tangieren, sondern schlicht kapitalistischem Leerlauf geschuldet sind. Die Verpackungsindustrie wurde bereits genannt. Des Weiteren könnte die Lebensdauer eines Großteils von Haushaltsgeräten, elektronischen Geräten und so weiter durch wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der „geplanten Obsoleszenz" und durch Vorschreiben von entsprechenden Gewährleistungsfristen erheblich verlängert werden. Durch Anforderungen an das Produktdesign bezüglich Reparier- und Recyclingfähigkeit im Sinne des Prinzips „cradle to cradle" könnte die Produktion in diesem Bereich deutlich verringert werden.

Konsummuster infrage stellen
Allerdings sollte nicht verschwiegen werden, dass ein konsequent vorangetriebener Rückbau auch eingeschliffene Konsummuster einer großen Bevölkerungsmehrheit infrage stellt. Das betrifft auch die Vielzahl digitaler Endgeräte, den heute so selbstverständlichen Besitz eines Smartphones etc. Die Knappheit der zur Verfügung stehenden Ressourcen hat eine Verwendungskonkurrenz zur Folge. Das heißt: Wir werden uns politisch darauf verständigen müssen, wofür wir diese Ressourcen einsetzen, für den Bau von Kreuzfahrtschiffen oder für genügend MRT-Geräte in unseren Krankenhäusern. Politisch auszuhandeln wäre darüber hinaus, auf welche Produkte wir völlig verzichten wollen, weil sie keinerlei gesellschaftlichen oder individuellen Nutzen aufweisen, sondern im Gegenteil schädlich, krankmachend, gefährlich sind. An erster Stelle ist hier natürlich die Rüstungsproduktion zu nennen. Es ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten, dass wir uns mit einem gigantischen Ressourcenaufwand auf künftige Kriege um knapper werdende Ressourcen vorbereiten. Ein ausnahmsloses Verbot von Rüstungsexporten und eine Beendigung der Beschaffung durch die Bundeswehr sind nicht nur friedenspolitisch geboten, sondern angesichts der knappen Ressourcen unausweichlich.

Zeitwohlstand und mehr Arbeitsplätze: die Chancen des Rückbaus
Natürlich müssen wir diesen Rückbau solidarisch gestalten und dafür sorgen, dass die materielle Existenz der betroffenen Menschen gesichert ist. Kurzfristig wird in vielen Bereichen der Umbau einen Bedarf an Facharbeitskräften bewirken, etwa für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Langfristig bedeutet der Ausstieg aus der Industriegesellschaft, wie wir sie kennen, in etlichen Bereichen einen Mehrbedarf an menschlicher Arbeitskraft zumeist in Kleinst- und Kleinunternehmen, etwa in der Landwirtschaft, in Reparaturbetrieben und im traditionellen Handwerk. Darüber hinaus besteht heute schon ein deutlicher Mehrbedarf an Arbeitskräften im Pflege- und Erziehungssektor. Unter dem Strich aber ist das entscheidende Wohlstandsversprechen, das mit einem Rückbau der Produktion verbunden ist, ein neuer Zeitwohlstand. Die insgesamt weniger aufzuwendende Zeit im Produktionsbereich kann schlicht durch allgemeine Arbeitszeitverkürzung (Wochen- und Lebensarbeitszeit) gerecht verteilt werden. Dem Verlust an Konsummöglichkeiten, die zum Teil recht fragwürdig sind und gerade aufgrund der Vielzahl der Optionen unser Lebensglück gar nicht vermehren können, wird also ein deutliches Mehr an Zeit gegenüberstehen, das wir für die Gestaltung unserer Beziehungen, für das aktive Mitwirken an unserem sozialen Umfeld und für die Entwicklung unserer Persönlichkeit zur Verfügung haben. Unsere Lebenszeit ist schließlich die knappste und wertvollste Ressource, die wir haben.
 
 
Bruno Kern studierte katholische Theologie und Philosophie. Er arbeitete als examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger und ist Mitbegründer der Initiative Ökosozialismus. Mittlerweile ist er freiberuflich tätig als Autor, Lektor und Übersetzer. Dieses Jahr erschien sein Buch „Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft".

Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig 04/2021 stellt sich grundlegenden Fragen zur Veränderung - Systemwandel - wie wird die große Transformation zur Realität? erschienen.



     
        
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