- Kipppunkte für unsere Umwelt: Drei wesentliche
planetare Grenzen wurden vergangenes Jahr überschritten und zwingen zur
Neubesinnung: der Klimawandel (Waldbrände in Australien, Nord- und
Südamerika und Sibirien sowie weiterhin steigende Temperaturen und
Abtauen der Polkappen), der Verlust der Biodiversität (siehe Living
Plant Report 2020 des WWF) und die signifikante Gefährdung der
menschlichen Gesundheit.
- Neue Herausforderungen für die Wirtschaft:
Einschränkungen durch globale Lockdowns und umfassende
Wiederaufbaupakete stellen massive Herausforderungen dar. Und dennoch:
Im Budget der EU fließen 70 Prozent der Gelder in die Wiederherstellung
des „Status Quo" – nur 30 Prozent werden eingesetzt, um eine bessere,
nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen.
- Gefährdungen für den internationalen
Multilateralismus: China und die USA werden auch in Zukunft nicht in
dieselbe Richtung gehen, die EU zeigt Verfallserscheinungen. Dies
schwächt internationale Organisationen und Foren der Zusammenarbeit.
- Neue Dimensionen des Aktivismus: nicht nur
hinsichtlich Klimathemen, sondern auch, was soziale und
demokratiepolitische Themen betrifft. Auch beim Thema Gesundheitsschutz
gibt es Demonstrationen gegen Vorgaben zur Bekämpfung der Pandemie. Das
Engagement der Aktivist*innen zeigt, dass der Dialog mit Bürgerinnen und
Bürgern Teil einer jeden Lösung sein muss, um uns in eine nachhaltige
Zukunft zu bringen.
- Veränderte Führungskonzepte für Nachhaltigkeit:
Dies manifestiert sich mit dem European Green Deal (EGD) – einem neuen
„Polarstern" –, der es auf europäischer Ebene ermöglicht hat, Parteien
verschiedenster politischer Richtungen zu vereinen und klarzustellen,
dass wir gemeinsam eine bessere Zukunft bauen wollen und müssen.
Wir wachsen uns arm
Der „Reset" zeigt die Notwendigkeit für einen
grundlegenden Prämissenwechsel. Das bestätigen auch die Leitindikatoren
aus der Volkswirtschaftslehre: Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die
1980er Jahre haben sich Arbeitsproduktivität, Wirtschaftswachstum,
Beschäftigungsquote, mittleres Haushaltseinkommen sowie der Genuine
Progress Indicator (GPI), der die wirtschaftliche Entwicklung, den
Zustand der Umwelt sowie die soziale Kohäsion misst, parallel
entwickelt. Mehr Wohlstand ging mit mehr Wohlbefinden einher. Doch seit
Mitte der 1980er Jahre fallen diese Indikatoren auseinander. Während
Arbeitsproduktivität und reales Brutto Inlandsprodukt (BIP) pro Kopf
weiter steigen, sind das mittlere Haushaltseinkommen sowie der GPI
abgeflacht beziehungsweise zum Teil sogar rückläufig. Das heißt, unsere
Wirtschaft wuchs zwar weiter – aber wir „wuchsen uns arm". Zunächst
hatte die wirtschaftliche Entwicklung zwar hunderte Millionen Menschen
aus der Armut geführt – ein Erfolg, den man anerkennen und feiern kann.
Doch dieses Wachstumswunder ist durch enormen Ressourcen- und
Energieverbrauch entstanden – Verbrauch, der nicht dauerhaft nachhaltig
ist, die natürliche Umwelt ausbeutet und damit Wohlstand und
Wohlbefinden infrage stellt.
Dieses Auseinanderdriften von rein ökonomischem Wohlstand und ökologischem/sozialem Wohlbefinden zeigt sich auch durch:
- Strukturelle Verschwendung und Ineffizienzen
- Ökologische Krisen und Umweltbelastungen
- Systemische Fehlstellungen
Strukturelle Verschwendung und Ineffizienzen
lassen sich am Beispiel Mobilität veranschaulichen: Nach Berechnungen
der Ellen MacArthur Foundation wird ein Auto durchschnittlich zu circa
zwei Prozent der Zeit genutzt, nur etwa 1,5 Sitzplätze sind besetzt
(70 Prozent des Autos fährt leer). Bis zu 50 Prozent der Stadtfläche
entfallen auf Straßen und Mobilitätsinfrastruktur. Autos sind über
Jahrzehnte effizienter geworden, das Mobilitätssystem ist jedoch höchst
ineffizient, wenn man den gesamten Ressourceneinsatz betrachtet. Dies
gilt auch für viele Konsumgüter, die oft nach nur einem
Verwendungszyklus fast gänzlich an Wert verlieren und zu Müll werden.
Durch diese Ineffizienzen wird der Ressourcenbedarf immer höher und
übersteigt letztendlich die regenerativen Kapazitätsgrenzen unseres
Planeten.
Ökologische Krisen und Umweltbelastungen
zeigen sich am Beispiel Ernährungssystem und der damit zusammenhängenden
Landnutzung. 2018 wurden weltweit mehr als zwölf Millionen Hektar
Regenwald im tropischen Gürtel der Erde zerstört. Ein bekanntes Beispiel
ist Brasilien, wo die Abholzung insbesondere auf Viehzucht und
Fleischkonsum zurückzuführen ist. In Afrika und Asien spielt Palmöl eine
wichtige Rolle. Die massive Abholzung trägt nicht nur zum Klimawandel
bei, sondern verursacht auch Schäden im Bereich Biodiversität und
Artenvielfalt und führt zu Erosion und Verwüstung.
Systemische Fehlstellungen können am Beispiel
der globalen Plastikverpackungssysteme veranschaulicht werden.
Zahlreiche Küstenorte leiden stark unter der Verschmutzung der Meere
durch Plastikmüll. Wie eine aktuelle Studie von SYSTEMIQ & PEW zeigt
(
Breaking the Plastic Wave), sind im Jahr 2016 circa elf Millionen
Tonnen Plastik im Ozean gelandet; diese Zahl wird bis 2040 auf circa 29
Millionen Tonnen ansteigen, wenn nicht schnell und radikal gehandelt
wird. Um die „Plastikmüllwelle" zu stoppen, muss das „Betriebssystem"
der Wertschöpfungskette verbessert werden.
Die Ressourcenproduktivität erhöhen
Die Beispiele bei Mobilität, Landnutzung und
Plastik zeigen die Notwendigkeit für einen Prämissenwechsel. Was aber
ist ein ökonomisches Modell, das nicht die beschriebenen systemischen
Fehler birgt? Wie kann die Abkehr von einer linearen Wertschöpfung – die
Ressourcen nimmt, nutzt und wegwirft – funktionieren? Eine Antwort
lautet: die Ressourcenproduktivität erhöhen, also Wohlstand und
Lebensqualität mit geringem Ressourceneinsatz erreichen.
Auf der einen Seite müssen wir dazu unser
Energiesystem dekarbonisieren. Hier vollzieht sich gerade ein massiver
Wandel in Richtung erneuerbarer Energien. Außerdem gilt es den
industriellen Sektor – Produktion und Konsum – zu dematerialisieren, das
heißt deutlich weniger oder keine Ressourcen mehr zu extrahieren und
stattdessen die bereits gewonnen Ressourcen besser zu nutzen. Auf dieser
Grundlage können wir hochproduktive, zukunftsfähige Systeme schaffen –
Mobilitätssysteme, Ernährungssysteme, Gebäudesysteme – die sich am
Gedanken der zirkulären Wirtschaft orientieren. Im Zentrum der
regulatorischen Debatte steht deshalb ein neues Paradigma, das
„nachhaltiges Wachstum" und aktuell vor allem auch eine „Green Recovery"
sichert.
Der Zukunftsplan
Vormals „grüne" Themen sind Dreh- und
Angelpunkt der politischen Agenda und treiben den wirtschaftlichen
Wandel. Der European Green Deal (EGD) berührt deshalb alle
Politikbereiche: von Dekarbonisierungszielen für 2030 und 2050 über neue
Mobilität und eine neue kreislauforientierte Industrie bis hin zu
internationalen Handelsverträgen und dem geplanten „Carbon Border
Adjustment Mechanism", der verhindern soll, dass Industrien aufgrund von
Klimaschutzmaßnahmen aus Europa verdrängt werden. Was besonders wichtig
ist: Der Green Deal ist nicht nur ein Plan zur Förderung von Europas
Nachhaltigkeit. Er ist – in den Worten von Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen – ein Investitionsplan für Europa: ein Plan, der Wachstum
und Wohlergehen der Menschen in Einklang bringen soll. Und so sind auch
der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Umsetzung des EGD zwei Seiten
derselben Medaille. Es geht nicht darum, die beiden Ziele gegeneinander
auszuspielen. Die ökologischen Ziele des EGD sind sinnvoll, ihre
Umsetzung jedoch ohne bedeutenden Systemwandel nicht möglich. Zu groß
sind die oben beispielhaft erwähnten Ineffizienzen und systemischen
Fehlstellungen, die unser aktuelles Wirtschaftssystem mit sich bringt.
Deshalb gilt es zu fragen: Was ist notwendig, um die ökologischen Ziele
eines EGD zu erreichen?
Zehn Prinzipien für die europäische Wirtschaft
Gemeinsam mit dem Club of Rome hat SYSTEMIQ
zehn Prinzipien für das übergreifende System der europäischen Wirtschaft
erarbeitet – einen
System Change Compass (siehe Abbildung). Er
beschreibt die klare Vision eines neuen Systems, definiert die
notwendigen Interventionen und soll die Akteure mobilisieren und
befähigen. Gesamthaft muss dieses Wirtschaftssystem entkoppelt von der
Ausbeutung natürlicher Ressourcen funktionieren. Ein wesentlicher Faktor
ist dabei die zirkuläre Wertschöpfung. Um diese zirkuläre Wertschöpfung
als Basis für ein neues Wachstumsmodell zu etablieren, braucht es
Produkt- und Systeminnovationen, die auf nachhaltigen Designprinzipien
fußen, die sich an einer Regenerationsfähigkeit des Gesamtsystems
orientieren und drei Ziele verfolgen:
- Vollständige Entkopplung von nicht erneuerbaren Ressourcen
- Maximale Nutzung der physischen Ressourcen
- Minimierung bzw. Eliminierung negativer externer Effekte
Die Ausgestaltung der Designkriterien muss
zwischen einem Gebrauchsgut und einem Verbrauchsgut unterscheiden.
Verbrauchsgüter betreffen den Kreislauf biologischer Stoffe und werden
so gestaltet, dass die Ressourcen nach der Nutzung wieder sicher in die
Biosphäre eintreten können. Gebrauchsgüter werden so gebaut, dass sie
immer wieder genutzt werden können, also primär im Sinne einer
Wiederverwendung. Und erst nach ihrem Gebrauch, am Ende ihrer
Lebensdauer, werden sie in ihren einzelnen stofflichen Bestandteilen, im
Sinne eines Recyclingloops, in den Kreislauf zurückgeführt.
Von der Produkt- zur Leistungsökonomie
Je kleiner ein Loop der Wiederverwendung,
desto geringer ist der für eine erneute Nutzung eines Produkts
erforderliche Ressourcen- und Energieaufwand, und desto höher der
bewahrte Wert, wie Michael Braungart und William McDonough es in ihrem
Konzept „Cradle to Cradle" darstellen.
Hierzu ist ein Übergang von einer
Produktökonomie hin zu einer Leistungsökonomie wichtig: ein Wechsel vom
Verkauf eines Produktes hin zu einem Geschäftsmodell, das sich auf die
zu Grunde liegende Leistungseinheit fokussiert – also keine
Kühlschränke, sondern Frische anbietet, keine Reifen, sondern gefahrene
Kilometer etc. Durch einen solchen Wechsel werden Anreize zur
nachhaltigen Produktoptimierung auf den Produzenten übertragen (z.B.
Qualität und Lebensdauer).
Eine Anwendung dieser Designprinzipien auf
unsere aktuellen Wertschöpfungssysteme verfolgt nicht nur ökologische,
sondern vor allem auch ökonomische Vorteile durch eine bessere,
günstigere und produktivere Güter- und Dienstleistungsversorgung. Hier
entsteht ein Feld für Wachstum und Innovation. Start-ups, die Elemente
der Kreislaufwirtschaft optimieren, sind hier bereits auf dem
Wachstumspfad. Ebenso lässt sich beobachten, wie Pioniere,
beispielsweise aus dem deutschen Mittelstand, durch Anwendung zirkulärer
Prinzipien echte Wettbewerbsvorteile auf- und ausbauen. Vor allem im
Bereich der ressourcenintensiven physischen Systeme führen digitale
Technologien zur Virtualisierung, und damit zu massiver
Dematerialiserung – und fördern so wichtigen Wandel und eine
Verschiebung des Wettbewerbs (z.B. Zoom versus Flüge).
Fazit: Der
globale „Reset" erhöht den Handlungsdruck. Akteure sollten sich deshalb
nicht nur auf eine zirkuläre Optimierung ihrer eigenen, aktuellen
Wertschöpfung fokussieren und dringend handeln, sondern auch eine
übergreifende Ambition zur
zirkulären Systemtransformation im Blick
haben. Die Lösungsansätze zur zirkulären Systemtransformation
fokussieren sich auf eine nachhaltige Erfüllung menschlicher Bedürfnisse
als Systemleistung. Entsprechende Wertschöpfungsmodelle und
geschlossene Materialkreisläufe verbessern die Ressourceneffizienz und
setzen auf verstärkte Kollaboration und neue Plattformen der
Zusammenarbeit. So entstehen nachhaltige Wachstumsmotoren und echte
Dekarbonisierungspfade für Industrien und Regionen. Jetzt besteht die
Chance, genau an der Zukunft zu bauen, die wir uns für die Menschheit
wünschen.