Manuel Braun

Der globale „Reset“

Zirkulärer Systemwandel als Ansatz für ein nachhaltiges Wachstumsmodell

Die weltweite Pandemie zeigt die Grenzen des Wachstums und die Forderung nach einem Green Deal rückt ins Zentrum der Debatte zum ökonomischen Wiederaufbau. Dies bietet die Chance, dem globalen Wirtschaftssystem eine umfassende Richtungsänderung zu verordnen. Doch kleine Korrekturen reichen nicht mehr, ein tiefgreifender Systemwandel ist nötig.

Wo bleibt die Ressourcenproduktivität von Plastik, wenn dieses wertvolle Material zu über 50 Prozent für Wegwerf- und Einweg­verpackungen genutzt wird? Ein ´Strand´ in Muncar, Indonesien, verwandelt sich in ein Plastikmeer. © Project STOP 2020, Ulet IfansastiSeit 2020 erleben wir einen globalen „Reset" und einen Paradigmenwechsel in Echtzeit. Nicht nur, aber auch durch die Pandemie, hat die Menschheit einen Weckruf erhalten, zu überlegen, welche Zukunft sie will. Nimmt man eine Makroperspektive ein, werden fünf Dimensionen dieses „Resets" deutlich:

  1. Kipppunkte für unsere Umwelt: Drei wesentliche planetare Grenzen wurden vergangenes Jahr überschritten und zwingen zur Neubesinnung: der Klimawandel (Waldbrände in Australien, Nord- und Südamerika und Sibirien sowie weiterhin steigende Temperaturen und Abtauen der Polkappen), der Verlust der Biodiversität (siehe Living Plant Report 2020 des WWF) und die signifikante Gefährdung der menschlichen Gesundheit.

  2. Neue Herausforderungen für die Wirtschaft: Einschränkungen durch globale Lockdowns und umfassende Wiederaufbaupakete stellen massive Herausforderungen dar. Und dennoch: Im Budget der EU fließen 70 Prozent der Gelder in die Wiederherstellung des „Status Quo" – nur 30 Prozent werden eingesetzt, um eine bessere, nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen.

  3. Gefährdungen für den internationalen Multilateralismus: China und die USA werden auch in Zukunft nicht in dieselbe Richtung gehen, die EU zeigt Verfallserscheinungen. Dies schwächt internationale Organisationen und Foren der Zusammenarbeit.

  4. Neue Dimensionen des Aktivismus: nicht nur hinsichtlich Klimathemen, sondern auch, was soziale und demokratiepolitische Themen betrifft. Auch beim Thema Gesundheitsschutz gibt es Demonstrationen gegen Vorgaben zur Bekämpfung der Pandemie. Das Engagement der Aktivist*innen zeigt, dass der Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern Teil einer jeden Lösung sein muss, um uns in eine nachhaltige Zukunft zu bringen.

  5. Veränderte Führungskonzepte für Nachhaltigkeit: Dies manifestiert sich mit dem European Green Deal (EGD) – einem neuen „Polarstern" –, der es auf europäischer Ebene ermöglicht hat, Parteien verschiedenster politischer Richtungen zu vereinen und klarzustellen, dass wir gemeinsam eine bessere Zukunft bauen wollen und müssen.
Wir wachsen uns arm
Der „Reset" zeigt die Notwendigkeit für einen grundlegenden Prämissenwechsel. Das bestätigen auch die Leitindikatoren aus der Volkswirtschaftslehre: Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1980er Jahre haben sich Arbeitsproduktivität, Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsquote, mittleres Haushaltseinkommen sowie der Genuine Progress Indicator (GPI), der die wirtschaftliche Entwicklung, den Zustand der Umwelt sowie die soziale Kohäsion misst, parallel entwickelt. Mehr Wohlstand ging mit mehr Wohlbefinden einher. Doch seit Mitte der 1980er Jahre fallen diese Indikatoren auseinander. Während Arbeitsproduktivität und reales Brutto Inlandsprodukt (BIP) pro Kopf weiter steigen, sind das mittlere Haushaltseinkommen sowie der GPI abgeflacht beziehungsweise zum Teil sogar rückläufig. Das heißt, unsere Wirtschaft wuchs zwar weiter – aber wir „wuchsen uns arm". Zunächst hatte die wirtschaftliche Entwicklung zwar hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt – ein Erfolg, den man anerkennen und feiern kann. Doch dieses Wachstumswunder ist durch enormen Ressourcen- und Energieverbrauch entstanden – Verbrauch, der nicht dauerhaft nachhaltig ist, die natürliche Umwelt ausbeutet und damit Wohlstand und Wohlbefinden infrage stellt.

Dieses Auseinanderdriften von rein ökonomischem Wohlstand und ökologischem/sozialem Wohlbefinden zeigt sich auch durch:
  • Strukturelle Verschwendung und Ineffizienzen
  • Ökologische Krisen und Umweltbelastungen
  • Systemische Fehlstellungen 
Der System Change Compass: Die zehn Handlungsmöglichkeiten für einen zirkulären Systemwandel. (Quelle: SYSTEMIQ & Club of Rome 2020) 
Strukturelle Verschwendung und Ineffizienzen lassen sich am Beispiel Mobilität veranschaulichen: Nach Berechnungen der Ellen MacArthur Foundation wird ein Auto durchschnittlich zu circa zwei Prozent der Zeit genutzt, nur etwa 1,5 Sitzplätze sind besetzt (70 Prozent des Autos fährt leer). Bis zu 50 Prozent der Stadtfläche entfallen auf Straßen und Mobilitätsinfrastruktur. Autos sind über Jahrzehnte effizienter geworden, das Mobilitätssystem ist jedoch höchst ineffizient, wenn man den gesamten Ressourceneinsatz betrachtet. Dies gilt auch für viele Konsumgüter, die oft nach nur einem Verwendungszyklus fast gänzlich an Wert verlieren und zu Müll werden. Durch diese Ineffizienzen wird der Ressourcenbedarf immer höher und übersteigt letztendlich die regenerativen Kapazitätsgrenzen unseres Planeten.
 
Ökologische Krisen und Umweltbelastungen zeigen sich am Beispiel Ernährungssystem und der damit zusammenhängenden Landnutzung. 2018 wurden weltweit mehr als zwölf Millionen Hektar Regenwald im tropischen Gürtel der Erde zerstört. Ein bekanntes Beispiel ist Brasilien, wo die Abholzung insbesondere auf Viehzucht und Fleischkonsum zurückzuführen ist. In Afrika und Asien spielt Palmöl eine wichtige Rolle. Die massive Abholzung trägt nicht nur zum Klimawandel bei, sondern verursacht auch Schäden im Bereich Biodiversität und Artenvielfalt und führt zu Erosion und Verwüstung.

Systemische Fehlstellungen können am Beispiel der globalen Plastikverpackungssysteme veranschaulicht werden. Zahlreiche Küstenorte leiden stark unter der Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll. Wie eine aktuelle Studie von SYSTEMIQ & PEW zeigt (Breaking the Plastic Wave), sind im Jahr 2016 circa elf Millionen Tonnen Plastik im Ozean gelandet; diese Zahl wird bis 2040 auf circa 29 Millionen Tonnen ansteigen, wenn nicht schnell und radikal gehandelt wird. Um die „Plastikmüllwelle" zu stoppen, muss das „Betriebssystem" der Wertschöpfungskette verbessert werden.
 
 
Designprinzipien der zirkulären Wertschöpfung: So kann die Wirtschaft vom „Schädling' zum „Nützling' werden. (vgl. Ellen MacArthur Foundation 2015) 
Die Ressourcenproduktivität erhöhen
Die Beispiele bei Mobilität, Landnutzung und Plastik zeigen die Notwendigkeit für einen Prämissenwechsel. Was aber ist ein ökonomisches Modell, das nicht die beschriebenen systemischen Fehler birgt? Wie kann die Abkehr von einer linearen Wertschöpfung – die Ressourcen nimmt, nutzt und wegwirft – funktionieren? Eine Antwort lautet: die Ressourcenproduktivität erhöhen, also Wohlstand und Lebensqualität mit geringem Ressourceneinsatz erreichen.

Auf der einen Seite müssen wir dazu unser Energiesystem dekarbonisieren. Hier vollzieht sich gerade ein massiver Wandel in Richtung erneuerbarer Energien. Außerdem gilt es den industriellen Sektor – Produktion und Konsum – zu dematerialisieren, das heißt deutlich weniger oder keine Ressourcen mehr zu extrahieren und stattdessen die bereits gewonnen Ressourcen besser zu nutzen. Auf dieser Grundlage können wir hochproduktive, zukunftsfähige Systeme schaffen – Mobilitätssysteme, Ernährungssysteme, Gebäudesysteme – die sich am Gedanken der zirkulären Wirtschaft orientieren. Im Zentrum der regulatorischen Debatte steht deshalb ein neues Paradigma, das „nachhaltiges Wachstum" und aktuell vor allem auch eine „Green Recovery" sichert.
 
Der Zukunftsplan
Vormals „grüne" Themen sind Dreh- und Angelpunkt der politischen Agenda und treiben den wirtschaftlichen Wandel. Der European Green Deal (EGD) berührt deshalb alle Politikbereiche: von Dekarbonisierungszielen für 2030 und 2050 über neue Mobilität und eine neue kreislauforientierte Industrie bis hin zu internationalen Handelsverträgen und dem geplanten „Carbon Border Adjustment Mechanism", der verhindern soll, dass Industrien aufgrund von Klimaschutzmaßnahmen aus Europa verdrängt werden. Was besonders wichtig ist: Der Green Deal ist nicht nur ein Plan zur Förderung von Europas Nachhaltigkeit. Er ist – in den Worten von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – ein Investitionsplan für Europa: ein Plan, der Wachstum und Wohlergehen der Menschen in Einklang bringen soll. Und so sind auch der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Umsetzung des EGD zwei Seiten derselben Medaille. Es geht nicht darum, die beiden Ziele gegeneinander auszuspielen. Die ökologischen Ziele des EGD sind sinnvoll, ihre Umsetzung jedoch ohne bedeutenden Systemwandel nicht möglich. Zu groß sind die oben beispielhaft erwähnten Ineffizienzen und systemischen Fehlstellungen, die unser aktuelles Wirtschaftssystem mit sich bringt. Deshalb gilt es zu fragen: Was ist notwendig, um die ökologischen Ziele eines EGD zu erreichen?
 
Zehn Prinzipien für die europäische Wirtschaft
Gemeinsam mit dem Club of Rome hat SYSTEMIQ zehn Prinzipien für das übergreifende System der europäischen Wirtschaft erarbeitet – einen System Change Compass (siehe Abbildung). Er beschreibt die klare Vision eines neuen Systems, definiert die notwendigen Interventionen und soll die Akteure mobilisieren und befähigen. Gesamthaft muss dieses Wirtschaftssystem entkoppelt von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen funktionieren. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die zirkuläre Wertschöpfung. Um diese zirkuläre Wertschöpfung als Basis für ein neues Wachstumsmodell zu etablieren, braucht es Produkt- und Systeminnovationen, die auf nachhaltigen Designprinzipien fußen, die sich an einer Regenerationsfähigkeit des Gesamtsystems orientieren und drei Ziele verfolgen:
  • Vollständige Entkopplung von nicht erneuerbaren Ressourcen
  • Maximale Nutzung der physischen Ressourcen
  • Minimierung bzw. Eliminierung negativer externer Effekte
Die Ausgestaltung der Designkriterien muss zwischen einem Gebrauchsgut und einem Verbrauchsgut unterscheiden. Verbrauchsgüter betreffen den Kreislauf biologischer Stoffe und werden so gestaltet, dass die Ressourcen nach der Nutzung wieder sicher in die Biosphäre eintreten können. Gebrauchsgüter werden so gebaut, dass sie immer wieder genutzt werden können, also primär im Sinne einer Wiederverwendung. Und erst nach ihrem Gebrauch, am Ende ihrer Lebensdauer, werden sie in ihren einzelnen stofflichen Bestandteilen, im Sinne eines Recyclingloops, in den Kreislauf zurückgeführt.
 
Von der Produkt- zur Leistungsökonomie
Je kleiner ein Loop der Wiederverwendung, desto geringer ist der für eine erneute Nutzung eines Produkts erforderliche Ressourcen- und Energieaufwand, und desto höher der bewahrte Wert, wie Michael Braungart und William McDonough es in ihrem Konzept „Cradle to Cradle" darstellen.
 
Hierzu ist ein Übergang von einer Produktökonomie hin zu einer Leistungsökonomie wichtig: ein Wechsel vom Verkauf eines Produktes hin zu einem Geschäftsmodell, das sich auf die zu Grunde liegende Leistungseinheit fokussiert – also keine Kühlschränke, sondern Frische anbietet, keine Reifen, sondern gefahrene Kilometer etc. Durch einen solchen Wechsel werden Anreize zur nachhaltigen Produktoptimierung auf den Produzenten übertragen (z.B. Qualität und Lebensdauer).
 
Eine Anwendung dieser Designprinzipien auf unsere aktuellen Wertschöpfungssysteme verfolgt nicht nur ökologische, sondern vor allem auch ökonomische Vorteile durch eine bessere, günstigere und produktivere Güter- und Dienstleistungsversorgung. Hier entsteht ein Feld für Wachstum und Innovation. Start-ups, die Elemente der Kreislaufwirtschaft optimieren, sind hier bereits auf dem Wachstumspfad. Ebenso lässt sich beobachten, wie Pioniere, beispielsweise aus dem deutschen Mittelstand, durch Anwendung zirkulärer Prinzipien echte Wettbewerbsvorteile auf- und ausbauen. Vor allem im Bereich der ressourcenintensiven physischen Systeme führen digitale Technologien zur Virtualisierung, und damit zu massiver Dematerialiserung – und fördern so wichtigen Wandel und eine Verschiebung des Wettbewerbs (z.B. Zoom versus Flüge).
 
Fazit: Der globale „Reset" erhöht den Handlungsdruck. Akteure sollten sich deshalb nicht nur auf eine zirkuläre Optimierung ihrer eigenen, aktuellen Wertschöpfung fokussieren und dringend handeln, sondern auch eine übergreifende Ambition zur zirkulären Systemtransformation im Blick haben. Die Lösungsansätze zur zirkulären Systemtransformation fokussieren sich auf eine nachhaltige Erfüllung menschlicher Bedürfnisse als Systemleistung. Entsprechende Wertschöpfungsmodelle und geschlossene Materialkreisläufe verbessern die Ressourceneffizienz und setzen auf verstärkte Kollaboration und neue Plattformen der Zusammenarbeit. So entstehen nachhaltige Wachstumsmotoren und echte Dekarbonisierungspfade für Industrien und Regionen. Jetzt besteht die Chance, genau an der Zukunft zu bauen, die wir uns für die Menschheit wünschen.

Dr. Manuel Braun arbeitet an vielseitigen Praxis- und Forschungsprojekten im Bereich Nachhaltigkeitsökonomie und Kreislaufwirtschaft. Er schafft Koalitionen für einen nachhaltigen Systemwandel in den Bereichen Energie, Materialwirtschaft und Landnutzung und ist Dozent für Nachhaltigkeit und Innovation an der Technischen Universität München.

Dr. Bertram Kloss arbeitet an zwei wesentlichen Ansatzpunkten für den Systemwandel. Zum einen unterstützt er Unternehmen und Wirtschaftsinstitutionen dabei, nachhaltige und profitable Geschäftsmodelle für eine Kreislaufwirtschaft zu entwickeln und zu implementieren. Zum anderen arbeitet er mit Wissenschaftler*innen, nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission daran, die Ziele des European Green Deal umzusetzen und die systemischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Anreize für eine nachhaltige Wirtschaft zu schaffen.


Dieser Artikel ist in forum 01/2021 - SOS – Rettet unsere Böden! erschienen.

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