Der Kreis des Lebens

Weit mehr als ein Bauernhof von morgen

Demeter- und Permakultur-Bauernhof, Kompetenzzentrum, Ausbildungs- und Vorzeigeprojekt: In den Schweizer Alpen entsteht ein innovatives Projekt, das den Kreislauf des Lebens ins Zentrum aller Überlegungen stellt. Es zeigt, wie Visionen die Welt verändern können.

© Cercle de VieNoch ist Château-d’Oex ein Dorf wie viele andere in den Schweizer Alpen. Schmucke Chalets, Landwirtschaft, 3.500 Einwohnerinnen und Einwohner. Bäche strömen hörbar. An einem dieser Bäche steht ein Haus. An seiner Fassade ein Milchautomat, der Krüge und Kannen für ein paar Münzen mit frischer Milch von gehörnten Kühen befüllt. Drinnen: ein recht großer Bioladen und zwei Ferienwohnungen. Ein paar Schritte weiter: ein Second-Hand-Geschäft und eine Kunstgalerie, die dasselbe Logo tragen wie der Bioladen. Man wird das Gefühl nicht los: Irgendetwas Größeres geht vor in diesem Château-d’Oex.

Esther Mottier sitzt an ihrem Küchentisch, keine 200 Meter entfernt von besagten Geschäften, und versichert: „Ach, das ist erst der Anfang." Der Anfang wovon? Nun, das lässt sich nicht in einem oder zwei Sätzen zusammenfassen. Drei Fakten sind allerdings rasch erzählt. 1. Es handelt sich um ein Projekt, welches bereits seit über zehn Jahren besteht. 2. Sein Name: Votre Cercle de Vie, dein Lebenskreis. 3. Wenn alles gut geht, wird noch in diesem Jahr endlich die Baubewilligung erteilt. Für einen Bau, wie er weit und breit einzigartig ist. Entstehen soll ein moderner Landwirtschaftsbetrieb, der allen zugänglich ist und gleichzeitig eine Infrastruktur für die moderne Symbiose von Mensch, Tier und Natur bietet.

Vom kranken Kind zur Visionärin
„Eines führte zum anderen": Ein Satz, den die Projektleiterin Esther Mottier wiederholt spricht. Und der sich auf einen Ursprung zurückführen lässt: Esther Mottier war ein krankes Kind. Selten in der Schule, dafür umso aufmerksamer im Beobachten und Umgang mit den Tieren auf dem elterlichen Bauernhof. Schon mit zehn Jahren wusste sie, was sie vom Leben will: Menschen helfen und Landwirtin sein. In der Oberstufe wurde sie dann innert weniger Monate gesund, dank der naturheilkundlichen Praktik eines lokalen Drogisten. Und da in Esther Mottiers Leben immer eines zum anderen führt, wurde sie erst einmal Drogistin und lernte während der Lehre ihren späteren Mann Nicolas kennen. Auch er war wie sie in einer Bauernfamilie mit vier Kindern aufgewachsen.

Das Paar teilte von Beginn an den Wunsch, die Dinge anders zu machen. Es übernahm nach ein paar beruflichen Schlenkern den Betrieb von Nicolas’ Eltern sowie zwei weitere angrenzende Höfe und stellte diese schrittweise auf Bio und Biodynamik um. Bald war klar: Die Tierhaltung in diesen Kleinbetrieben ist nicht mehr zeitgemäß. „Wir wussten: Ebraucht ein neues Gebäude für die Tiere. Aber sicher kein normales", sagt Esther Mottier und lacht.

Ein offenes Ohr: Was braucht ihr?
Esther und Nicolas Mottier setzen sich seit Jahren für eine nachhal­tige und innovative Entwicklung in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheit und Ernährung ein. © Fred Grangier
Dann – man ahnt es – führte eines zum nächsten. Erste Ideen für eine Art „Agriturismo" mussten größeren Visionen weichen. Das Ehepaar Mottier besuchte europaweit vieles: von modernen Höfen bis zu ländlichen Kongresszentren. In dieser Phase befragten sie alle, die ihnen in den Sinn kamen, nach ihren Bedürfnissen: „Wir wollten alles wissen. Von: Was braucht eine Hotelreinigungskraft, um gut arbeiten zu können? Bis hin zu: Was brauchen Kaderleute, um sich optimal fortzubilden und für eine bessere Welt einzustehen?"

Einst fertiggestellt, wird Votre Cercle de Vie vieles beherbergen: den Landwirtschaftsbetrieb, ein Seminarzentrum, 22 Hotelzimmer, ein holistisches Restaurant, Naturheilpraxen, Wellness-Angebote, Permakultur, Ausbildungsplätze, um die wichtigsten zu nennen. Das Ziel sei nicht, eine Wohlfühlinsel zu schaffen, „sondern einen Ort, wo Menschen erleben, dass es möglich ist, im Einklang mit der Natur zu leben. Wo sie sich entspannen und weiterbilden können. Um dann ihren Beitrag für eine nachhaltige Zukunft zu leisten. Denn was unsere Welt jetzt wirklich braucht, ist Veränderung, die von allen angetrieben wird", erklärt Esther Mottier im Schulterschluss mit ihrem Mann.

Kreisläufe im Mittelpunkt
Das visionäre Paar sieht einen Ort vor sich, der sich das Beste aus allen Welten holt. „Wir glauben nicht, dass Veränderung schwer und mühsam sein muss. Wir müssen nicht zurück in die Vergangenheit. Sondern einen neuen, modernen Zugang zur Natur finden. Wir wollen sowohl moderne Hightech-Möglichkeiten als auch erprobte Lowtech-Methoden nutzen. Was eben am sinnvollsten ist." Sie nennen das: Technologie imDienste des Lebens.

Auf der anderen Seite ist die Natur für das Projekt die wichtigste Inspirationsquelle: „Wir denken nicht linear. Votre Cercle de Vie, wie der Name schon sagt, stellt Kreisläufe in den Mittelpunkt jeder Überlegung. Darum ist das Projekt so komplex wie die Natur selbst." Ein Beispiel dafür ist die Energiebeschaffung. Biogas als Energielieferant liegt als Landwirtschaftsbetrieb nahe. „Aber wir hörten von allen Seiten, wir seien zu klein für eine eigene Biogas-Anlage." Esther Mottier recherchierte, bis sie eine Lösung fand: Quh-Energie, eine Schweizer Firma, die sich auf individuelle Biogas-Anlagen aus Hofdünger spezialisiert hat. Diese sind zudem noch ein großes Stück effizienter als die herkömmlichen Riesenanlagen. Aus dem Gas entstehen Wärme, Gas zum Kochen, Strom und es soll dereinst auch die landwirtschaftlichen Geräte antreiben. Wenn die Bauernfamilie samt Tieren die Sommermonate auf der Alp verbringt, wird die Anlage von den lokalen Landschaftsgärtnern gefüttert. Das sei bereits abgemachte Sache. Kein Detail, an das Esther Mottier nicht gedacht hat – und für das sie bis anhin noch keine Lösung gefunden hat.

Beweisen, dass es geht
Sie sitzt noch immer an ihrem Küchentisch und zeigt aus dem Fenster ihre Tiere: Schafe, Ziegen, Ponys, Hasen, Hühner, Säue, Kühe. Viele davon Rassen, die vom Aussterben bedroht sind, „für die Biodiversität". Vielfalt ist ihr ohnehin ein besonderes Anliegen. Votre Cercle de Vie solle ein Ort für alle sein: für die Wirtschaftselite und Familien. Für die lokale Bevölkerung und für Besucher von weit her. Für das Individuum und für große Gesellschaften. Der geplante Outdoorbereich mit Amphitheater wird Platz für mehrere Tausend Menschen bieten – für Festivals und auch für Hochzeiten.

Esther Mottier zeigt noch immer aus dem Fenster, dieses Mal auf die grüne Wiese hinter ihrem Haus: Der Hauptbau wird dort quasi aus der Erde herauswachsen. Ein Gebäude, das zwischen all den charakteristischen Chalets zweifelsohne für Aufmerksamkeit sorgen wird. Aber die Projektleiterin und ihr mittlerweile vierköpfiges Team lassen sich nicht beirren. Weder von regionalen Bauregeln, noch vom kantonalen Behördenwirrwarr.

Die bereits spürbare Präsenz im Dorf ist ein Resultat dieser unermüdlichen Energie, die seit einem Jahrzehnt in das Projekt gesteckt wird. Die Ferienwohnungen entstanden, um Erfahrungen zu sammeln in puncto Hotellerie. Der Bioladen, um der Region eine gesunde und nachhaltige Lebensweise zu vermitteln. Die Kunstgalerie, um die Region zusammenzubringen und Events zu veranstalten. Das Second Hand-Geschäft, um allen die Möglichkeit zu geben, sich auch im Kleinen finanziell am Projekt zu beteiligen. Auch hier: Diese Beispiele sind nur ein Bruchteil der Veranstaltungen, Nebenprojekte und Initiativen, in die Esther Mottier und Votre Cercle de Vie involviert sind. Die Ziele: Erfahrungen sammeln, sowie den Behörden und der Bevölkerung zeigen, dass es „für ein Bauernpaar" möglich ist, ein so großes Projekt zu stemmen.

Nach über zehnjähriger Projektarbeit erfolgte vor einigen Monaten die Baueingabe für Votre Cercle de Vie. Wenn alles gut läuft, wird noch im laufenden Jahr die Bewilligung erteilt. Dem Baubeginn 2022 steht dann nichts mehr im Weg. „Dann geht es eigentlich erst richtig los", sagt sie, lacht abermals kräftig heraus und lässt spüren: Zum einen gilt das Lachen dem Respekt vor der Riesenaufgabe und zum anderen der Vorfreude, dass es endlich soweit zu sein scheint.

Noch ist Château-d’Oex ein Dorf wie viele andere in den Schweizer Alpen. Aber nicht mehr lange.

Gabriella Alvarez-Hummel ist freie Journalistin für die Themen Gesellschaft, Umwelt und Lateinamerika sowie Co-Gründerin der Textagentur Büro Luz. Zusammen mit Simon Hofmann arbeitet sich in der forum-Redaktion Schweiz.

Wirtschaft | Lieferkette & Produktion, 01.12.2021
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig 04/2021 stellt sich grundlegenden Fragen zur Veränderung - Systemwandel - wie wird die große Transformation zur Realität? erschienen.
     
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