Krise und Chance
forum-Interview mit Dr. Yorck Otto
Herr Dr. Otto, Sie hielten am 16.
November 2015 eine Rede zum Thema Integration von Migranten als Chance
für Deutschland. Wenige Tage zuvor, am 13. 11. 2015, ereigneten sich die
brutalen Attentate in Paris. War es schwierig für Sie vor dem
Hintergrund dieser Ereignisse?
Natürlich waren diese Ereignisse fürchterlich.
Aber gerade die Attentate in Paris, die Aktivitäten von Isis auf der
einen Seite und unsere Bemühungen, die davor fliehenden Menschen in
unserer Kultur und Gesellschaft zu integrieren, auf der anderen Seite,
verlangen Mut, Offenheit und Engagement. Angst ist nie ein guter
Ratgeber. Sie reduziert die Eigenverantwortung, die ja auch ein
besonderes Merkmal von Mittelständischen Unternehmen ist. Mit meinen
Ausführungen wollte ich Mut machen.
Wie beurteilen Sie den jetzigen Status der Krisenbewältigung?
Die Wucht und die Komplexität der Ereignisse
sind so groß, dass in Szenarien gedacht werden muss. Es konnte nicht
ohne Konsequenzen bleiben, wenn Diktatoren weggebombt und danach ihre
Völker ihrem Schicksal überlassen werden. Es kann nicht ohne
Konsequenzen bleiben, wenn in den Flüchtlingslagern in Syrien,
Jordanien, der Türkei oder anderswo die Versorgung durch das
UN-Hilfswerk einfach halbiert wird. Jeder von uns, der Kinder hat, hätte
das gleiche getan und lieber die 50%-Chance einer Meeresüberquerung
gewagt, als vor Ort im Bombenhagel auf Hilfe zu hoffen. Die Probleme
waren zu erwarten.
Wer deshalb jetzt an Separieren innerhalb der EU und an Grenzzäune denkt, sollte auf Soldatenfriedhöfe gehen und nachdenken. Denn jeder Krisenherd auf dieser Welt geht uns alle gemeinschaftlich an. Wir müssen als Erstes die Einigkeit Europas stärken. Die EU ist kein Wunschkonzert, in dem alle nur die angenehmsten „Lieder" für sich heraussuchen können. Als Präsident eines großen Mittelstandsverbandes muss ich hier tief im Thema und auch im Dialog mit vielen Menschen sein.
Welche Herausforderungen kommen auf Deutschland zu?
Wir wissen alle, dass Deutschland dramatisch
überaltert und die sozialen Sicherungssysteme jetzt schon aus den Fugen
geraten. Mindestens 10 Milliarden Euro müssen künftig jedes Jahr von
staatlicher Seite aufgewendet werden. Auch die großen
Industrieunternehmen schlittern durch die immensen Zusagen bei
Firmenpensionen auf ein enormes Problem zu. Die kürzlich
bekanntgewordenen Forderungen der Lufthansa-Mitarbeiter zeigen dies
überdeutlich. Schon in den nächsten zehn Jahren wird die Zahl der
Erwerbstätigen um rund 4,5 bis 5,5 Millionen schrumpfen. Nach
VDI-Angaben müssen allein bis ins Jahr 2040 710.000 Ingenieure
altershalber ersetzt werden. Das sind 42 Prozent des aktuellen
Bestandes. 400.000 Ausbildungsplätze konnten in diesem Jahr nicht
besetzt werden. Die Arbeitslosenquote ist auf den niedrigen Stand von
circa 2,63 Millionen gesunken.
Was bedeutet das konkret für die Integration der Migranten in Deutschland?
Bei einer solch alternden Bevölkerung und
mangelnder Ausbildungsbesetzung kann Deutschland sein Wohlstandsniveau
nur dann aufrechterhalten, wenn die Wirtschaft längerfristig um mehr als
zwei Prozent wächst. Sonst sind dramatische Einschnitte in den sozialen
Systemen unvermeidbar. Mehr noch: Es wird so sein, dass bei einem
sinkenden Arbeitskräfteangebot auch die Investitionen und die
Kapitalausstattung der Volkswirtschaft sinken werden. Deutschland würde
an Stärke, Innovationskraft und weltpolitischer Bedeutung dramatisch
verlieren! Jeder zweite Flüchtling ist unter 25 Jahre alt. Ein ideales
Alter also für Arbeitsleistung und Ausbildung. Es bleiben 42 Jahre für
die Einzahlung in die Rentenkassen. Daher: Flüchtlinge sind zunächst
eine enorme finanzielle Belastung. Mit Sicherheit! Aber entgegen mancher
Vorurteile werden sie niemandem seine Arbeit wegnehmen.
Wie schätzen Sie die Rolle des deutschen Mittelstandes bei dieser Jahrhundertaufgabe ein?
Ich möchte noch einmal auf ein paar Zahlen
zurückkommen, ehe ich auf Ihre Frage eingehe. Der deutsche Mittelstand
stellt 99,5 Prozent aller Unternehmen Deutschlands dar und beschäftigt
38,5 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn also jemand die
Flüchtlinge, die Arbeit suchen, in eigenverantwortliche Arbeit und
Ausbildung führen kann, dann ist es der deutsche Mittelstand.
Sehen Sie auch Hindernisse auf dem Weg
der Integration? Nicht alle sind gewillt, dem Statement der Kanzlerin zu
folgen: „Wir schaffen das".
Ich habe im Moment mehr Sorge über die
Anhänger derer, die in vielen Städten das „Spiel" Wer hat Angst vor dem
schwarzen Mann spielen wollen und danach Asylheime anzünden, aus Angst
vor dem Vater, der seine vierjährige Tochter im Mittelmeer verloren hat
und sie noch nicht mal auf Lesbos beerdigen konnte. Aber: Jede Ordnung
zerstört sich selbst, wenn es keine klaren Regeln gibt. Die lückenlose
Erfassung aller Zuwanderer ist daher ebenso zwingend wie die Information
über unsere Werte.
Der Philosoph Karl Popper schrieb einmal über die Bedeutung und die wirtschaftliche Stärke einer offenen Gesellschaft:
„Wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten!"
Das ist für uns Mittelständler ja bekannte Praxis. Wir sollten hier auch die alte chinesische Weisheit heranziehen, die das gleiche Schriftzeichen für Krise und Chance hat. Deutschland ist in einer guten Position und langfristig nicht zuletzt aufgrund der demografischen Veränderungen in der Verpflichtung, jetzt zu investieren, jetzt zu handeln, jetzt mit Mut Entscheidungen zu treffen und dabei das Europa der offenen Gesellschaft nicht aus dem Blick zu verlieren. Für unser Wohl und auch das Wohl der Menschen, die bei uns Schutz und eine Zukunft suchen.
Herzlichen Dank für dieses Gespräch und die offenen Worte.
ist Präsident der Union Mittelständischer Unternehmen UMU und Geschäftsführer und geschäftsführender Inhaber der Dr. Yorck Otto Gruppe in München.
Gesellschaft | Migration & Integration, 01.01.2016
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2016 - Herausforderung Migration und Integration erschienen.
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