Die Reise zum sichersten Ort der Erde
Ein spannendes Gespräch zwischen Regisseur Edgar Hagen und Produzent Vadim Jendreyko zum Thema radioaktive Atomabfälle und deren Endlagerung.
Vadim Jendreyko: Wie bist Du darauf gekommen über die Endlagerung von atomaren Abfällen einen
Film zu machen?

VJ: Ist das Moment des Verdrängens, das Dich auch in anderen Filmen beschäftigt hat, ein Schlüsselthema
in diesem Film?
EH: Ja. Und ich habe festgestellt, dass die Verdrängung nicht ein nationales Problem ist. In ganz verschiedenen
Ländern und politischen Strukturen werden ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, taucht
immer wieder dasselbe Dilemma auf. Also habe ich nach einer Figur gesucht, die dieser internationalen
Dimension gerecht wird – die bis ans Ende der Welt geht um eine Lösung zu finden – und habe dann
Charles McCombie gefunden.
Er sucht eigentlich sehr pragmatisch nach einer Lösung. Das erwarten die Industrie, die Wissenschaft
und die Politik von ihm. Er stellt sich der Herausforderung: Eine Nation braucht ein Endlager? Ok, ich
such euch eins. Er forscht, wie es geht, und versucht zu beweisen, dass es geht. Für mich ist das nicht
der ideale Weg, sondern der pragmatische. Das hat nichts mit Gut und Böse zu tun. Er bewegt sich
jenseits von Gut und Böse, weil er das tut, was wir glauben kollektiv tun zu müssen. Daraus erwächst
die Frage: Wohin kommen wir, wenn wir diesen Weg einfach immer so weiter gehen?
Dabei war mir klar, dass mich weder überholte Konzepte interessieren, wie zum Beispiel die Idee,
den Atommüll ins Weltall zu schiessen, noch besonders skandalöse Verfahrensweisen, wie sie heute
beispielsweise in Russland betrieben werden, wo grosse Mengen hochradioaktiven Mülls unter haarsträubenden
Bedingungen zwischengelagert werden.
Es ging mir im Gegenteil um die Auseinandersetzung mit den am weitesten fortgeschrittenen und
seriösesten Bemühungen im Umgang mit Atommüll, und Charles McCombie ist ein glaubwürdiger,
prominenter Vertreter dieses Lagers.
VJ: Was macht für Dich den Reiz dieses Protagonisten aus?
EH: Das interessante ist, dass wir ideologisch nicht im gleich Boot sitzen. Wir haben uns schon bei unserem
ersten Treffen darauf geeinigt, dass es nicht darum geht, dass ich so denken muss wie er oder
umgekehrt, sondern dass wir fair miteinander umgehen. Das heisst auch, dass ich ihn mit seinem
Glauben an diese Technologie und an diese Industrie respektiere. Zu einem «Kampf mit Argumenten»
war er bereit, da hat er keine Probleme.
VJ: Hat er den Film gesehen?
EH: Ja. Er hat immer gesagt: «Wenn ich einen Film machen würde, dann würde ich ihn so kontrovers
wie möglich machen.» Auch um die Kontroverse zu zeigen, in der er steckt. Für ihn ist das nicht neu,
er lebt seit Jahrzehnten in dieser Konfliktzone. Er hat ein Endlager-Projekt, will das Projekt durchsetzen,
das Projekt stürzt ab, weil aus der Sicht der Industrie irgendwelche Uneinsichtige das verhindern. Das heisst, die Grenzen, an die McCombie mit seinen Projekten immer wieder stösst, ist eine x-mal erlebte
Realität. Dass der Film eben diese Grenzen darstellt, damit hat er keine Probleme.
VJ: Von einer spannenden Idee zu einem Film ist es ein weiter Weg. Kannst Du beschreiben, wie es von
der Idee zur Realisierung gekommen ist?
EH: Dass die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt wird, war sehr anspruchsvoll: Da ist zum einen
die offizielle Seite, die Industrie und die Staatsmacht, und zum anderen die Gegner und Atomkritiker.
Ich musste vor allem wissen, worüber ich spreche – nicht Physiker werden – aber ich musste fundierte
Kenntnisse der Problemlage haben. Es ist ein sehr komplexes Feld. Viele Treffen und Gespräche waren
nötig. Die Herausforderung beim Dreh war, was überhaupt gefilmt werden könnte. Zum Beispiel sind
wir 2010 bei den Recherchen noch in die Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield reingekommen
und haben einen Probedreh machen können. Wir hatten es geschafft da drin zwei Tage zu drehen,
auch wenn wir viele Sachen nicht sehen durften. Aus Sicherheitsgründen, wie es hiess. Zum Beispiel
die Lagerbecken – riesige, gigantisch grosse Lagerbecken von abgebrannten Brennelementen, die in
Sellafield zum Teil noch unter freiem Himmel stehen. Und dann als wir 2012 nach dem Reaktorunfall in
Fukushima nochmals drehen wollten, war alles dicht. Die haben niemanden mehr reingelassen. Ein anderes
Beispiel ist die Nagra, die Schweizer Atommüll-Entsorgungsorganisation. Ich habe immer wieder
versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen und bin immer wieder abgewimmelt geworden. Ich wollte mit
einer Gruppe von Parlamentariern nach Schweden und Finnland. Zweimal haben sie mich ausgeladen.
VJ: Wie erklärst Du Dir das?
EH: Im Westen ist die Atomindustrie in der Defensive. Ganz anders in China, dort herrscht atomare
Aufbruchsstimmung wie bei uns Anfang siebziger Jahre. Ich weiss nicht, ob die Chinesen sich gedacht
haben, dass wir eine Propagandaorganisation der westlichen Atomindustrie seien oder so. Auf jeden
Fall haben wir dort einen relativ offenen Geist erlebt, und haben als erste westliche Filmcrew auf
Baustellen und in Kontrollräumen eines Atomkraftwerks filmen können und die Reise zum geplanten
Endlagerort in der Wüste Gobi gemacht.
VJ: Mir ist aufgefallen, dass im ganzen Film kaum Frauen vorkommen. Sind diese Technologie und
deren Folgen ein Männerthema?

VJ: Es gibt weltweit heute über 300‘000 Tonnen hochradioaktiven Abfall und täglich kommt mehr
dazu. Völlig unabhängig davon, ob man für oder gegen Atomkraft ist, ist dieser Müll ein unumstösslicher
Fakt für uns alle. Was siehst Du für eine Perspektive?
EH: Der Schwede Johan Swahn sagt im Film, dass wir in erster Linie nichts Einfältiges tun sollten. Also
wenn wir nicht sicher sind – und bisher gibt es weltweit keine sicheren Konzepte – dann sollten wir
keine unwiderruflichen Tatsachen schaffen, und den Müll so entsorgen, dass er nicht mehr zugänglich
ist. Diese Ansicht teile ich. Meine Botschaft ist: Wir müssen uns mit den Dingen auseinander setzen.
Jeder auf seine Art und mit seinen Möglichkeiten. Wir brauchen Leute, die sich damit beschäftigen, wir
brauchen Transparenz und es ist wichtig, dass mit einer gewissen Offenheit darüber gesprochen wird.
Das heisst, man muss wirklich offener werden in diesem Diskurs um – Lösung ist das falsche Wort – um
überhaupt einen Schritt weiter zu kommen mit diesem Problem.
VJ: Du sagst, dass man zur eigenen Unsicherheit stehen sollte.
EH: Ich glaube das ist die Stärke einer Gesellschaft. Wenn man an Demokratie glaubt, oder an offene
Gesellschaften, dann nur so. Für mich ist das nur ein Beispiel, dieser Atommüll. Wir haben ganz viele
solche Leichen im Keller. Zum Beispiel wie wir mit Ressourcen umgehen. Wie wir in zwei, drei Generationen
Rohstoffe verbraten, was wir alles aus der Erde nach oben holen, und was das für Auswirkungen
aufs Leben hat. Es gibt Leute, die sich mit der Klimathematik beschäftigen und zu verheerenden
Schlüssen kommen. Es geht letztlich um die Frage: Haben wir
überhaupt eine Vision für die Zukunft? Das ist glaube ich die Frage hinter dem Ganzen. Woran glauben
wir eigentlich?
VJ: Der Film zeigt eine bestimmte Hilflosigkeit von Seiten der Wissenschaftler. Egal auf welchem Kontinent,
überall stossen sie an dieselben Grenzen.
EH: Wir haben rund um den Globus die Orte mit den ernsthaftesten Projekten besucht. Finnland haben
wir ausgelassen, weil sie dort nach denselben Plänen wie in Schweden arbeiten: Man bohrt runter
in den Granit – weil man in Skandinavien überall nur Granit hat –, wo es überall nass ist. Das heisst,
man braucht einen Behälter aus Kupfer. Nicht wegen der Strahlung, sondern um das Wasser abzuhalten.
Doch man weiss nicht, wie lange ein Kupfermantel wirklich dicht ist.
VJ: Wie will man das herausfinden?
EH: Ich weiss es nicht. Der chinesische Wissenschaftler Ju Wang sagt im Film: «Wir haben in sehr
kurzen Zeiträumen Untersuchungen gemacht, um hochzurechnen, was in sehr langen Zeiträumen geschehen
wird.» Ju Wang ist der Einzige im Film, der sagt, es gehe nicht um hunderttausende sondern
um Millionen von Jahren. Ein Chinese benennt dieses Problem. Vielleicht, weil er sich als Geologe, der
seine Wurzeln nicht in der Atomindustrie hat, dieser Thematik wirklicher annimmt.
VJ: Um was für Zeiträume geht es denn?
EH: Der radioaktive Zerfall von Radionukliden wird in Halbwertszeiten berechnet. Nach einer Halbwertszeit
beträgt die Radioaktivität nur noch die Hälfte des Anfangswerts, nach zwei Halbwertszeiten
einen Viertel und so weiter. Die Halbwertszeit von Plutonium liegt bei 24‘000 Jahren. Gefährlich bleibt
es über ein vielfaches dieser Zeit. Hochradioaktiver Atommüll aus Atomkraftwerken ist immer ein
Cocktail aus unterschiedlichen Abfallstoffen, deren Halbwertszeiten bis zu mehreren Millionen Jahren
umfassen können. Dazu kommen chemische Reaktionen, die sehr schwer vorhersehbar sind. Was da
alles passiert, kann keiner mit letzter Gewissheit sagen. In Hanford, in Washington State zum Beispiel,
lagern flüssige Abfälle in unzähligen Stahltonnen, die korrodieren und lecken, und niemand weiss was
da genau drin ist und was da drin passiert. Der Cocktail sickert ins Grundwasser, in den Columbia River,
der fliesst durch den ganzen Staat Washington bis an die Grenze zu Oregon und schliesslich ins Meer.
VJ: Gibt es eine positive Botschaft, die Du dieser ganzen Hilflosigkeit und Machtlosigkeit gegenüberstellst?
EH: Die positive Botschaft ist: Wir müssen uns mit dem Problem beschäftigen. Wir brauchen Strukturen,
wir brauchen Transparenz. Wir brauchen junge Leute, die sich damit beschäftigen. Ein Endlager
wird ja nicht einfach übermorgen realisiert. Das wird unglaubliches Know-how brauchen, und dazu
braucht es Leute die sich damit beschäftigen, Geologen, Wissenschaftler, eine unabhängige Politik,
die das hinterfragt, was ihr die Wissenschaft erzählt, und eine Gesellschaft, die diesen Leuten auf die
Finger schaut.
VJ: Die positive Botschaft ist also die Stimulation, die durch diese Herausforderung entsteht? Die Stimulation,
diesen Zusammenhängen offensiv gegenüber zu treten, mit Neugier und Offenheit und zu
einer konstruktiven Haltung zu finden?
EH: Ja, sodass man sagt: wow, das ist wirklich eine wahnsinnige Geschichte, die wir da angehen müssen.
Was für eine Herausforderung!
VJ: Hast Du ihn gefunden, den sichersten Ort der Erde?
EH: Für mich ist das so ein Jules Verne Titel. Er beinhaltet ein Versprechen. Es ist das Versprechen, das
wir als Gesellschaft ständig machen ohne zu wissen, ob wir es überhaupt einlösen können. Ju Wang
bezieht sich im Film darauf, wenn er sagt: «Sag nicht: der sicherste Ort der Erde, sag: einer der sichersten
Orte.»
VJ: Nach diesem Gespräch versteh ich den Titel auch so, dass der sicherste Ort der Erde der Raum in
einer Zivilgesellschaft ist, in dem sie sich mit diesen Dingen auseinandersetzt. Nicht irgendwo tief, tief
im Untergrund sondern im Parlament oder in der öffentlichen Debatte, weil das lebendig bleibt, solange
es Menschen gibt und auch länger hält als Kupfer.
EH: Ja. Das heisst, wir müssen im Gespräch bleiben – wir können nicht einfach blind vertrauen. Wir
müssen einen kritischen, einen lebendigen Diskurs führen.
VJ: Im Film kommst Du selber vor. Warum hast Du Dich für diese Form entschieden?
EH: Ich habe gemerkt, dass ich die Leute vor der Kamera nicht alleine lassen konnte, ich wollte ja
nicht Darstellungen haben von den Leuten, sondern ich wollte sie in der Interaktion erleben, mit allen
Widersprüchen. Es macht auch die Intention deutlich, den involvierten Personen auf Augenhöhe zu
begegnen. Mein gesprochener Text ist dann die Verlängerung davon. Weil ich den Film aus dieser
Perspektive erzähle, hat sich mir diese Form aufgedrängt. Ich wollte das Grosse mit dem Kleinen konfrontieren.
VJ: Du meinst die grosse Atomthematik mit einem einfachen Menschen?
EH: Ja. Deshalb ist es auch wichtig, unmittelbare und einfache Fragen im Film zu stellen, zu zeigen
was passiert, wenn ich einer grossen Thematik mit einer einfachen Fragestellung begegne. Eigentlich
macht der Film ja nur das, er geht einfachen Fragen nach, und dabei lehne ich mich etwas zum Fenster
hinaus.
Lesen Sie in forum nachhaltig Wirtschaften 02/2015 mehr über den Film "Die Reise zum sichersten Ort der Erde" sowie über weitere spannende Filme und Dokumentationen.
Technik | Energie, 01.04.2015
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2015 - Nachhaltige Mode erschienen.

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