Nachhaltigkeit im Einkauf? Fehlanzeige

Wie ein ESG-Score für Millionen Artikel zum Wettbewerbsfaktor werden kann

Hunderte Millionen Artikel werden weltweit in digitalen Katalogen und Bestellplattformen gehandelt. Bürostühle, Schutzhandschuhe, Computer, Flipcharts, Klebebänder, Müllsäcke, Werkzeuge – Unternehmen und Kommunen kaufen diese sogenannten indirekten Materialien jährlich für viele Milliarden Euro ein. Nachhaltigkeit spielt dabei kaum eine Rolle. Nicht, weil grünere Produkte teurer sind. Sondern weil es Einkäufern nicht möglich ist, Fußabdruck oder Sozialverträglichkeit der Produkte zu vergleichen. Das soll sich ändern. Mit einem ESG-Score.

Abbildung 1: Der ESG-Score schafft Bewusstsein für und Transparenz über die Nachhaltigkeit von Standardprodukten. © ESG ScoreESG-Kriterien? Echte Detektivarbeit beim Einkauf 
Wer beim Online-Shopping Umweltbewusstsein an den Tag legt, weiß, wie umständlich und unzutreffend die Suche ausfallen kann: Man gibt den Begriff „Monitor nachhaltig" ein – und bekommt zig Produkte mit Energieeffizienzklasse F (ziemlich schlecht) angezeigt. Zwei oder drei der gelisteten Monitore sind mit einem grünen Blatt oder ähnlichen Siegeln markiert. Was das im Sinne der Nachhaltigkeit bedeutet, muss man sich erst einmal erarbeiten – durch Klicks in die Produktdetails mit mehr oder weniger langen Beschreibungen. Der Privatmensch nimmt sich vielleicht die Zeit – der Procurement Manager eines Industriekonzerns ganz sicher nicht. Hier zählt Prozesseffizienz. Deshalb gibt es Filter. Für Größe, Farbe, Preisrange, Hersteller, Marke, Lieferzeit.
 
Und für die Nachhaltigkeit des gewünschten Produktes? Fehlanzeige. „Transparenz über ESG-Kriterien herzustellen, bedeutet einen extrem hohen Aufwand", sagt Jan Bussiek. Er muss es wissen, schließlich leitete er das Marketplace Management bei Unite Mercateo – neben Amazon Business eine der größten B2B-Handelsplattformen. In seiner Verantwortung: Produktinformationen bereitstellen, mit denen Einkaufende eine fundierte Kaufentscheidung treffen können.
 
Für Bussiek zählte Nachhaltigkeit klar dazu. Doch das ist gar nicht so einfach! „Für ein verlässliches ESG-Benchmarking müssen je Warengruppe passende Bewertungskriterien definiert werden und Nachhaltigkeitsdaten für jedes einzelne Produkt vorliegen", erklärt er. Das für tausende von Warengruppen umzusetzen, ist prohibitiv teuer, deshalb macht es keine Shopping-Plattform. Unternehmen erst recht nicht.
 
Abbildung 2 zeigt die ESG-Score-Kennzeichnung in der Procurement-Plattform wescale, die von Konzernen wie Bosch, Mercedes und Siemens genutzt wird. © ESG Score Vom Müsli zur Marktlücke
Auf die Lösung dieses Problems kam Jan Bussiek im Supermarkt. Am Müsli-Regal erleichterte ihm der Nutri-Score die Auswahl der gesündesten Produkte. Geboren war die Vision: Was für Lebensmittel funktioniert, lässt sich doch auch auf die Waren in digitalen Katalogen übertragen! Zum Beispiel in Form eines universellen ESG-Scores, einer Art Nachhaltigkeitskennzeichnung, die auf einen Blick zeigt, wie ein Produkt in Sachen Umwelt, Menschenrechte und Unternehmensführung abschneidet…

Er gründete die Ratingagentur SUSTAYNR, holte versierte Mitstreiter*innen an Bord und gewann 2023 fünf große Konzerne, die die Idee verstanden – und Geld gaben. Zusammen mit Fördergeldern aus dem HighTech-Gründerfond standen plötzlich 1,1 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Startkapital ermöglichte die Entwicklung des ESG-Scores. 700.000 Standardartikel hat das Unternehmen seither unter die Lupe genommen.
 
Die Kriterien zu Umwelt- und Sozialverträglichkeit sowie zu Governance stammen aus der Analyse von über 5.000 Kapiteln der Zertifizierungsrichtlinien von sogenannten Typ-1-Gütezeichen, zu denen auch der Blaue Engel gehört. Sie sind objektiv nachprüfbar und nicht diskriminierend, und sollen in Abstimmung mit unabhängigen Institutionen laufend weiterentwickelt werden, erklärt Jan Bussiek. Jeden Monat berechnet und veröffentlicht SUSTAYNR Scorings für über 100 Warengruppen. Das jeweils beste Produkt einer Gruppe erhält einen ESG-Score von 100. Bei allen anderen Artikeln leitet sich dieser daraus ab, wie viel Prozent vom jeweiligen Highscore erreicht wurden. 

Effizienter Hebel: Beschaffungsplattformen
Große Konzerne und öffentliche Verwaltungen verhandeln mit ihren Lieferanten Rahmenverträge, die die kundenspezifischen Kataloge in Einkaufsplattformen wie wescale einstellen. Dort konnten Mitarbeitende schon immer nach Preis, Lieferant und vielen anderen Kriterien filtern; seit kurzem auch nach dem ESG-Score (siehe Abbildung 2). Das erleichtert die Auswahl immens.
 
Wer es ganz genau wissen will (oder für die Erfüllung von Regularien belegen muss), kann die Bewertungskriterien und Nachhaltigkeitsdaten zu jedem Produkt einsehen – und in Excel downloaden (Abbildung 3). Jan Bussiek freut der Impact, den das Scoring zu entfalten beginnt: „Allein über unsere bisherigen Kunden beeinflussen wir die Einkaufsentscheidung von über 300.000 Mitarbeitenden – ohne dass wir jeden einzeln ansprechen müssen!"
 
Abbildung 3: Ein bisschen wie Stiftung Warentest: transparente Detailansichten hinter jedem ESG-Score zeigen: Nach welchen Kriterien wurde bewertet, mit welchen Daten aus welchen Quellen? © ESG ScoreSchluss mit der Formularflut
Wie dringend einheitliche Standards gebraucht werden, zeigt sich am Beispiel „Beschaffung durch die Öffentliche Hand": Rund elftausend Kommunen in Deutschland haben die gleichzeitig sehr klare und sehr unklare Vorgabe, nachhaltig zu beschaffen, wenn wirtschaftlich vertretbar. Klar daran ist: Nachhaltigkeit ist Pflicht. Unklar: Was genau gilt als nachhaltig – und was als wirtschaftlich vertretbar? Die Folge dieser Vorgabe sind unzählige Leitfäden, in denen tausende Verwaltungen ihre eigenen Bewertungskriterien definieren.
 
Das wäre nicht notwendig, denn die zu bewertenden Produkte unterscheiden sich weder von Kommune zu Kommune noch von Verwaltung zu Verwaltung. Der Bürokratieaufwand geht endgültig durch die Decke, sobald Beschaffungsverantwortliche Produkte mit den beschriebenen Kriterien bewerten wollen. Sie stellen dann fest, dass ihnen die Nachhaltigkeitsdaten fehlen und fordern Hersteller oder Händler auf, die gewünschten Informationen bereitzustellen. Die ertrinken in der Flut individueller Fragebögen!
 
Damit macht das zentrale Register ESG-Score.org Schluss: Hersteller geben hier einmalig ihre Daten ein, Verwaltungen und Unternehmen greifen darauf zu und können die Nachhaltigkeit für jedes einzelne Standardprodukt auf einen Blick erkennen und vergleichen.

Marktanreiz für bessere Produkte
Mittlerweile nutzt mit Schleswig-Holstein das erste Bundesland ESG-Score.org; der Elektronikanbieter Conrad und andere Branchen-Giganten zeigen Interesse. Für Jan Bussiek geht damit die Saat auf: „Der ESG Score beginnt zum Standard zu werden, der die gewünschte Wirkung entfaltet."
 
Und die könnte gewaltig sein: Denn wenn Online-Shops nachhaltige Artikel kennzeichnen, wird das Einfluss auf den Beschaffungsmarkt haben. Bisher war es zum Beispiel in Ausschreibungen nicht möglich, Produkte diesbezüglich zu differenzieren. Wer die vorgegebenen Mindestanforderungen erfüllte, blieb im Rennen – egal, wie groß die Unterschiede bei der Nachhaltigkeit waren.
 
In Zukunft könnten Kaufentscheidungen anders ausfallen: Ein hoher ESG-Score macht die besseren Produkte sichtbar – und lenkt damit die Nachfrage. Im Vergleich zwischen gleich teuren Artikeln, wird das nachhaltigere gewinnen. Transparenz und Vergleichbarkeit schaffen somit Anreize für eine umwelt- und sozialverträgliche Produktion. Nachhaltigkeit wird endlich belohnt. 

Nachhaltiger Marktwirtschaft den Weg ebnen
Transparenz und Vergleichbarkeit sind für Jan Bussiek die entscheidenden Faktoren für die Transformation hin zu einer nachhaltigen Marktwirtschaft. Doch für den Systemwandel braucht es das Mitwirken vieler. „Wir haben erste große Konzerne und öffentliche Auftraggeber wie Schleswig-Holstein, München und Stuttgart, die den ESG-Score im Einkauf nutzen. Die Einkaufsplattformen Crowdfox, TEK-Service und wescale haben den ESG-Score bereits eingebunden. Und Zertifizierer wie der Blaue Engel, EU Ecolabel, Cradle-to-Cradle und viele weitere geben uns ihre Daten. Aber: Das sind noch zu wenige!" Sein Appell an öffentliche Verwaltungen, Unternehmen, Hersteller und Zertifizierer: „Macht mit! Denn nur gemeinsam ist die gesellschaftliche Transformation zu schaffen."
 
Mehr über den ESG Score erfahren – oder direkt ausprobieren unter: www.esg-score.org 
 
Hinweis: Dieser Beitrag ist die Langversion des gleichnamigen Artikels aus der forum-Ausgabe 04/25 „Zukunft gestalten"

Dieser Artikel ist in forum 04/2025 - Zukunft gestalten erschienen.



     
        
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