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Fritz Lietsch

Pioniergeist in der Garage

Der Kampf um ein wirklich 100 Prozent biobasiertes Next-Gen Material

Ein konsequentes Next-Gen-Material – entwickelt von einem der führenden Leder­hersteller? Kaum vorstellbar. Aber einmal Pionier, immer Pionier. Das gilt für den "Leatherman" Tom Schneider, der als Gerber und Unternehmer schon maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Lederherstellung umweltfreundlicher und eine internationale Leather Working Group eingerichtet wurde. Doch auch bei 100 Prozent bio­basierten Materialien will der internationale Vorreiter jetzt Maßstäbe setzen und bittet dafür um Mithilfe und Zusammenarbeit.

© COSM – HyphaLite© COSM – HyphaLite
ISA TanTec ist einer der größten Lederhersteller weltweit und hat seinen Hauptsitz in Macau, China, sowie Produktionsstätten in Vietnam und den USA. Tom Schneider, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Unternehmens, beauftragte 2019 die Leuphana Universität Lüneburg mit einer Studie, um innovative Materialien als zukünftige Alternative für Leder zu identifizieren. Die Ergebnisse waren vielversprechend: Besonders Pilze zeigten ein enormes Potenzial. Entschlossen, die Entwicklung voranzutreiben, stellte Schneider den engagierten Chemiker Dr. Reiner Hengstmann ein. Hengstmann bringt langjährige Erfahrung im Bereich Nachhaltigkeit mit, unter anderem von seiner Arbeit für Marken wie Puma und Hugo Boss. Die Umsetzung sollte in den TanTec Produktionsstandorten in Vietnam erfolgen. Doch dann kam der Corona-Lockdown und legte die Pläne vorerst lahm.

Das Versuchslabor im Schwarzwald
Schneider und Hengstmann, beide Deutsche, gingen für die Zeit des Lock-Downs nach Deutschland. Anstatt die Zeit untätig zu verbringen, verwandelten Schneider und Hengstmann, Schneiders Garage in ein provisorisches Labor. Sie bestellten Maschinen und Chemikalien und begannen mit der Entwicklung eines innovativen Materials, das auf Austernpilzen basieren sollte. Als organisches Trägermaterial wählten sie FSC-zertifizierte Viskose, ein Non-Woven-Material mit transparenter Lieferkette.

Die frischen Pilze wurden mit einem handelsüblichen Entfeuchter getrocknet und mithilfe einer elektrischen Kaffeemühle verarbeitet. Durch zahlreiche Versuche sammelten sie wertvolle Erkenntnisse, während sie gleichzeitig die Marke HyphaLite und die zukünftige ISA-Geschäftseinheit „COSM – Creation of Sustainable Materials" ins Leben riefen.

Ein neues, 100 Prozent biobasiertes Material
Ein Rohstoff für die Zukunft: Austernpilze bilden die Grundlage für das 100 Prozent biobasierte HyphaLite. © Monika Grabkowska für Unsplash+Ein Rohstoff für die Zukunft: Austernpilze bilden die Grundlage für das 100 Prozent biobasierte HyphaLite. © Monika Grabkowska für Unsplash+
HyphaLite kombiniert pflanzliche Rohstoffe wie regenerierte Cellulose, natürlichen Latex und Naturpigmente mit getrockneten Austernpilzen als Füllmaterial. Erste Muster wurden zur Prüfung ins Labor von ISA TanTec nach China geschickt. Über Videokonferenzen informierten Schneider und Hengstmann potenzielle Kunden und weckten frühzeitig Interesse an ihrem Material. Die „Garagenphase" erwies sich als wertvoll für die Materialentwicklung.

Ende 2020 kehrte das Team an den ursprünglich geplanten Standort in Vietnam zurück, wo die Entwicklung mit neuem Personal und Maschinen weiter vorangetrieben wurde. 2021 wurde HyphaLite intensiv getestet und 2022 schließlich auf den Markt gebracht.

Von Anfang an konsequent ökologisch
Von Anfang an setzten Schneider und Hengstmann auf ökologische Grundsätze. Für HyphaLite werden ausschließlich zertifizierte Rohstoffe verwendet, darunter FSC-zertifizierte Viskose und Lyocell sowie zertifizierter Latex. Die eingesetzten Chemikalien sind ZDHC MRSL-zertifiziert und besitzen das Cradle-to-Cradle-Materialgesundheitszertifikat. Hengstmann ist stolz auf das Ergebnis: „Das Material ist Oeko-Tex 100 zertifiziert, besteht alle Schadstofftests und ist zu 100 Prozent biobasiert sowie zu 93 Prozent biologisch abbaubar."

ISA TanTec nutzt zudem keine Pilze aus der Lebensmittelindustrie, sondern greift auf Pilz-Abfälle zurück, die nicht den Standards der Lebensmittelindustrie entsprechen. Diese Abfälle, die oft entsorgt oder als Futtermittel verwendet werden, bieten eine nachhaltige und wirtschaftliche Lösung für alle Beteiligten, denn der Ankauf von Ausschuss-Pilzen generiert zusätzliches Einkommen für regionale Pilzzüchter.

© Isa TanTec© Isa TanTec
Im Jahr 2023 wurde HyphaLite mit dem international anerkannten Green-Product-Award ausgezeichnet. Die Ergebnisse einer Lebenszyklusanalyse zeigen einen CO2-Fußabdruck von nur 4,17 kg CO2eq/kg (Leder ISA 10,4 / Leder konventionell 15 / Kunstleder 7,8 / Acry 15 / Polyester 9,6).
 
«Das Bewusstsein für Next-Gen Materialien muss geschärft werden, damit diese von den Konsumenten aktiv nachgefragt werden.»
Tom Schneider
 
Die Macht der Marken
Inzwischen verwenden 15 internationale Marken HyphaLite in ihren Schuhkollektionen. Über 40 weitere Marken prüfen das Material und geben Feedback für die Weiterentwicklung. Doch die Akzeptanz neuer Materialien ist bei den Schuherstellern begrenzt. Viele sind skeptisch und erwarten, dass neue Optionen nicht nur mit Leder, sondern auch mit synthetischen Materialien konkurrenzfähig sind – in Bezug auf Aussehen, Haptik und physikalische Belastbarkeit. Schneider warnt: „Das ist ein Verlangen, das jede Innovation abwürgt."

Trotz der vielversprechenden Eigenschaften von Next-Gen Materialien sind die Herausforderungen erheblich: Auch die Preise für diese neuen Materialien müssen mit bestehenden Optionen konkurrieren können. „Das ist eine „Quadratur des Kreises", wettert Schneider. Wir Hersteller sollen von Anfang an sicherstellen, dass unsere Produkte nicht nur ökologischer und billiger sind, sondern auch noch den hohen Erwartungen der Verbraucher und Marken gerecht werden.

Dabei bietet HyphaLite zahlreiche Vorteile gegenüber herkömmlichen synthetischen Materialien: einen geringeren CO2-Fußabdruck, die Verwendung nachwachsender Rohstoffe, keine Mikroplastikbelastung für Umwelt und Gewässer sowie eine angemessene biologische Abbaubarkeit.

Feuer und Flamme für Next-Gen
COSM hat sich als zweite Geschäftseinheit bei ISA TanTec etabliert und widmet sich der Entwicklung nachhaltiger Materialien. HyphaLite ist das erste erfolgreiche Produkt, das kontinuierlich weiter optimiert wird, um speziellen Kundenwünschen gerecht zu werden. Trotz dieser Fortschritte bleibt die Realität herausfordernd: Die Akzeptanz neuer Materialien ist bei Schuherstellern nach wie vor begrenzt.

Ein entscheidender Aspekt ist die Kommunikation. Material- und Schuhersteller sollten gemeinsam Kampagnen entwickeln, um Verbraucher besser zu informieren und ihr Interesse an nachhaltigen Produkten zu wecken. Das Bewusstsein für Next-Gen Materialien muss geschärft werden, damit diese von den Konsumenten aktiv nachgefragt werden.

HyphaLite ist nicht nur ein Schritt in die richtige Richtung, sondern ein Beispiel dafür, wie kreative Lösungen und Zusammenarbeit neue Standards in der Materialentwicklung setzen können. Die Herausforderung besteht nun darin, die Akzeptanz bei Herstellern und Verbrauchern zu erhöhen, um den Übergang zu einer nachhaltigeren Zukunft zu beschleunigen.
 
Von Fritz Lietsch
 
Der SDG#17 Appell zur Zusammenarbeit
  • Politik: geeignete Rahmenbedingungen dafür setzen, Materialien nachhaltiger zu erzeugen.
  • Akteure in der Wertschöpfungskette, allem voran die Marken in der Schuh- und Bekleidungsindustrie: nachhaltigere Materialien bevorzugen und dies offensiv und ehrlich dem Konsumenten kommunizieren.
  • Verbraucher: im Einkaufsverhalten nachhaltige Anbieter bevorzugen.
  • Medien: den Wandel flankierend unterstützen, damit die Veränderung in höchstmöglicher Geschwindigkeit erfolgt.

Weitere, spannende Information über die umweltfreundliche Herstellung von Leder, über die extreme Preispolitik der Marken, die scharfen Zertifizierungsvorgaben amerikanischer Hersteller und natürlich die Entwicklung wirklich nachhaltiger Next-Gen Materialien finden Sie auf forum im umfangreichen Interview mit Tom Schneider und Reiner Hengstmann.

Hinweis: forum berichtet 2025 über die Entwicklungen von Next-Gen Materialien – auch in anderen Branchen von der Auto- bis zur Stahlindustrie.

Dieser Artikel ist in forum 01/2025 ist erschienen - Pioniere der Hoffnung erschienen.

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