75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - ein Grund zum Feiern?
Für Christoph Quarch ein Anlass zu einer leidenschaftlichen Kampagne für den Humanismus bei gleichzeitigem Abschied vom Neoliberalismus.
Am 10. Dezember jährt sich zum 75. Mal die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde damit ein Dokument geschaffen, das den Anspruch erhebt, ein ethisches Fundament für das globale Miteinander zu formulieren – dessen Orientierungskraft allerdings seit Jahren erodiert: Der globale Süden, die arabische Welt aber auch Autokratien wie die Volksrepublik China stellen die Geltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Frage und erheben den Vorwurf, sie sei ein rein westliches Projekt. Haben die Menschenrechte ihre Strahlkraft eingebüßt? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, sind 75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte für Sie ein Grund zum Feiern?
Unbedingt. Bei allen möglichen Vorbehalten gegenüber der Entstehung und dem Wortlaut der Erklärung, muss man doch sagen, dass ihr Geist und Inhalt über allen Zweifeln erhaben sind. Die dreißig Artikel beschreiben nicht mehr und nicht weniger als die Bedingungen, die für ein menschenwürdiges Leben erfüllt sein müssen. Und es ist eine große zivilisatorische Errungenschaft, einen Rechtsanspruch auf diese Bedingungen zu formulieren. Wo immer die Würde von Menschen verletzt wird, ist es nun möglich, unter Bezugnahme auf die UNO-Erklärung zu intervenieren und die Wahrung der Menschenrechte einzufordern.
Organisationen wie amnesty internationalprangern Jahr für Jahr mehr Menschenrechtsverletzungen an. Auch die Geltung der
Menschenrechte wird zunehmend infrage gestellt. Wie berechtigt ist der Vorwurf,
dass es sich bei ihnen um ein rein westliches Projekt handelt?
Dass die Erklärung der Menschenrechte aus der
europäischen Philosophie hervorgegangen ist, kann nicht bestritten werden. Es
ist allerdings die Frage, ob man ihr das zum Vorwurf machen muss. Auch die
moderne Wissenschaft und Medizin sind Erzeugnisse der europäischen
Geistesgeschichte, aber man bedient sich ihrer trotzdem. Wahrscheinlich, weil
sie unstrittige Erfolge dabei haben, das Wohlergehen der Menschen zu verbessern.
Und könnte es nicht sein, dass es sich mit den Menschenrechten ähnlich verhält?
Es ist doch kein Zufall, dass die globalen Flüchtlingsströme immer die gleiche
Richtung aufweisen: dorthin, wo die Menschenrechte geachtet werden und wo
folglich ein würdevolles Leben möglich ist.
Was aber, wenn ausländische Potentaten sich mit dem
Hinweis auf die westlichen Wurzeln der Menschenrechte jegliche Kritik
verbieten? Ist dann nicht jede „wertebasierte Außenpolitik" – wie Frau Baerbock
sie vertritt – vergebliche Liebesmüh?
Ja und Nein. Ja, insofern man nicht erwarten kann,
dass sich Länder wie China, Saudi-Arabien oder der Iran von Appellen dieser Art
beeindrucken lassen. China lässt jede Intervention als Einmischung in die
inneren Angelegenheiten abperlen, islamische Staaten verweisen auf ihre
religiösen Rechtskonzepte. Aber deswegen zu fordern, Deutschland oder der
Westen sollten darauf verzichten, die Menschenrechte geltend zu machen, wäre
die falsche Konsequenz. Nichts ist in der internationalen Politik schädlicher,
als die eigenen Werte zu verleugnen oder den Eindruck zu erwecken, dass man
selbst nicht an sie glaubt. Nein: Gerade im Gegenüber zu Autokratien oder einem
aggressiven politischen Islam ist das konsequente Eintreten für die
Menschenrechte der einzige Wege, sich Glaubwürdigkeit und Respekt zu
verschaffen.
Aber ist es da nicht hinderlich, wenn man seinen
eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und sich Doppelmoral vorwerfen lassen
muss; etwa in der Migrationspolitik, wo man einerseits auf die Einhaltung der
Menschenrechte pocht und andererseits zulässt, dass Flüchtlinge im Mittelmeer
ertrinken.
Der Vorwurf der Doppelmoral ist insofern nicht ganz
unberechtigt, als die westliche Welt unter einer Art Schizophrenie leitet. Wir
glauben an die humanistischen Werte, die in den Menschrechten operationalisiert
worden sind. Und wie sollten wir auch nicht, wo sie doch intuitiv plausibel und
gut begründet sind? Gleichzeitig aber folgen wir einem Menschenbild, das mit
den Menschenrechten inkompatibel ist: Wir tun so, als sei der Mensch ein
rationaler Egoist, der nur seinen eigenen Vorteil verfolgt. Dieses Menschenbild
ist eingegossen in die Fundamente der globalen Ökonomie, deren Macht- und
Profitgier einer der Hauptgründe globaler Menschenrechtsverletzungen ist. Das
heißt: Der Westen hat das falsche Menschenbild globalisiert und muss mit
ansehen, dass seine richtige Ethik regionalisiert wird. Genau das muss dringend
revidiert werden. Dazu könnte dieses Jubiläum ein guter Anlass sein – ein
Anlass zu einer leidenschaftlichen Kampagne für den Humanismus bei
gleichzeitigem Abschied vom Neoliberalismus.
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