Social Media und Internetsucht: Was tun sie unserer Jugend an?

Der aktuelle Kommentar von Christian Kreiß

Ein Bericht des Bundesgesundheitsministeriums von Oktober 2022 zu den Folgen der Corona-Zeit auf den Drogen- und Medienkonsum legt erschreckende Zahlen offen. Demnach hat während der Corona-Zeit eine deutliche Zunahme des Medienkonsums von Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und jungen Menschen (18 bis 21 Jahre) in Deutschland stattgefunden. Auch Daten aus anderen Ländern sind erschreckend. Erste Länder gehen mit rigorosen Maßnahmen vor.
 
© Erik_Lucatero, pixabay.comDer Medienkonsum bei Jugendlichen beträgt laut dem Bericht des Bundesgesundheitsministeriums an einem typischen Wochentag derzeit fünf Stunden pro Tag (Schultag, Arbeitstag) und knapp sieben Stunden an freien Tagen. Sieben Stunden. Das ist fast die Hälfte der wachen Tageszeit. 2015 waren es noch knapp drei Stunden gewesen.

Etwa 60 Prozent der Jugendlichen und 57 Prozent der jungen Erwachsenen zeigen dem Bericht zufolge „ein problematisches Internetnutzungsverhalten". Mädchen betrifft dies noch häufiger als Jungen: Bei den Mädchen zeigen 67,7 Prozent, bei den Jungen 50,5 Prozent ein Internet-Suchtverhalten. Kurz: Drei von fünf Jugendlichen in Deutschland im Alter von 14 bis 17 zeigen derzeit ein „problematisches Internetnutzungsverhalten". Welche Auswirkungen hat das?

Mediennutzung und seelische Belastungen von Mädchen und jungen Frauen
Seit etwa 2015 zeichnet sich ein Trend zur Verschlechterung der geistig-seelischen Gesundheit junger Mädchen ab, was zu stark steigenden Selbstmorden und Selbstverstümmelung führt. Die Statistiken sprechen eine beeindruckende Sprache. Seit 2010 sind laut „economist" in elf Ländern die Krankenhausaufenthalte von Teenagerinnen wegen Selbstverstümmelung um 143 Prozent gestiegen. Bei Jungen stiegen sie um 49 Prozent. Als Hauptgrund dafür wird die stark zunehmende Nutzung von Social Media, insbesondere Instagram genannt. Smartphones sind demnach besonders gefährlich für Mädchen, weil Jungs sich mehr mit Videospielen beschäftigen und weniger mit „depressions-erzeugenden Social Media". Zahlreiche Studien, so der Zeitungsbericht, hätten gezeigt, dass Social Media Trauer und Angst bei Teenagern erzeugen können.

Laut „the Guardian", der sich Anfang 2021 auf eine Studie des British Journal of Psychiatry bezieht, haben in Großbritannien sieben Prozent aller Kinder mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch begangen und fast jedes Vierte beging einen Akt der Selbstverstümmelung im letzten Jahr. Davon waren besonders Mädchen betroffen. Als ein Grund wird genannt, dass „Social Media ein toxisches Umfeld" erzeugen können.

Im britischen Oberhaus gab es Anfang 2022 angesichts der steigenden Fallzahlen von Suiziden und Selbstverstümmelungen bei Mädchen eine umfangreiche Anfrage darüber, „welche Rolle Social Media beim Tod von Kindern in Großbritannien spielten, inklusive Selbstmorde, Selbstverstümmelung und Mord".

Die dunkle Seite von Facebook, Instagram und Marc Zuckerberg
Ab September 2021 veröffentlichte das „Wall Street Journal" eine ungewöhnlich umfangreiche Artikelserie zu Facebook. Dem Journal waren interne Unterlagen des Medienkonzerns zugespielt worden, die unter anderem die stark negativen Auswirkungen von Instagram auf die geistig-seelische Gesundheit insbesondere junger Mädchen aufzeigen. Laut den internen Unterlagen wussten Facebook und Mark Zuckerberg beispielsweise, dass 32 Prozent der Teenagerinnen sich nach Instagram schlechter fühlten, wenn sie sich bereits vorher schlecht gefühlt hatten. „Vergleiche auf Instagram können verändern, wie sich junge Frauen sehen und sich selbst beschreiben." Außerdem wusste Facebook demnach genau, dass Instagram süchtig macht.

Der Leiter des US-Gesundheitswesens: Keine Nutzung von Social Media unter 16
Mitte Juni 2023 erschien im „Wall Street Journal" ein Artikel mit der Überschrift: „Warum 16 das Mindestalter für Social Media sein sollte – Ein Plädoyer, Tiktok, Snapchat und Instagram für Kinder unter 16 zu verbieten". Da die Schäden von Social Media die Nutzen überwögen und da die bestehenden Gesetze Marketing und das Sammeln von Daten schützten und nicht die Sicherheit für Kinder, empfahl die Zeitung, analog dem Autofahren, Kindern erst ab 16 Jahren die Nutzung von Social Media zu erlauben. Das Wirtschaftsjournal berief sich dabei auf die Aussagen des Arztes Vivek Murthy.

Murthy ist Leiter des US-Gesundheitswesens. Er sagt, es gebe viele wissenschaftliche Hinweise darauf, dass die Nutzung von Social Media ab zehn Jahren zu der derzeitigen youth mental health crisis beitrügen. Murthy sieht diese als die gegenwärtig größte Herausforderung für das öffentliche Gesundheitswesen an. Ärzte und Politiker seien sich einig, dass 13 für die Nutzung von Social Media zu jung sei. Unter 16 seien die Jugendlichen viel zu empfindlich für Gruppendruck, Meinungen und Vergleiche. Das sind überraschende Aussagen in einem Wirtschaftsjournal, das sich für einen möglichst freien Kapitalismus einsetzt.

Auswirkungen der Mediennutzung auf die Jungs

Jungs nutzen teilweise andere Arten von Social Media, andere Computerspiele und sie reagieren meist auch anders als Mädchen auf Mediennutzung. Während Jungs die Aggression stärker nach außen leben, reagieren Mädchen oft mit Aggression nach innen (Autoaggression). Kriegs- und Killer-Simulationen wie fortnite, World of Warcraft, Call of Duty und so weiter werden mehrheitlich von Jungs und jungen Männern gespielt.

In seinem Film Fahrenheit 9/11 zeigte Michael Moore bereits 2004, wie im US-Militär junge Soldaten durch solche Spiele auf Kampfeinsätze im Krieg vorbereitet wurden. Diese Art von Kriegsspielen werden demnach vom Militär gezielt eingesetzt, um jungen Männern das Mitleid abzuerziehen, indem sie gegenüberstehende Soldaten nicht mehr als Mensch, sondern als zu eliminierenden Feind anzusehen. Aus Soldaten- beziehungsweise Kriegssicht macht das Sinn.

Umso erstaunlicher ist es, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen ohne nennenswerte öffentliche Diskussion diese Killer"spiele" spielen lassen. Altersschranken werden oft umgangen. Häufig spielen bereits Zehnjährige diese Art von Killer- und Ego-Shooter-Spielen. Was geschieht da in den Seelen unserer Kinder? Schon erwachsene Männer, US-Soldaten, sprechen offenbar auf diese Art Verrohung an und werden unmenschlicher. Um wie viel mehr trifft das auf Minderjährige zu?

Ich befürchte, dass nach ein paar Kohorten von Kindern und Jugendlichen, die mit diesen entseelenden Spielen besonders früh angefixt wurden, schlimme gesellschaftliche Folgen auf uns zukommen. Bei Millionen von jungen Männern werden dadurch meiner Meinung nach die Moralstandards gesenkt.

E-Sport-Verharmlosung
All dem zum Trotz werden Wettbewerbe bei Kriegs- und Killer-Simulationen als „E-Sport" gelabelt, also als elektronischer „Sport". Dies ist ein geschickter Schachzug der Lobbyisten und eine exakte Verdrehung der Wahrheit. Die derzeitige rot-grün-gelbe deutsche Bundesregierung plant laut Koalitionsvertrag sogar, E-Sport den Gemeinnützigkeitscharakter zu verschaffen, wodurch er durch Steuerprivilegien gefördert werden würde.

Gegenmaßnahmen
China hat Anfang August 2023 ein neues Gesetz vorgelegt, das die Zeit, die junge Menschen an Mobilgeräten zubringen dürfen, stark begrenzt. Laut Wall Street Journal werden diese Maßnahmen China gegenüber den anderen Ländern noch weiter voraus bringen.

Die Cyberspace Administration von China verlangt demnach von den Geräteherstellern künftig die Einführung von Zeitbegrenzungen. Die Maßnahmen seien geplant, um „die physische und geistige Gesundheit der jungen Menschen zu schützen". Die neue Gesetzesvorlage würde Kindern unter acht Jahren nur mehr maximal 40 Minuten pro Tag an Mobilgeräten genehmigen, Jugendlichen von 16 bis 18 maximal zwei Stunden pro Tag. Bereits seit 2021 dürfen in China Kinder unter 18 nur mehr maximal drei Stunden pro Woche (!) Videospiele spielen. China gehörte zu den ersten Ländern, welche die app-Anbieter dazu verpflichteten, einen „Jugendmodus" einzuführen, der die Bildschirmzeit sowie die Art der Nutzung limitiert. Von 22 bis 6 Uhr soll die Internetnutzung für Minderjährige weitgehend gesperrt sein.
 
Angesichts der weltweit zunehmenden Sorgen über Internet-Abhängigkeit und andere Krankheiten, wie zunehmende Teenage-Depressionen oder gestörte Sozialkompetenzen infolge starker Mediennutzung, haben laut Wall Street Journal bereits mehrere Länder Maßnahmen ergriffen, um die geistige Gesundheit ihrer Kinder zu schützen. Frankreich etwa hat im Juni 2023 ein Gesetz eingeführt, wonach tiktok, Instagram und andere Plattformen von unter 15-Jährigen nur mehr mit schriftlicher Zustimmung ihrer Eltern genutzt werden dürfen.

Prof. Christian Kreiß. © privatDas sind meiner Einschätzung nach erste, vielversprechende Schritte, um die geistig-seelische Gesundheit unserer Kinder vor dem Frontalangriff der gewinnmaximierenden Medienkonzerne zu schützen.
 
 
Christian KreißFrüher Investmentbanker, seit 2002 Professor für Finanzierung an der Hochschule Aalen und Autor zahlreicher Bücher, darunter das Buch "Werbung nein danke" (2016). Als Mitglied des Kuratoriums von forum Nachhaltig Wirtschaften skizziert er Wege in eine menschlichere Wirtschaft. Sein 1919 erschienenes Buch „Das Mephisto-Prinzip" kann auf dieser Website heruntergeladen werdenwww.menschengerechtewirtschaft.de

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