Zum Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine
Christoph Quarch fordert dazu auf, die EU als eine Wertegemeinschaft neu zu erfinden und zu positionieren
Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine hat US-Präsident Joe Biden in Kiew und Warschau der Ukraine erneut seine volle Unterstützung zugesichert und den Zusammenhalt der westlichen Staaten gewürdigt. Bei seiner Warschauer Rede unterstrich er zudem, dass sich die geopolitische Weltlage auf einen Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie zuspitzt – und dass er entschlossen ist, der Demokratie zum Sieg zu verhelfen. Wie kann das gelingen? Darüber sprechen wir mit dem Philosophen Christoph Quarch.
Herr Quarch, hat Biden recht: Ist der Krieg in der Ukraine das Symptom eines globalen Systemkonfliktes?
Der Krieg ist primär die giftige Frucht des unter Putin wiedererwachten russischen Imperialismus – um nicht zu sagen: Faschismus. Aber Biden hat schon recht: Dahinter steckt ein zunehmender Hass auf den sogenannten „Westen". Dabei geht es nicht nur um die Demokratie, sondern auch um Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Diesen Hass findet man nicht nur bei Putin, sondern auch bei Xi Peng, bei Erdogan, bei Netanjahu und bei vielen europäischen Rechtspopulisten. Was diese Leute eint, ist die Überzeugung, dass Politik nichts anderes ist als eine effiziente Herrschaftsausübung und ggf. gewaltsame Kontrolle der Menschen – eben das, was man Autokratie nennt. So gesehen: Ja, es gibt einen globalen Systemkonflikt und es ist das Unglück der Ukrainer, dass er derzeit in ihrem Land ausgetragen wird.
Die Ukraine ruft nach mehr Waffen und mehr Unterstützung. Die Panzerlieferungen stocken. Haben die westlichen Demokratien überhaupt schon begriffen, welche Stunde geschlagen hat?
Bidens Warschauer Rede war in meiner Wahrnehmung nicht nur nach Osten adressiert, sondern auch nach Westen. Ich denke, er will eine noch viel stärkere Allianz der westlichen Staaten schmieden. Dass er dabei eine US-amerikanische Führungsrolle reklamiert, ist selbstverständlich und berechtigt – schlicht, weil es der Realität der Machtverhältnisse entspricht. Daran sollten wir uns in Europa nicht stören, sondern es als Ansporn nehmen, noch viel enger zusammenzurücken und die EU als eine Wertegemeinschaft neu zu erfinden. Da passiert mir noch zu wenig. Ich denke, dass die Bundesregierung die von Kanzler ausgerufene Zeitwende bereits internalisiert hat. Beim politischen Europa bin ich mir da nicht so sicher.
Die EU ist kein Verteidigungsbündnis und kann von daher kaum Einfluss auf die militärische Lage in der Ukraine nehmen.
Das stimmt, aber in diesem geopolitischen Systemkonflikt geht es nicht nur um Verteidigungspolitik. Oder sagen wir so: Verteidigungspolitik kann sich nicht länger auf das rein Militärische beschränken, auch nicht auf Wirtschaftssanktionen oder dergleichen. Verteidigung in einem globalen Systemkonflikt kann und muss in den Köpfen der Menschen beginnen. Wir werden diesen Konflikt nur bestehen, wenn wir wissen, was es eigentlich zu verteidigen gilt: nämlich unsere Würde, unsere Freiheit, unsere Menschlichkeit, unsere Werte. Um unseren Wohlstand geht es dabei nur sekundär. Wohlstand gibt es auch in der Autokratie. Aber was ist Wohlstand ohne Freiheit? Nichts. Aber das müssen wir erst wieder lernen. Vor allem in Deutschland. Wir sind viel zu materialistisch geworden.
Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen?
Was ich mir wünschen würde, wäre eine Art europäischer Wertekonvent unter der Ägide der EU-Kommission: Wir sollten Kulturschaffende, Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler aus den Mitgliedsstaaten der EU für einige Wochen zusammenbringen, um eine Erklärung zu erarbeiten, die in aller Deutlichkeit das Wertefundament Europas benennt und so das Fundament für ein Europa 2.0 legt: ein in seinen Werten vereintes politisches und nicht bloß ökonomisches Europa. Wir haben viel zu lang den Westen als bloße Wirtschaftszone organisiert. Jetzt müssen wir ihn als politische Einheit neu definieren, und Europa kann dabei gemeinsam mit den USA vorangehen. Das wäre eine zeitgemäße Verteidigungspolitik – denn alle Wirtschaftskraft und militärische Stärke nützen uns nichts, solange wir uns nicht als starke Wertgemeinschaft gegen die autokratischen Aggressoren positionieren.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
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Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Politik, 19.02.2023
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