Haben wir in Katar unsere Werte verraten?
Christoph Quarch sieht hier die Politik in der Bringschuld und nicht den Fußball - und empfiehlt den sieben europäischen Fußballverbänden, die FIFA sofort nach der WM zu verlassen.
Kaum hat die Fußball-WM in Katar begonnen, da gab es schon den ersten Paukenschlag. Nein, nicht die Niederlagen von Argentinien und Saudi-Arabien sind gemeint, sondern das Verbot der FIFA, eine Kapitänsbinde mit der Aufschrift „One Love" zu tragen, wie es sieben europäische Verbände, unter anderem der DFB, vorhatten. Ein Zeichen für Menschenrechte und gegen Diskriminierung wollten sie damit setzen. Doch davon blieb nicht viel: Kleinlaut beugten sich die DFB-Verantwortlichen, und seither rollt eine Welle der Entrüstung durch das Land. „Schämt euch!" titelte eine große Zeitung, die Innenministerin und der Wirtschaftsminister schalteten sich ein und die Fußballprofis zeigten sich betroffen. Zuletzt reagiert die Mannschaft dann doch und posierte zum Mannschaftsfoto mit der Hand vor dem Mund. Trotzdem reißt die Diskussion nicht ab: Haben wir in Katar unsere Werte verraten? Darüber reden wir mit dem Philosophen Christoph Quarch?
Herr Quarch, hätte Manuel Neuer dem FIFA-Verbot zum Trotz beim Auftaktspiel die „One Love"-Binde tragen müssen?
Ich glaube, die Frage ist falsch gestellt. Sie suggeriert, es stünde in der Verantwortung der Spieler als moralischer Botschafter aufzutreten. Ja, Spieler einer Nationalmannschaft sind Repräsentanten ihres Landes. Aber in erster Linie sind sie Fußballspieler, und wir sollten sie nicht in eine Rolle drängen, für die sie nicht mandatiert sind. Zumal dann nicht, wenn von der FIFA offengelassen wird, welche Sanktionen ihnen drohen. Und hier liegt für mich der eigentliche Skandal: darin, dass die FIFA während eines laufenden Turniers neue Regeln schafft und par ordre du mufti verkündet. Klar macht der DFB hier keine gute Figur. Aber dessen Leute sind nicht die Hauptschuldigen. Schämen muss sich hier nur einer: Herr Infantino und seine Kumpanen, denn sie haben ihre Mitgliedsverbände in eine unmögliche Situation gebracht.
Machen Sie es sich da aber nicht zu leicht? Immerhin haben die deutschen Kicker dann ja doch reagiert und eine viel beachtete Geste gefunden.
Das war in der Tat ein starkes Zeichen. Sie haben da geschickt eine Lücke genutzt. Infantino dürfte geschäumt haben. Er hatte ja in seiner Kampfrede schon vor der WM-Eröffnung unterstrichen, dass er und seine FIFA-Vasallen nichts dulden würden, was dem gastgebenden Emir irgendein Unbehagen verursachen könnte. Das wusste man vorher, damit hat Infantino dankenswerterweise gezeigt, worum es hier am Ende wirklich geht: um einen schwelenden Kulturkampf zwischen aufstrebenden Autokratien wie Katar mit dem „Westen". Dass die FIFA sich hat kaufen lassen, diesen Kulturkampf auf den Schultern des Fußballspiels auszutragen, ist einfach nur furchtbar.
Aber müssen die westlichen Verbände nicht gerade deshalb für ihre Werte einstehen und Zeichen für die Menschenrechte setzen?
Ich gebe ehrlich dazu, dass ich keine eindeutige Antwort auf diese Frage finde. Einerseits halte ich es für wichtig, dass wir unserer Werte klar benennen und sie selbst glaubwürdig leben. Und daran hapert es zuweilen wirklich, wie Infantino – das muss man ihm lassen – moniert hat. Ob man seinen Werten allerdings dadurch dient, dass man symbolisch Zeichen für sie setzt, ist eine andere Frage; zumal, wenn die Zeichen wie „One Love" auf einen Aspekt der Menschenrechte weisen, den nicht alle anerkennen. In diesem Fall werden gut gemeinte Symbole zu Waffen in einem Kulturkampf, den man eigentlich nicht will und der auch gar nicht zu unseren Werten passt.
Aber man kann doch angesichts der Menschenrechtssituation in Katar nicht so tun als sei alles in Ordnung. Wollen auch Sie sich – wie Herr Infantino – bloß auf den Fußball konzentrieren?
Ganz und gar nicht. Ich glaube nur, dass die Situation so verfahren ist, dass man sich genau überlegen muss, was man will und was zu tun ist. Meine Antwort darauf wäre: Wir brauchen dringend eine Strategie, wie wir mit autokratischen Rohstoff-Lieferanten umgehen wollen. Solange Politik und Wirtschaft mit Katar schmusen, ist jede Symbolpolitik naiv. Hier steht die Politik in der Bringschuld und nicht der Fußball. Und was den angeht: Der Fußball muss möglichst schnell aus den Klauen der FIFA befreit werden. Wenn Infantino den Fußball zum Spielball in seinem – oder Katars – Kulturkampf macht, dann müssen sich alle Freunde des Fußballs diesem Missbrauch entziehen. Kurz: Die sieben europäischen Verbände sollten die FIFA sofort nach der WM verlassen – mit dem Ziel, sie zu zerschlagen. Écrasez l’infâme. Voltaires Schlachtruf gegen die Kirche hat einen neuen Adressaten gefunden.
Der Bestseller-Autor Christoph Quarch ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
In seinem neuen Buch "Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen" geht's um Fragen wie diese:
Wie kommt der Geist in unsere Unternehmen? – Durch Begeisterung! Und wie entsteht Begeisterung? Anders als die meisten glauben.
Als forum-Redakteur zeichnete Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
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