Hydrogen Dialogue 2024

Fahrplan für die Energiewende 

Durch Innovation eine nachhaltige Zukunft sichern

Der weltweite Umbau der Energiesysteme in Richtung Nachhaltigkeit geht über ein Bündel technologischer Maßnahmen weit hinaus. Wir reden über eine systemische Transformation von Infrastruktur sowie Industrien und den damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel. Treiber dieser Transformation sind die „3D": Dekarbonisierung, Digitalisierung und Dezentralisierung.
 
© ColiN00B, pixabay.comUm die Klimaschutzziele zu erreichen und eine nachhaltige Zukunft zu sichern, braucht es einen Innovationsansatz, der neue Technologien und Geschäftsmodelle sowie sektorübergreifende Kooperationen in einem globalen Partnernetzwerk in den Mittelpunkt stellt. Und eine Politik, die das richtige Maß von Marktkräften und Regulierung ansetzt, um Innovationskraft ordnend zur Entfaltung zu bringen. Im Folgenden skizziere ich einen groben Fahrplan, der Mut machen soll. Denn er zeigt: Nicht nur liegen die erforderlichen Maßnahmen auf der Hand – wir verfügen auch bereits über die Technologien, sie umzusetzen.

The „Big Picture"
Um die Dekarbonisierung voranzubringen und Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, muss der Ausbau der erneuerbaren Energien dramatisch zulegen. Laut dem Think Tank Agora Energiewende wächst der Stromverbrauch in Deutschland von 2030 bis 2045 um knapp 60 Prozent auf etwa 1.000 Terawattstunden. Im Jahr 2045, kalkuliert Agora, benötigen wir daher 385 Gigawatt Photovoltaik-Leistung und 145 Gigawatt Windenergie an Land. Erneuerbare Energie muss jedoch nicht nur erzeugt, sondern auch gespeichert und transportiert werden. Die Verteilnetze bilden daher das Rückgrat der Energiewende. Allein beim Energieversorger E.ON sind bereits heute europaweit rund eine Million erneuerbare Anlagen in die Netze integriert, darunter rund zwei Drittel aller Anlagen in Deutschland.

Dekarbonisierung braucht Digitalisierung
Zu diesem Ausbau der Erneuerbaren gehört eine konsequente Digitalisierung der gesamten energiewirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Das System, in dem Energie bisher zentral erzeugt und stufenweise zu den Verbrauchern verteilt worden ist, wird jetzt zu einem Netzwerk, in dem der Strom zunehmend dezentral, abhängig von Wind und Sonne, erzeugt und verbraucht wird. In den kommenden fünf Jahren wird allein E.ON zusätzliche 35 bis 40 Gigawatt erneuerbare Energien an die Verteilnetze anschließen. Zum Vergleich: Diese Leistung aus tausenden Solardächern, lokalen Windparks und Solaranlagen auf Freiflächen entspricht derjenigen von rund 30 Kernkraftwerken. Gleichzeitig werden in fünf Jahren über 20 Millionen Elektroautos auf Europas Straßen fahren. Die Lösungsansätze, um die erforderliche Elektrifizierung der verschiedenen Wirtschaftssektoren und weiterer gesellschaftlicher Bereiche zu bewältigen, sind vielfältig. Sie reichen vom möglichst flächendeckenden Ausrollen von Smart Metern (intelligenten Zählern) über die Digitalisierung von Stromverteilern bis hin zum Einsatz von künstlicher Intelligenz, Blockchain-Technologien, vorausschauenden Wartungsprozessen und vielem mehr.
 
Dekarbonisierung und Digitalisierung sind also Geschwistertrends. Um den digitalen Wandel zu meistern, braucht es jedoch mehr als effiziente Betriebsabläufe sowie transformatorische Produkte und Geschäftsfelder. Nötig ist auch ein kultureller Wandel zur Stärkung aller Akteure in ihren Digitalkompetenzen sowie die Einbindung von Kunden und Partnern.

Gas als Brücke zum grünen Wasserstoff
Damit ein frühzeitiger Kohleausstieg funktionieren kann, braucht es Gas als Brückentechnologie. Dabei geht es vor allem um Wasserstoff und „grüne Gase", die das Potenzial haben, ein zentraler Bestandteil der Dekarbonisierung zu werden – gerade für Deutschland als Industrieland. Neue Gaskraftwerke müssen vor diesem Hintergrund für den zukünftigen Betrieb mit grünem Gas ausgelegt werden und auch „H2-ready" sein. Wasserstoff ist die beste Lösung für Industrien, die sich mit der direkten Nutzung von grünem Strom nicht sinnvoll elektrifizieren lassen und daher einen gasförmigen oder flüssigen Träger grüner Energie benötigen. Langfristig muss Wasserstoff natürlich grün sein. Um aber den Einstieg in eine Wasserstoffwirtschaft zu ermöglichen und bereits kurzfristig CO2-Emissionen zu reduzieren, ist blauer Wasserstoff als Übergangslösung erforderlich und darf als solche nicht ausgeschlossen werden. Wichtig ist, dass der Markt schnell an Fahrt gewinnt und Erzeugungs-, Transport-, Verteil- und Importstrukturen entstehen. Gerade der Import ist angesichts der mangelnden europäischen Energieautarkie zentral.

Der Blick in die „Werkstatt der Energiewende"
Kommen wir vom „Big Picture" der Energiewende zu konkreten Innovationsbeispielen. In der neuen Energiewelt wird Strom von zahlreichen dezentralen Anlagen eingespeist und die Stromerzeugung zunehmend volatiler. Um die Netze für diese Bedingungen fit zu machen, müssen sie ausgebaut werden. Das kostet jedoch nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Flexible Speicher helfen diese zu überbrücken: Sie konservieren überschüssigen grünen Strom und stellen ihn bei Bedarf zur Verfügung. Damit werden Netzengpässe und die Abschaltung von Erzeugungsanlagen vermieden. Nach erfolgtem Netzausbau können die Speicher an den nächsten Ort versetzt werden. Zum Einsatz kommen sie vor allem, wo die Einspeisung von Grünstrom kurzfristig deutlich steigt. Das ist insbesondere in ländlichen Regionen der Fall. Mobile Speicherlösungen, wie im Rahmen des EU-Projektes IElectrix entwickelt, tragen zu einer flächendeckenden, sozial ausgewogenen Energiewende bei.

Zur Gestaltung der steigenden Komplexität der Energieinfrastruktur entwickeln wir zudem eine offene technologische Plattform namens e.Hub, auf der sich alle Teilnehmer des Energiesystems miteinander koordinieren können. Der große Vorteil digitaler Plattformen besteht darin, dass sich darüber die Netze beobachten, steuern und optimieren lassen. Stromangebot und -nachfrage werden so flexibel austariert.

Wie eine Smart-Grid-Intelligence aussehen kann, demonstriert das Aachener Start-up gridX. Es hat ein intelligentes Lastmanagementsystem an E.ONs Hauptsitz in Essen installiert, das dynamisches Laden von E-Fahrzeugen erlaubt. Sinkt beispielsweise der Stromverbrauch im Firmengebäude, laden mehr E-Autos gleichzeitig oder mit höherer Ladeleistung. Die Stromkapazität am Standort wird effizient genutzt – und das nahezu in Echtzeit. Ein besonderer Clou ist die Erweiterung des dynamischen Lastmanagements um künstliche Intelligenz. Die in Kooperation mit der Universität Duisburg Essen entwickelte, innovative Technologie ermöglicht es, historische Ladedaten und Kundengewohnheiten automatisiert einzubeziehen und damit den Ladevorgang noch weiter zu optimieren.

Digitalanwendungen helfen, Wissen zu generieren und Handeln entsprechend effizient auszurichten. Das sei abschließend anhand von Schaltschränken illustriert, die der Überwachung und Steuerung von Netzen dienen. Bei manueller Bedienung sind sie dazu angesichts der steigenden Netzkomplexität immer weniger in der Lage. Erst ihre Digitalisierung ermöglicht es, die Netze zu stabilisieren, Blackouts zu vermeiden und Kapazitäten zu optimieren, beispielsweise um E-Autos zu integrieren. Im Jahr 2022 soll es mehr als 3.000 digitale Schaltschränke geben, Ende 2026 in Summe schon 28.000.

Breite Innovationsbündnisse schließen
Die genannten Beispiele von mobilen Batteriespeichern über digitale Plattformen bis hin zu digitalen Schaltschränken veranschaulichen: Das Energiesystem der Zukunft ist dezentral. Es gibt eine Vielzahl interagierender Energieressourcen, die koordiniert und in die Netze eingebunden werden müssen. In dieser neuen Energiewelt ändert sich auch die Rolle der Kunden. Nicht nur konsumieren sie Energie, sie produzieren sie auch, werden also zu „Prosumern". Innovation geht also nur mit Kooperation – und zwar in einem diversifizierten Ökosystem von Start-ups über globale Unternehmen aus der Energie- und Technologiebranche bis hin zu Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen.

Der vielgestaltigen Innovations-Community sollte sich auch die Politik zugehörig fühlen. Sie muss über die Gestaltung des rechtlichen Rahmens die richtigen Anreize für die Energiewende setzen. Nötig ist in erster Linie ein Abbau von Bürokratie zur Erhöhung von Handlungsgeschwindigkeit. Öffentliche Planungs- und Genehmigungsverfahren sollten entschlackt und beschleunigt werden. Der Schlüssel liegt dabei in der konsequenten Modernisierung des komplizierten Steuer-, Umlagen- und Abgabensystems. Die Senkung der EEG-Umlage ist zwar zu begrüßen, reicht aber nicht aus. Zudem gilt es, bei der Regulierung neu entstehender Technologien wie Wasserstoff nicht dogmatisch, sondern pragmatisch zu agieren. Damit sich vielversprechende Innovationen im Sinne einer nachhaltigen Transformation der Wirtschaft durchsetzen können, braucht es gerade zu Beginn einen möglichst großen Handlungsspielraum. Anschließend kann Schritt für Schritt mit strengeren und feineren Regelungen nachjustiert werden.
 
„Gemeinsame Wertschöpfung durch wissenschaftliche Erkenntnisproduktion, technologische Schübe, unternehmerische Umsetzung und politische Steuerung", lautet zusammengefasst der Fahrplan für die Energiewende. Eine nachhaltige Zukunft ist machbar – nehmen wir sie in die Hand!

Thomas Birr ist Leiter Strategie & Innovation bei E.ON. Er verfügt über 30 Jahre Erfahrung in zahlreichen Führungspositionen im Energiesektor. Um Geschäftsmodelle für das digitale und dezentrale Energiesystem der Zukunft zu entwickeln, setzt er auf die Themen Führung und Organisationswandel.

Technik | Energie, 01.03.2022
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2022 ist erschienen. Schwerpunkt: Energiewende - Was wäre, wenn? erschienen.
     
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