Tamara Dietl
Gesellschaft | Globalisierung, 01.12.2021
Ein forum für die Zukunft
Die Transformation begleiten – den Wandel gestalten
Die Welt ist im Umbruch. Die Geschwindigkeit der Veränderungen wird immer schneller. Um diese Veränderung soll es in diesem Heft und in forum allgemein gehen: Um die große Transformation unserer Zeit – getrieben durch Digitalisierung, Globalisierung, durch Klimawandel, Artensterben und künstliche Intelligenz. Diese Transformation ist ein Stresstest und zugleich eine große Chance, neue Kompetenzen zu entwickeln. Eine Ermutigung zum handlungsorientierten Gestalten.

Der Übergang in das digitale Zeitalter lässt sich beispielhaft an meiner journalistischen Karriere beschreiben, denn als ich diese Mitte der 1980er Jahre begann, hatte ich mein Handwerk noch auf einer mechanischen Schreibmaschine gelernt, meiner guten alten Gabriele. Und als ich dann irgendwann meine erste elektrische Schreibmaschine bekam, war dies eine technische Revolution. Ganz zu schweigen von der unfassbaren Sensation, die der Einzug der ersten Computer in die Redaktionen auslösten. Und zur Erinnerung: Der Siegeszug des I-Phones, also der mobile Zugang ins Internet als Massenware, begann erst vor 14 Jahren, im Jahr 2007. 14 Jahre – das ist evolutionshistorisch betrachtet weniger als eine Nanosekunde und rein rechnerisch eine Zeitspanne, die noch nicht einmal eine Generation umfasst. Meine Tochter, die 2003 geboren wurde, ein hundertprozentiger digital native also, hat auch bei noch so großer Anstrengung keinerlei Vorstellung davon, wie das Leben ihrer Mutter im analogen Zeitalter aussah.
Kurzum, die Transformation, die wir jetzt erleben, ist eine fundamentale, ganzheitliche und evolutionäre Umwälzung der bestehenden Verhältnisse im Turbogang und im XXXL-Format, die uns den bisher (und vermeintlich) so stabil geglaubten Boden unter den Füßen ganz schön ordentlich ins Wanken bringt. Es ist die Volatilität, die wir spüren, die Unsicherheit, die daraus erwächst, die Komplexität, die uns zu überfordern scheint und die Ambiguität, die unser Weltbild erschüttert. Es ist die sogenannte „VUKA"-Welt, in der wir leben, deren Komplexität in schwindelerregender Beschleunigung exponentiell zunimmt – und über allem die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt.
Wandel im Turbomodus
Wer das bis jetzt nicht verstanden hat, den hat spätestens ein unsichtbares Virus mit dieser Realität konfrontiert. Bei der Corona-Krise handelt es sich um die erste globale, kollektive Krisenerfahrung. Sie beschleunigt die Umdrehungszahl der Umwälzungen noch einmal rasant und zeigt uns, wie verletzlich wir sind und dass eben nicht die Sicherheit der Normalzustand ist – sondern die Unsicherheit. Diese Erkenntnis war uns in den langen Wirtschaftswachstums-Wohlstandsjahren irgendwie abhanden gekommen. Denn psychologisch gesehen führt eine längere Zeit vergleichsweise stabiler Verhältnisse dazu, dass wir glauben, es könne immer so weitergehen wie bisher – ein Irrglaube, wie wir ihn gerade jetzt besonders schmerzlich spüren. Oder, um es mit den Worten eines bekannten CEO zu sagen: „Seit dem Ausbruch der Pandemie habe ich das Gefühl, aus einem Dornröschenschlaf aufzuwachen."
Ein weiteres böses Erwachen erlebten wir in diesem Jahr, als der Weltklimarat den ersten Teil seines erschütternden Berichts vorlegte. Der menschengemachte Klimawandel, vor dem uns Wissenschaftler seit den 1980er Jahren warnen, ist in voller Fahrt. Und wir müssen ihn JETZT aufhalten, wenn wir nicht in einer Katastrophe enden wollen. Die Vorboten dieser möglichen Katastrophe konnten wir in diesem Sommer in den Fluten-Bildern von Ahrweiler und der Hitze-Hölle in Griechenland und den USA erahnen.
Stress, lass nach
In der psychologischen Fachliteratur gibt es den Begriff der sogenannten „Dekompensationsgrenze", deren Überschreitung zu einer Krise führt. Dann nämlich, wenn wir die Summe der Stressoren, die auf uns einwirken, nicht mehr zu kompensieren in der Lage sind. Der Begriff der „Dekompensationsgrenze" gefällt mir im Zusammenhang mit den Krisen, die wir gerade erleben, gut, weil sie aus meiner Sicht durch das Überschreiten eben dieser Grenze gekennzeichnet sind. Oder, wie es die Weltgesundheitsorganisation beschrieben hat: „Die beschleunigten technologischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen sind für die enorme Steigerung des psychosozialen Stressniveaus mitverantwortlich und können durch die Sozialpolitik nicht mehr ausreichend abgefedert werden. Psychosozialer Stress gilt zunehmend als Schlüsselfaktor für eine Reihe von Leiden: Depressionen, Angststörungen, Alkoholismus, Erkrankungen des Herzens, Bluthochdruck, Medikamenten-Missbrauch, Neurosen und viele andere mehr...!"
Stress, so die WHO, ist zum Gesundheitsrisiko Nummer 1 des 21. Jahrhunderts geworden. Stress, was in seinem Ursprung Druck, bzw. Kraft bedeutet, ist eine physische und psychische Reaktion auf eine Bedrohung – nicht die Bedrohung selbst. Unser Alltagsgebrauch des Stressbegriffs bezieht sich meistens auf den sogenannten „Disstress", der auch als „negativer Stress" bezeichnet wird und Angst, Unsicherheit, Aggression, aber auch Hilflosigkeit oder Panik hervorruft. Unter Stress verengt sich unsere Wahrnehmung und wir reduzieren sie auf den sogenannten „Tunnelblick". Das bedeutet, dass die Fähigkeit eine Situation angemessen und halbwegs realistisch zu beurteilen, abnimmt. Und damit auch die Möglichkeit angemessen auf die Situation reagieren zu können. Das erzeugt ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Ohnmächtig ausgeliefert an eine Situation, die wir nicht mehr beeinflussen können.
Vom Erdulder zum Gestalter
Ich will hier nicht der Dystopie das Wort reden – ganz im Gegenteil – sondern plädiere vielmehr für neue Kompetenzen, mit denen wir den multiplen Krisen eben nicht ohnmächtig, sondern stark und wirkmächtig begegnen können. In der Motivationswissenschaft gibt es zwei kluge Begriffe, die deutlich machen, wohin die Reise gehen könnte. Die Antriebsforscher unterscheiden zwischen dem „lageorientierten Erdulder" und dem „handlungsorientierten Gestalter". Die psychologisch interessante Frage lautet nun: wie wird man zum handlungsorientierten Gestalter? Die Antwort auf diese Frage erhalten wir, wenn wir die sogenannte Resilienz-Kompetenz genauer betrachten. Also die Fähigkeit eines Menschen oder einer Organisation, sich trotz widriger Umstände, trotz Katastrophen und Krisen, Kümmernissen oder Krankheiten immer wieder zu fangen und neu aufzurichten. Resilienz wird auch das Geheimnis der inneren Stärke genannt. Doch so geheimnisvoll sind die Faktoren, die zu Resilienz führen, mittlerweile nicht mehr, denn sie sind umfassend erforscht worden.
Resiliente Menschen haben ein hohes Maß an sogenannter Selbstwirksamkeit, ihnen sind die Muster ihrer eigenen Stress-Reaktion bewusst und deshalb haben sie eine hohe Selbstberuhigungskompetenz. Sie verlassen die Opferrolle und konzentrieren sich auf ihre Möglichkeiten, nicht auf die Hindernisse. Sie pflegen stabile soziale Beziehungen, sind zu Mitgefühl und Empathie fähig und können sich Hilfe holen, wenn sie diese brauchen. Und last but not least – sie haben Humor! Ein Resilienzfaktor, der nicht zu unterschätzen ist. Denn auch Humor kann uns helfen, in die immer wieder so wichtige Distanz zu gehen – zu uns selbst, zu schwierigen Situationen und ja, auch zu der Welt, der VUKA-Welt da draußen. (s. Kasten mit Resilienzfaktoren)
Und noch etwas haben die Resilienzforscher herausgefunden: Resilienz ist nicht etwa eine angeborene Fähigkeit, sondern eine Kompetenz, die man erlernen kann.
Das Erlernen von Resilienz und die Bereitschaft Freundschaft mit der Unsicherheit zu schließen, also zu akzeptieren, dass nicht die Stabilität, sondern die Instabilität der Normalzustand ist – das nenne ich Krisenkompetenz. Es ist eine Fähigkeit, die für die Zukunft genauso wichtig werden wird, wie das Lesen- und Schreiben Können. Das gilt übrigens nicht nur für den Einzelnen, sondern auch ganz besonders für Firmen und Unternehmen.
In diesem Sinne – üben wir uns alle in Krisenkompetenz, denn starke Organisationen und kraftvolle Menschen werden dringend gebraucht. Gerade in Zeiten wie diesen.
Von Tamara Dietl
Resilienzfaktoren
1. Resiliente Menschen haben eine ausgeprägte Bereitschaft zur Selbstreflexion
2. Resiliente Menschen übernehmen Verantwortung
3. Resiliente Menschen verlassen die Opferrolle
4. Resiliente Menschen sind handlungs- und lösungsorientiert
5. Resiliente Menschen pflegen emotional stabile Beziehungen
6. Resiliente Menschen bleiben zuversichtlich
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Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig 04/2021 stellt sich grundlegenden Fragen zur Veränderung - Systemwandel - wie wird die große Transformation zur Realität? erschienen.
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