Trotzdem Ja zum Leben sagen

Der Weg zum Sinn des Lebens. Viktor Frankl hat vor 75 Jahren eines der großen Bücher der Menschheit geschrieben.

Es ist gerade heute, in unserer globalen Krisenwelt, aktueller denn je, denn es zeigt einen Weg zum Sinn des Lebens.
 
© Prof. Dr. Franz VeselyEs war meine 17-jährige Tochter, die mich während der zweiten Corona-Welle im November 2020 wieder auf das Buch von Viktor Frankl „...trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager" aufmerksam machte. „Es hilft mir gerade sehr", sagte sie, „die Corona-Situation besser durchzustehen, weil es mir zeigt, wie man mit noch viel, viel schlimmeren Lebenssituationen umgehen kann."

Also nahm auch ich es wieder zur Hand und erkannte einmal mehr die erstaunliche Aktualität von Frankl‘s Gedanken. Als Neurologe und Psychiater hat Viktor Frankl weltweit siebenundzwanzig Ehrendoktorwürden erhalten und insgesamt 39 Bücher veröffentlicht. Allein die amerikanische Ausgabe seines bekanntesten Buches „...trotzdem Ja zum Leben sagen" wurde bisher über zwölf Millionen mal verkauft. Die Library of Congress erklärte das Buch 1991 zu einem der zehn einflussreichsten Bücher Amerikas. Es wurde in fast dreißig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Spanische, Französische und Afrikaans, ins Japanische, Chinesische, Russische, Koreanische, Hebräische und Persische. Und der Philosoph Karl Jaspers nannte es eines der großen Bücher der Menschheit.

Mensch sein heißt Sinn finden
Das Buch, das Frankl über seine Erfahrungen schrieb, die er in den zweieinhalb Jahren machte, in denen er in insgesamt vier Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert war und die er nur mit knapper Not überlebte, dieses Buch ist auch für mich eines der wichtigsten Bücher überhaupt.

„Mensch sein heißt Sinn finden", sagt Frankl und begründete mit diesem „Willen zum Sinn" die sogenannte „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie". Die erste dieser Schulen war Sigmund Freuds Psychoanalyse, in deren Zentrum der „Wille zur Lust" und die Erforschung des Unterbewusstseins mit seinen sexuellen und aggressiven Kräften standen und die als Tiefenpsychologie in die Geschichte eingegangen ist. Die zweite Wiener Schule begründete Alfred Adler mit seiner Individualpsychologie und dem „Willen zur Macht", dem Streben, die eigenen Minderwertigkeitsgefühle in unseren Beziehungen zu anderen zu kompensieren. Frankl, der die Schriften von Freud und Adler als die Grundlage seiner Arbeit ansah, ging mit seiner Sinn-Theorie allerdings einen wesentlichen Schritt weiter – nicht zuletzt deshalb nannte er sie auch Höhenpsychologie. Der Sinn, so Frankl, kann nur außerhalb des eigenen Ichs gefunden werden. Da, wo er über das Ego hinausweist: im Dienst an einer Aufgabe, an einem Werk oder für eine Person. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, dass es mir gut geht. Es geht darum, dass ich für etwas gut bin. Und wenn ich für etwas gut bin, dann geht es mir auch gut.

Frankl, der das Scheitern vieler Menschen auf der Suche nach Sinn als die Massenneurose der modernen Zeit bezeichnete, nannte die Erfahrung der Sinnleere das existentielle Vakuum. Wir scheitern deshalb an der Suche nach dem Sinn, weil wir ihn in der Lustbefriedigung suchen; im Kaufrausch, der längst zum entgleisten Konsumterror geworden ist in unserer westlichen Welt; im Streben nach Macht, Erfolg und Ruhm und dem leeren Versprechen, dort unser Glück zu finden. Das Streben nach Glück um seiner selbst willen, das Streben nach sogenannter Selbst-Verwirklichung – an diesem Streben wird man seelisch scheitern, meint Frankl: „Nur in dem Maße, in dem der Mensch Sinn erfüllt, in dem Maße verwirklicht er auch sich selbst: Selbstverwirklichung stellt sich dann von selbst ein, als eine Wirkung der Sinnerfüllung, aber nicht als deren Zweck."

Ein moderner Denker des 21. Jahrhunderts
© pixabay.comFür mich kamen Frankl’s Erkenntnisse schon bei der ersten Lektüre einer Offenbarung gleich. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich mit seiner Theorie und der Logotherapie, die er in der Praxis daraus entwickelte, den noch immer vorherrschenden Wahrheiten der Psychologie entgegenstellte. Diese Wahrheiten, die keine Wahrheiten sind, sondern lediglich ein Menschenbild beschreiben, waren vor allem von Sigmund Freud geprägt, der damit das ganze 20. Jahrhundert bestimmte. Viktor Frankl, der Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren wurde und an seinem Ende starb, ist mit seinem Menschenbild für mich deshalb eigentlich ein moderner Denker des 21. Jahrhunderts.

Er stellt sich gegen ein Bild des Menschen, mit dem ich groß geworden bin: gegen die deterministische Sicht auf die menschliche Natur, die den Menschen zum Opfer seiner selbst macht; zum Opfer seiner Triebe, seiner Psyche, seiner Erziehung, und damit am Ende zum Opfer seines eigenen Lebens. Er stellt dem Triebcharakter den Entscheidungscharakter entgegen, und der Ohnmacht gegenüber den Umständen die Trotzmacht des Geistes. Das Menschenbild des Viktor Frankl ist ein optimistisches und deshalb entspricht es mir so sehr.

Als ich „... trotzdem Ja zum Leben sagen" jetzt während der Corona-Pandemie zum zweiten Mal las, half es mir wieder einmal sehr – und zwar vor allem deshalb, weil Frankl das, was er sagte, nicht nur meinte, sondern weil er es auch erlebt, oder besser gesagt, weil er es auch durchlitten hatte. Und weil sein Leid meine aktuelle Situation auf erstaunliche Weise relativiert.

Innere Stärke im Angesicht des Grauens
Viktor Frankl wurde als Sohn einer jüdischen Beamtenfamilie am 26. März 1905 in Wien geboren. Schon früh begann er sich für die menschliche Seele zu interessieren und legte bereits als 18-Jähriger seine Matura mit einem Aufsatz über „Die Psychologie des philosophischen Denkens" ab. Er studierte Medizin und wurde Psychiater und Neurologe mit dem Schwerpunkt Depression und Suizid-Prävention. 1938, nach dem sogenannten „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, wurde ihm als Juden verboten, „arische" Patienten zu behandeln. Zwei Jahre später wurde er Leiter der neurologischen Abteilung des Rothschild-Spitals, des einzigen Krankenhauses in Wien, in dem noch jüdische Patienten behandelt wurden.
 
Frankl erwog, in die USA zu emigrieren, und beantragte ein Visum. Nach über einem Jahr des Wartens erhielt er 1941 endlich die Aufforderung, sein Visum in der US-Botschaft abzuholen. Das Visum, das seine Freiheit bedeutet hätte. Doch Frankl ging nicht hin. Er holte sein Visum nicht ab, denn seine Eltern mussten in Wien bleiben: „Durfte ich meine Eltern allein zurücklassen, um irgendwohin zu gehen und meine Ideen zu entwickeln? Wenn ich das tat, würden sie innerhalb von zwei Wochen ins Konzentrationslager deportiert werden." Und weiter: „Meine Eltern waren sicher, dass ich diese einzigartige Chance nutzen würde, denn ich hatte immer und immer wieder davon gesprochen. Aber an jenem Tag ging ich in den Stephansdom, setzte mich hin und dachte nach... Was sollte ich tun: mich um mein Lebenswerk kümmern oder für meine Eltern sorgen?"

© hunter, pixabay.com
Viktor Frankl entschied sich für seine Eltern und blieb in Wien. Er lernte die Krankenschwester Tilly kennen, die er Ende 1941 heiratete und die kurz darauf schwanger wurde. Unter der Androhung, sie ins KZ zu schicken, wurde Tilly von den Nazis zu einer Zwangsabtreibung gezwungen. Wenige Monate später wurde Viktor Frankl mit seinen Eltern und seiner Frau nach Theresienstadt deportiert.

Es sprengt den Rahmen dieses Artikels, wenn ich an dieser Stelle die unfassbare, perfide Vernichtungsmaschinerie des Holocaust beschreibe und auch die unvorstellbaren Qualen, die Frankl in über zwei Jahren Internierung durchlitt. In diesen zweieinhalb Jahren, in denen er seine gesamte Familie verlor: Sein Vater starb in Theresienstadt, seine Mutter wurde in den Gaskammern von Auschwitz ermordet, ebenso wie sein Bruder und seine Schwägerin. Frankls erste Ehefrau kam in Bergen-Belsen ums Leben.

Nur so viel möchte ich noch erzählen: Frankl hatte kurz vor der Deportation sein erstes Buch „Ärztliche Seelsorge" fast fertig geschrieben, hatte es unter die wenigen Habseligkeiten, die ihm erlaubt worden waren, mit ins Lager geschmuggelt und arbeitete während der Haft heimlich daran weiter. Kurz vor seinem Abtransport aus Birkenau in das Vernichtungslager von Auschwitz nähte er das Manuskript in das Futter seines Mantels ein, um es vor den Nazis zu retten. Jedoch vergeblich. Bei einer sogenannten „Selektion" musste er sich vollständig entkleiden, der Mantel mit dem Manuskript wurde ihm abgenommen und er durfte nur seine Brille und seinen Gürtel behalten.

„So musste ich über den Verlust meines geistigen Kindes hinwegkommen und mich der Frage stellen, ob dieser Verlust mein Leben nicht bedeutungslos machte. Die Antwort darauf erhielt ich schon bald. Statt meiner Kleider bekam ich die Lumpen eines Inhaftierten, der bereits in die Gaskammer geschickt worden war. In einer Tasche fand ich eine einzelne herausgerissene Seite aus dem hebräischen Gebetbuch. Darauf stand das wichtigste jüdische Gebet, das ,Schema Israel‘, das die Aufforderung enthält: ,Liebe deinen Gott mit Herz und Seele, mit deiner ganzen Kraft.‘ Man könnte das auch als Aufforderung interpretieren, ,Ja‘ zum Leben zu sagen, egal mit was es einen konfrontiert, auch wenn es Leiden oder sogar den Tod bedeutet. Ein Leben, so sagte ich mir, dessen Sinn damit steht oder fällt, ob man ein Manuskript veröffentlichen kann, wäre letztlich nicht lebenswert. Und so sah ich in der einzelnen Seite, die an die Stelle der vielen Seiten meines Manuskripts getreten war, die symbolische Aufforderung, von nun an meine Gedanken zu leben, anstatt sie nur zu Papier zu bringen."

Viktor Frankl gelang beides – die Theorie und die Praxis. Und es gelang ihm, sein Manuskript doch noch zu retten. Sein Geist trotzte dem Konzentrationslager, dem vierten, in das er kurz vor Kriegsende deportiert worden war. Er trotzte dem Fleckfieber, dem lebensgefährlichen Typhus, an dem er erkrankte, und der ihn, den restlos geschwächten KZ-Häftling, mit rasend hohem Fieber dahin zu raffen drohte. Als Arzt wusste er, dass ein nächtliches Delirium den sicheren Tod bedeuten würde. Deshalb zwang er sich dazu unter allen Umständen wachzubleiben. Frankl beschrieb seine Überlebensstrategie später aus der Distanz. Möglicherweise war es ihm nur so möglich, über das nahezu Unvorstellbare zu berichten – nämlich in der dritten Person.

„In einem Konzentrationslager lagen in einer Baracke ein paar Dutzend Fleckfieberkranke beisammen. Alle waren delirant bis auf einen, der den nächtlichen Delirien auszuweichen bemüht war, indem er nachts absichtlich wach blieb; die fieberhafte Erregung und die geistige Angeregtheit jedoch nützte er dazu aus, dass er ein noch unveröffentlichtes wissenschaftliches Buchmanuskript, das ihm im Konzentrationslager fortgenommen worden war, im Verlauf von sechzehn Fiebernächten rekonstruierte, indem er im Dunkeln auf winzige Zettel stenographische Stichworte hinkritzelte." Viktor Frankl überlebte den Holocaust und schrieb 1946 in nur wenigen Wochen sein Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen", das ein Welterfolg wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1997 lebte und arbeitete er für seine Lehre vom Sinn. Es ging ihm dabei nie um den Sinn des Lebens, sondern immer um den Sinn, den uns das Leben in jeder Situation anbietet.

„Sinn", so Frankl, „ist also jeweils der konkrete Sinn einer konkreten Situation. Es gibt keine Situation, in der das Leben aufhören würde, uns seine Sinnmöglichkeit anzubieten, und es gibt keine Person, für die das Leben nicht eine Aufgabe bereithielte... Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat."

Tamara Dietl war fast 20 Jahre als Journalistin tätig und arbeitet heute als Businesscoach für Führungskräfte mit dem Schwerpunkt Krisenmanagement sowie Sinn- und Werteentwicklung in Unternehmen. Daneben arbeitet Tamara Dietl als Publizistin – seit Anfang 2020 auch für forum Nachhaltig Wirtschaften. Sie lebt zusammen mit ihrer Tochter aus der Ehe mit dem verstorbenen Filmemacher Helmut Dietl in München.

Mehrere Jahre musste der österreichische Psychologe Viktor E. Frankl in deutschen Konzentrationslagern verbringen. Doch trotz all des Leids, das er dort sah und erlebte, kam er zu dem Schluss, dass es selbst an Orten der größten Unmenschlichkeit möglich ist, einen Sinn im Leben zu sehen. Das Buch mit Erinnerungen bewegte Millionen Menschen und gibt Kraft zum Leben.

Original von 1977
192 Seiten
ISBN: 978-3-328-10277-9 
10,00 EUR

Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 01.06.2021
Dieser Artikel ist in In einer Zeit, in der Angst Einzug in der Gesellschaft hält, macht forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2021 Mut. - Sicher!? erschienen.
     
        
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