Wirtschaft | Lieferkette & Produktion, 01.03.2021
Mythen über das Lieferkettengesetz
Aufräumen mit Vorurteilen
Mythos 1: Das Lieferkettengesetz führt zu ungerechtfertigten Belastungen und Wettbewerbsnachteilen
Mit dem Lieferkettengesetz werden große deutsche Unternehmen in die Verantwortung für die Herstellungsweise ihrer Produkte genommen, auch wenn mehr oder weniger große Teile des Fertigungsprozesses im Ausland stattfinden. Damit soll verhindert werden, dass die Auslandsverlagerung der Produktion zu einer Entkopplung von Lenkungsbefugnis und Haftung führt, gemäß der Devise „Aus den Augen, aus dem Sinn". Verantwortung für die Handlungsfolgen ist konstituierend für einen funktionsfähigen Wettbewerb. Dies gilt auch für offene Gesellschaften, deren Lieferketten international verflochten sind.
Die geplante gesetzliche Verpflichtung deutscher Unternehmen zu einem Risikomanagement, das sich auch auf ihre internationalen Lieferketten erstreckt, führt voraussichtlich zu einer nur geringfügigen Steigerung der Überwachungskosten. Ebenso, wie die Unternehmen bislang ihre Produktqualität gesichert haben, müssen sie künftig auch für die Qualität des Produktionsprozesses (Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsschutz) Vorkehrungen treffen.
Für Großunternehmen, die nach der Definition der EU mindestens 250 Mitarbeiter haben müssen, rechnet eine aktuelle Studie der EU-Kommission mit einem durchschnittlichen Kostenanstieg um weniger als 0,01 Prozent des jährlichen Umsatzes (siehe Grafik 9). Demgegenüber wären die Zusatzbelastungen durch das Lieferkettengesetz für kleine und mittlere Unternehmen rund fünfzehnmal höher. Mit knapp 0,14 Prozent vom Jahresumsatz sind sie jedoch – etwa im Vergleich zu den Unterschieden in der internationalen Unternehmensbesteuerung – immer noch relativ unbedeutsam.

Nach Einschätzung von Unternehmen, die bereits Erfahrung mit einem verantwortungsvollen Lieferkettenmanagement haben, wird ein Großteil des zusätzlichen Verwaltungsaufwands (jeweils gut 30 Prozent) auf die Überprüfung der Betriebsabläufe vor Ort sowie auf die Risiko- und Wirksamkeitsanalyse entfallen. Auch die Berichterstattungspflichten und die notwendigen Personalschulungen verursachen zusätzliche Belastungen, die rund 23 bzw. 14 Prozent des Mehraufwands ausmachen. Demgegenüber erscheinen die Aufwendungen für die Neufassung von Verträgen und Verhaltensrichtlinien sowie für die Einflussnahme auf Lieferanten, Beteiligungsunternehmen und Dritte vernachlässigbar.
Da die Kostenquote des Lieferkettengesetzes nach dieser Schätzung und vergleichbaren Studien nur den Bruchteil eines Prozentpunktes ausmacht und tendenziell mit der Betriebsgröße abnimmt, dürfte die Umsetzung für Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern aus betriebswirtschaftlicher Sicht darstellbar sein. Zudem können Übergangsfristen während der Einführungsphase für ausreichend Flexibilität sorgen, um die Anfangsinvestitionen durchführen zu können. Freilich dürften auf Unternehmen, die ihrer Selbstverpflichtung zur Achtung der Menschenrechte in der Lieferkette bislang nicht nachgekommen sind, höhere Preise für bezogene Vorprodukte zukommen.
Die internationale Arbeitsteilung stiftet prinzipiell Vorteile für alle Beteiligte. Wenn ausländische Hersteller günstigere Konditionen bieten, sollen diese jedoch im Sinne des Leistungswettbewerbs auf ökonomischen Kosten- oder Effizienzvorteilen beruhen und nicht durch Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden erkauft worden sein. Die Ausnutzung schwacher Rechtsstaaten im Ausland soll nicht zum Motor der Globalisierung werden.
Das Lieferkettengesetz bewirkt eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen. Einheitliche Regeln schaffen Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Bislang werden diejenigen, die ihrer Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten in der Lieferkette nachkommen, tendenziell gegenüber Konkurrenten benachteiligt, die entsprechende Selbstverpflichtungen nicht einhalten. Denn damit eine freiwillige Gesellschaftsverantwortung (Corporate Social Responsibility) auch über die Grenzen hinweg funktioniert, müssten die Konsumenten über hinreichende Informationen mit Blick auf das Unternehmensverhalten verfügen – über große Distanzen erscheint dies als ein unmögliches Unterfangen.
Im Allgemeinen deutet die Studie der EU-Kommission darauf hin, dass eine verbindliche Regelung der Sorgfaltspflichten die Übernahme von Corporate Social Responsibility (CSR) tendenziell attraktiver macht: In nahezu allen abgefragten Kategorien steigt der Anteil der Unternehmen, die große oder sehr große betriebswirtschaftliche Vorteile erwarten. Am deutlichsten werden die Einflussmöglichkeiten auf ausländische Lieferanten gestärkt, da die Einhaltung bestimmter menschenrechtlicher Mindeststandards nicht mehr verhandelbar ist. Der Anteil der dadurch signifikant begünstigten Unternehmen steigt im Vergleich zur freiwilligen Selbstverpflichtung auf mehr als das Doppelte (siehe Grafik 10).

International sind vergleichbare Gesetze zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen bereits in Kraft (z. B. in Frankreich, Großbritannien, USA) oder in Planung (z. B. in den Niederlanden und in der Schweiz). Für den Standort Deutschland ist entscheidend, dass die Einführung eines Lieferkettengesetzes einerseits einen wichtigen Impuls für eine europäische Regelung stiftet. Andererseits kann ein solches Gesetz in dynamischer Sicht zu Wettbewerbsvorteilen führen, wenn Unternehmen in der Folge ihre Lieferketten dahingehend optimieren, dass eine gesteigerte Arbeitnehmerzufriedenheit auch zu Produktivitätssteigerungen führt oder dass die Lieferketten insgesamt resilienter werden. „First Mover" haben aktuell die Möglichkeit, Standards zu setzen.
Mythos 2: Unternehmen haften allein aufgrund der Existenz von Geschäftsbeziehungen. Dies führt zu einer Klagewelle.
Unternehmen haften in Deutschlandbereits heute nach Paragraf 823BGB und ausländischem Recht für Schäden, die durch ihre eigene Pflichtverletzung entstehen, unabhängig von der Unternehmensgröße („Haftung für die Verletzung von Leib, Leben, Eigentum und sonstigen Rechten"). Das Lieferkettengesetz könnte diese in Deutschland bereits geltende Rechtslage aufgreifen und für den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr weiter vereinfachen. Somit schafft ein Lieferkettengesetz für Unternehmen eine größere Rechtssicherheit. Dies zeigt beispielhaft die Klage gegen die KIK Textilien und Non-Food GmbH (KIK) nach einem Fabrikbrand im Jahr 2012 mit mehr als 250 Toten in Karatschi in Pakistan wegen der Vernachlässigung essentieller Brandschutzvorschriften. Vier Opfer des Fabrikbrandes beim pakistanischen Textilhersteller Ali Enterprises klagten 2015 auf Schmerzensgeld. KIK soll fast die gesamten Kapazitäten der Fabrik für die Fertigung seiner Produkte genutzt haben.
Geklagt wurde vor dem Landgericht in Dortmund, wo KIK seinen Unternehmenssitz hat. Nach Art. 4 Abs. 1 ROM-II-VO war jedoch grundsätzlich pakistanisches Recht maßgeblich, da der Schadenfall in Pakistan eingetreten ist. Somit kann ein deutsches Unternehmen auch jetzt schon für Fehlverhalten bei einem Zulieferer im Ausland haftbar gemacht werden, wenn dort geltendes Recht verletzt wird. Ein Lieferkettengesetz könnte hier mehr Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen schaffen. So plädierte auch KIK für „eine klare gesetzliche Regelung unternehmerischer Sorgfaltspflichten". Mittlerweile fordern über 70 Unternehmen ein Gesetz – neben KIK beispielsweise auch Tchibo, Nestlé, Ritter Sport und Rewe.
Dies bedeutet nicht, dass deutsche Unternehmen in jedem Fall für das Fehlverhalten von Dritten im Ausland haften. Die Haftung greift nur dann, wenn die deutschen Unternehmen ihre eigenen Sorgfaltspflichten verletzt haben und dadurch ein Schaden entstanden ist, der vorhersehbar und vermeidbar war. Somit ist ein Haftungsanspruch nur möglich, wenn ein Unternehmen Sorgfaltspflichten verletzt hat und beispielsweise keine Risikoanalyse durchgeführt hat oder keine Präventionsmaßnahmen ergriffen hat, um erkannte Risiken zu beseitigen oder zu minimieren. Daher sind auch etwaige Befürchtungen hinsichtlich einer Klagewelle unbegründet. Die Beweislast für die Verletzung von Sorgfaltspflichten liegt bei den Geschädigten bzw. den Klägern. Sie müssen beweisen, dass das beklagte Unternehmen seine Sorgfaltspflichten verletzt hat. Unternehmen können nicht wahllos verklagt werden. Bei geringen Erfolgschancen werden Kläger die großen Prozessrisiken und -kosten scheuen, die bei internationalen Klagen anfallen können. So führte die Einführung eines ähnlichen Gesetzes in Frankreich im Jahr 2017 beispielsweise nicht zu der befürchteten Klagewelle. Nichtregierungsorganisationen haben nur in schwerwiegenden Einzelfällen eine Klage angestrebt. Aktuell gibt es dort fünf Verfahren, die sich auf das Sorgfaltspflichtengesetz stützen.
Mythos 3: Für den Schutz von Menschenrechten und Umwelt sind nur Staaten im Rahmen von internationalen Verträgen verantwortlich, nicht aber Unternehmen.
Unternehmen müssen Menschenrechte im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit achten. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte haben diese Verpflichtung konkretisiert. Staaten kommen ihrer Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte auch dadurch nach, dass sie wirtschaftliche Aktivitäten durch gesetzliche Rahmenbedingungen regulieren und die Einhaltung dieser Vorgaben überprüfen. Dabei setzen sie internationale Abkommen in nationales Recht um. Deutschland hat im Rahmen der EU, des Europarates und der Vereinten Nationen (UN) alle zentralen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet.
Unternehmen wiederum handeln innerhalb dieses Rechtsrahmens. Nach dem Verursacherprinzip haften sie dabei für Rechtsverletzungen – das ist Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Viele Unternehmen haben sich bereits auf den Weg gemacht, der gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen: In einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr (2019) haben sich zum Beispiel 74 Prozent der befragten deutschen Industrieunternehmen mit mindestens zehn Beschäftigten CSR-Regeln im Bereich der Arbeitsbedingungen gegeben. Bei den Lieferantenbeziehungen waren es 63 Prozent, bei „ethisch verantwortungsvollem Handeln" immer noch 58 Prozent (siehe Grafik 11). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ist die Auffassung unzeitgemäß, dass sich Unternehmen nicht auch für die Einhaltung von Menschenrechten verantwortlich fühlen.

Für die Einführung eines Lieferkettengesetzes sprechen darüber hinaus zwei weitere ökonomische Gründe: Handelsgewinne für alle Beteiligten entstehen nicht durch Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen, sondern durch internationale Spezialisierung und Arbeitsteilung. Die effizienzsteigernden Wirkungen der internationalen Arbeitsteilung beruhen auf der Ausnutzung komparativer Kostenvorteile und nicht darauf, dass deutsche Unternehmen Rohstoffe und Vorprodukte aus Ländern mit einem schwach entwickelten Rechtsstaat beziehen.
Der zweite Grund ist, dass durch diese Auslagerung Kosten für andere Beteiligte entstehen, die außerhalb des unternehmensinternen Gewinnkalküls liegen – in der Volkswirtschaftslehre spricht man von externen Effekten. Damit Unternehmen die vollen Kosten ihres Handelns in ihre Planung miteinbeziehen, müssen sie gesetzlich verpflichtet sein, diese zu tragen. Nur auf diese Weise wirtschaften sie gesamtgesellschaftlich betrachtet ressourceneffizient. Dies legitimiert den Gesetzgeber, regulatorisch einzugreifen. Ein Lieferkettengesetz ist unter Berück-sichtigung all dieser Aspekte das geeignete Mittel der Wahl.
Hinweis: Das Heft im Heft „Wir produzieren fair!" basiert auf einer Studie des Handelsblatt Research Institute – erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Wir bedanken uns für die gute Zusammenarbeit.Dieser Artikel ist in forum 01/2021 - SOS – Rettet unsere Böden! erschienen.
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