Michael Selig

Die All-Leader-Kultur

Mit Konsens zu guten Entscheidungen kommen

Wie kann eine Gruppe Entscheidungen so treffen, dass sich jeder gehört fühlt? Die Lebensgemeinschaft Schloss Tempelhof versucht sich daran und feiert Widerspruch als bereicherndes Element, um gemeinsam die beste Lösung zu finden.

© Schloss Tempelhof2010 kaufte eine Gruppe von 20 Menschen das Dorf Tempelhof in der Gemeinde Kreßberg im Nordosten von Baden-Württemberg. Es besteht aus einem Schloss aus dem 17. Jahrhundert, umrahmt von Gebäuden aus verschiedenen Epochen des letzten und vorletzten Jahrhunderts. Dort entstand die Zukunftswerkstatt und Lebensgemeinschaft Schloss Tempelhof: ein gesellschaftliches Forschungsprojekt mit dem Ziel, die Vision einer ökologisch nachhaltigen, sozial gerechten und sinnerfüllten menschlichen Daseinsform lebendig zu machen. Im Kern der Vision steht ein solidarisches Zusammenleben, das den Menschen und das Miteinander in den Mittelpunkt stellt. Die Gemeinschaft forscht auf den Feldern einer neuen Beziehungs- und Kommunikationskultur sowie ökonomischer und ökologischer Transformation.
 
Inzwischen leben rund 100 Erwachsene und 50 Kinder und Jugendliche in dem Dorf. Innerhalb kurzer Zeit entstanden vielfältige Genossenschaftsbetriebe (Wohnen, Gästehaus, „aufbauende Landwirtschaft", Catering, Café, Laden, Carsharing), ein Seminarbetrieb sowie eine freie Schule. Damit all das funktionieren kann, hat die Gemeinschaft eine belastbare und leistungsfähige soziale Architektur geschaffen sowie einen klaren Rahmen mit einfachen Organisationswerkzeugen. Das ist der Kern des hier entstandenen All-Leader-Konzepts.
 
Alle können mitwirken
All-Leader bedeutet für die Gemeinschaft ein freies und kooperatives Zusammenwirken von Menschen, die Vision und Werte teilen, die sich mit allem, was sie ausmacht, einbringen und Werkzeuge einsetzen, die das Miteinander und die „kollektive Intelligenz" unterstützen. Das zentrale Element dabei ist ein sechsstufiger Entscheidungsprozess im Konsens. Dieser ist angelehnt an das Entscheidungsverfahren der „Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden". Konsens bedeutet „Übereinkunft", „Übereinstimmung" und bezeichnet einen Prozess, in dem unterschiedliche Meinungen zu einer gemeinsamen Entscheidung zusammengebracht werden, die von allen gutgeheißen und mitgetragen wird. Die Kernfrage im Rahmen der Entscheidungsfindung lautet: Welche Einwände gibt es und wie lassen sich diese minimieren? Alle Menschen der Gruppe sind dazu aufgefordert, sich aktiv an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Oberstes Entscheidungsgremium in der Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof ist das Dorfplenum, die Vollversammlung aller Dorfbewohner. Dieses Plenum trifft Grundsatzentscheidungen für das Dorf und legt auf Grundlage von Organisationspapieren den Entscheidungsrahmen für Projekte (z.B. Schule, Landwirtschaft, etc.) fest.
 
Von der Idee zur gemeinsamen Entscheidung
Der Ablauf eines Entscheidungsprozesses lässt sich wie folgt beschreiben:
  • Die Antragsteller präsentieren im Dorf eine Idee, ein Thema oder einen Vorschlag. Bei großen Themen, beispielsweise dem Bau eines neuen Schulgebäudes, gibt es dafür einen Impulsabend. Die Bewohner können ihre Anregungen und ergänzenden Ideen, Bedenken und Einwände aussprechen. Alle können Argumente austauschen, Fragen stellen, zuhören, Meinungen hervorbringen.
  • Der Antrag ist nun angereichert mit der Resonanz des Dorfes und kommt mit konkreter Formulierung zur Abstimmung ins Dorfplenum. Ein zeitlicher Vorlauf von zehn Tagen gibt allen Beteiligten die Möglichkeit zur Einarbeitung ins Thema und zur persönlichen Meinungsbildung.
  • Im Dorfplenum beginnt der Antragsteller mit der kurzen Vorstellung des Antrags. Die Anwesenden können Verständnisfragen stellen.
  • Ein erstes Meinungsbild wird in sechs Stufen abgefragt.
  • Verschiedene Positionen und begründete Meinungen bilden ein Meinungsbild.
  • Es findet eine Aussprache statt. Wie müsste der Antrag formuliert sein, damit die Einwände minimiert werden können?
  • Der Antrag wird gegebenenfalls vom Antragsteller modifiziert.
  • Nun findet die finale Abstimmung in sechs Stufen statt.
  • Ein Entscheidungsvorschlag ist akzeptiert, wenn niemand ein Veto eingelegt hat.
Die sechs Stufen der Abstimmung mit Konsens
  1. Vorbehaltlose Zustimmung
  2. Leichte Bedenken: Ein Gruppenmitglied hat relevante Einwände oder Bedenken, die alle Beteiligten wissen sollten. Es reicht oftmals aus, wenn diese Bedenken gehört werden.
  3. Enthaltung: Dem Mitglied ist die Entscheidung nicht wichtig oder es hat vielleicht keine klare Meinung zu dem Thema.
  4. Schwere Bedenken: Die Person drückt mit ihrem Votum klar aus, dass sie sich eine Veränderung des Vorschlags wünscht. Sie ist aber bereit, den bestehenden Lösungsvorschlag mitzutragen, falls die Gruppe keine bessere Lösung findet.
  5. Beiseite-Stehen: Das Mitglied kann mit dem Vorschlag nicht mitgehen, legt aber kein Veto ein, um der Gruppe nicht im Weg zu stehen.
  6. Veto: Der Vorschlag widerspricht den grundlegenden Überzeugungen und Werten des Mitglieds. Das Mitglied ist der Meinung, der Vorschlag schade der weiteren Entwicklung der Gruppe
© Schloss TempelhofDas Faszinierende am sechsstufigen Entscheidungsprozess ist, dass jeder gehört wird. Es gibt keine Koalitionen, keine Mehrheiten, keine Verlierer – im Gegensatz zu demokratischen Entscheidungsprozessen. Alle Teile des Organismus, also alle Mitglieder der Gruppe, gehen in Verantwortung für das Ganze. Jeder Einzelne trägt seinen Teil dazu bei, dass die Entscheidung von allen getragen werden kann. Heraus kommen nicht selten Entscheidungen, die weiter gedacht sind als der ursprüngliche Vorschlag und die alle Beteiligten motivieren, ihre Ideen umzusetzen. Der Entscheidungsprozess selbst verbindet die Gruppenmitglieder miteinander und  stärkt den sozialen Zusammenhalt. Alle Beteiligten zeigen sich mit ihren Ideen, Einwänden und Ängsten und tragen so zum Reifungsprozess der Idee bei.
 
Dies funktioniert auch deswegen so gut, weil das Dorf Tempelhof eine gemeinschaftsfördernde Gesprächs- und Konfliktkultur pflegt. Ein Konsensverfahren, wie es die Gemeinschaft am Tempelhof praktiziert, ist meiner Auffassung nach auch auf Unternehmen und andere Organisationsformen übertragbar. Es bedarf dabei jedoch klarer Regeln und der Einbettung in eine kollegial geprägte Unternehmenskultur. Allen Mitgliedern muss klar sein, dass die Interessen der Organisation immer Vorrang haben vor den Interessen der Einzelnen.
 
Die neue Schule: Ein Beispiel des Gelingens
Wie gelingt so ein „All-Leader"-Entscheidungsprozess? Bei der Suche nach einem geeigneten Standort für die neue Schule auf dem Gelände der Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof kam die All-Leader-Kultur zum Einsatz.

Das Schul-Team nahm diverse Grünflächen auf dem ca. 32 ha großen Gemeinschaftsgelände in die engere Auswahl. Im Rahmen eines Impulsabends diskutierte das Dorf die möglichen Standorte mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Keiner der Standorte war wirklich perfekt, aber alle wären für die Schule irgendwie okay gewesen. Da ergriff eine Dorfbewohnerin das Wort: „Der schönste Platz für unsere Kinder wäre doch der Standort unserer Kantine, die wir uns als Gemeinschaft vor 5 Jahren gebaut haben. Im Süden des Dorfes am Rande einer wunderschönen Wiese mit Blick auf den angrenzenden Wald. Direkt daneben die alte Turnhalle. Die Kinder sind unsere Zukunft, sie haben den schönsten Platz im Dorf verdient."

Das Schul-Team hätte sich niemals getraut, diesen Vorschlag ins Dorf zu bringen und den Dorfbewohnern ihre Kantine, das Wohnzimmer des Dorfes, abzunehmen. Dieser Vorschlag kam nun von einem Menschen, der mit der Schule nicht direkt etwas zu tun hatte, aber das Dorf und seine Entwicklung ganzheitlich betrachtete. Als dieser Gedanke einmal in der Welt war, ging es Schlag auf Schlag: Man überlegte alternative Kantinen-Lösungen und führte offene Gespräche über das Für und Wider. Der Schulbau-Architekt lieferte gute Ideen für den Umbau des Gebäudes. Für die Trauer und den Schmerz über den Verlust eines geliebten Dorf-Treffpunktes wurde der nötige Raum gegeben. Nach sechs Monaten stand die entscheidende Standortfrage im Dorfplenum zur Abstimmung. Ergebnis: 32 Ja-Stimmen und 1 leichtes Bedenken. Das Dorf hat mit „kollektiver Intelligenz" die beste Lösung hervorgebracht!
 
Das Veto-Recht bereichert den Entscheidungsprozess
Um sich die Tragweite eines Vetos bewusst zu machen, muss der Vetogeber seine Entscheidung begründen und einen konkreten Lösungsvorschlag machen, wie das Thema aus seiner Sicht gelöst werden könnte. Es braucht begleitende soziale Prozesse, damit die Menschen in der Gruppe in sozialer Verbundenheit bleiben. Ein Veto darf nicht zur Ausgrenzung des Vetogebers führen oder negative Konsequenzen für ihn haben. Im Gegenteil, es führt zu Wertschätzung, denn es kann der Gruppe helfen, zu erkennen, dass bestimmte Sichtweisen bislang noch nicht genügend berücksichtigt und integriert worden sind.
 
Fazit
Die All-Leader Kultur ist ein wirksames Instrument zur Konsensfindung. Es braucht jedoch eine dauernde Wachsamkeit der Gruppe für den verantwortungsvollen Umgang mit dieser Vorgehensweise, damit es der positiven Entwicklung der Organisation dient.
 
Michael Selig ist seit 2016 in der Gemeinschaft Tempelhof geschäftsführender Vorstand des Vereins. Systemischer Berater für Organisation und Transformation mit den Schwerpunkten Mitarbeiterbeteiligung, Führung und Change Management.
 
Quellen / Leseempfehlung:

Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2019 - Social Business beseitigt Plastik-Müll und schafft neue Jobs erschienen.



     
        
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