Hydrogen Dialogue 2024

Sikkim – Eine Blaupause für unsere Zukunft

Die Bio-Revolution beginnt in Indien

Was als viel belächelte Vision begann, wurde jetzt mit dem Future Policy Award in Gold ausgezeichnet: Sikkim, ein indisches Bundesland, produziert zu 100 Prozent Bio-Lebensmittel. Wir besuchen ein Land, das damit nicht nur Geschichte schreibt, sondern auch das Herz des Reisenden höher schlagen lässt.

100 Prozent Bio-Anbau sorgt für eine gesunde Bevölkerung, gesunde Böden und faire Arbeitsbedingungen für die Bauern. © ColaboraUm ein Land komplett auf biologischen Landbau umzustellen, braucht es einen Visionär mit missionarischer Power, dem es nichts ausmacht, erst einmal für verrückt erklärt zu werden. Als Ministerpräsident Chamling vor 15 Jahren das Ziel deklarierte, die ganze Landwirtschaft in Sikkim auf Bio umzustellen, hielten ihn viele für einen Spinner. Nachvollziehbar wird seine Mission, wenn man weiß, dass er selbst auf einem Bauernhof im damaligen Königreich Sikkim geboren wurde. Ihm war „nur" der Besuch der Grund- und Hauptschule möglich, während­dessen und auch danach arbeitete er auf dem elterlichen Bauernhof, was sein Leben nachhaltig prägte. Sein Taten­drang und Gestaltungswille führten ihn bald in die Politik. Er gründete eine neue Partei, weil er mit den existierenden korrupten Parteien nichts zu tun haben wollte, und wurde bereits 1994 zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt. Dank seiner charismatischen Führungspersönlichkeit ist er bereits in seiner fünften Amtszeit als „Chief Minister". Er wurde jeweils mit beeindruckenden Mehrheiten von weit über 60 Prozent wiedergewählt und zu Recht hat er den Beinamen „grünster" indischer Ministerpräsident.
 
Die richtige Landwirtschaft – überall
Der Ökolandbau wurde nicht einfach „von oben" angeordnet, sondern mit konsequenter Partizipation umgesetzt. Die Herausforderung war auch deshalb groß, weil die Farmen mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 1,5 Hektar klein sind. Kunstdünger wurde nicht einfach verboten, sondern unattraktiv gemacht, indem die staatliche Subvention für Chemiedünger jährlich um 10 Prozent gekürzt wurde. Bereits nach ein paar Jahren war niemand mehr daran interessiert, Kunstdünger zu kaufen!

Dramatische Berglandschaften und malerische Terassen für den Teeanbau sind Kulisse für Reisen durch Sikkim. Die Kraft der ursprünglichen Landschaft am Fuß des Himalaya und die freundliche Ruhe der Bevölkerung überträgt sich dabei schnell auf den Besucher. © Amritendu Mallick
Um die enorme Aufgabe zu bewältigen, über 65.000 Bauern zu guten Bio-Bauern zu machen – was ja nicht heißt, nur Agrarchemie wegzulassen –, mussten auch viele Beamte in ökologischen Landbaumethoden ausgebildet werden. Ebenso war es notwendig, die Zertifizierung zu etablieren. Inzwischen werden alle Farmen nach internationalem Standard zertifiziert. Es gibt nur einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, und das sind die staatlich bewirtschafteten TEMI Teegärten, wo auf 400 Hektar Tee in höchster Qualität erzeugt wird. TEMI erfüllt inzwischen auch die Voraussetzung für die Fairtrade-Zertifizierung, was für die 500 Menschen, die hier Arbeit finden, von großer Bedeutung ist.

Die viele Bio-Ware muss auch vermarktet werden, denn die Betriebe sind so produktiv, dass sie weit mehr als nur für den Eigenverbrauch erzeugen. So wurden in der Hauptstadt Gangtok eigene Bio-Märkte etabliert und im Lande findet man kleine Bio-Läden sowie rege Ab-Hof-Vermarktung.

Die weltberühmte Aktivistin Vandana Shiva unterstützt die konsequente Bio-Strategie von Sikkim und setzt alles daran, ganz Indien Pestizidfrei zu machen. © colabora
Konventionelles Gemüse – illegal!
Ein neues Gesetz verbietet seit April 2018 mit wenigen Ausnahmen die Einfuhr von konventionellem Gemüse und Obst nach Sikkim! Geschmuggeltes Gemüse wird konsequent konfisziert und vergraben. Für die Polizei ist die Vernichtung von Lebensmitteln kein Frevel, sondern die Entsorgung von Agrargiften und die Garantie dafür, dass sich die Bevölkerung in Sikkim ohne toxische chemische Rückstandsbelastung gesund ernähren kann. Zusätzlich werden die Bauern auch vor unfairem Wettbewerb geschützt. Dieses konsequente und radikale Vorgehen, mit Agrarchemie erzeugtes konventionelles Gemüse als illegal zu definieren, müsste Bayer, BASF, Syngenta etc. den Angstschweiß auf die Stirne treiben.

Bul – ein Dorf wie viele andere
Das Dorf Bul hoch oben in den Bergen war bis vor kurzem nicht über eine Straße erreichbar. Hier wirtschaften 285 bäuerliche Familien. Die steilen Terrassenfelder sind handtuchschmal und die durchschnittliche Betriebsgröße liegt hier sogar unter einem Hektar. Beruhigend ist es zuzusehen, mit welcher Achtsamkeit und Konzentration, aber auch Wendigkeit der Bauer mit einem kleinen Pflug und seinem Kuhgespann den Boden bearbeitet. Atemberaubend, wie die Kühe absolut trittsicher auf der Stelle wenden können. Einmal hoch – drehen – einmal runter – und schon ist der Boden gepflügt. Und wenn es regnet, schützt ein großer schwarzer Schirm den Bauern, während die Kühe offenbar die warme Dusche genießen.

Einen intensiven Rundgang machten wir auf der Demonstrationsfarm des Dorfes, die von der Familie Gurung bewirtschaftet wird. Dort leben drei Generationen: Neben den hochbetagten Großeltern und dem Landwirtehepaar engagiert sich auch die junge Generation auf dem Hof. Dank der Zukunftsperspektiven und dem Vorbild der Eltern, die stolze und erfolgreiche Bauern sind, bleibt die Jugend in Sikkim durchaus auf dem Land: So gibt es nur selten das weltweite Problem der fehlenden Hofnachfolge.

Bio – auch eine Frage der Emanzipation
Die Bevölkerung von Sikkim ist stolz auf die Vorreiter-Rolle ihres Landes. © Sarwa-Dharma-SthalUnter den äußerst schwierigen Bedingungen ist Erfolg nur möglich, wenn Hand in Hand gearbeitet wird. Aber bei der Führung wurde klar, dass Frau Gurung die Chefin ist. Das zeigt, dass die Umstellung auf biologischen Landbau auch mit viel Emanzipation für die Frauen einhergeht. Neben dem Futteranbau für die Kühe und Ziegen, die den Grundstock für die Kompostwirtschaft sicherstellen, werden vor allem Kartoffeln, viele Gemüsesorten und Ingwer angebaut. Wirtschaftlich am attraktivsten ist der Anbau von Großem Kardamom, für den Sikkim weltweit der wichtigste Produzent ist. Eine bunte Augenweide sind die kleinen Blumenfelder: Die Bewohner von Sikkim haben eine besondere Passion für bunte Blumenpracht, weshalb viele Bauern mit diesen Sonderkulturen ein gutes Einkommen erzielen.

Wie auf allen Farmen ist die Kompostierung am Hof der Gurungs vorbildlich. Mit viel Sorgfalt hergestellte pflanzliche Präparate stehen für den Pflanzenschutz zur Verfügung. Die Kompostierplätze, das Wurmkulturbeet und die Fässer mit biologischen Präparaten sind bei den Gurungs genau beschildert, denn ihr Hof ist das Lernzentrum für alle Farmer in Bul: Derartige Modellbetriebe mit bestens ausgebildeten Bauern und Bäuerinnen sind die Basis der so erfolgreichen landesweiten Umstellung auf Bio.

Eine Reise ins Wunderland

Sikkim im ZDF …
forum Autor Bernward Geier hat bei dem im ZDF ausgestrahlten TV-Dokumentarfilm „Die Ökorebellen vom Himalaya" sowohl vor als auch hinter der Kamera maßgeblich mitgewirkt und den Filmemacher Berndt Welz redaktionell unterstützt. Der Film aus der Serie planet e. hat viel positive Resonanz gefunden. 

Hinweis: Die Doku „Öko-Rebellen" der Serie planet e. ist in der ZDF-Mediathek bis September 2019 abrufbar.
Die ökologische Agrarkultur fördert in den Dörfern auch die Pflege anderer kultureller Aktivitäten, wie Musik und Tanz in traditioneller Kleidung sowie die kaum vorstellbar vielfältige Esskultur. Die Gastgeberkultur kommt von groß(zügig)en Herzen und ist beeindruckend. Besucher sind immer und gerne ein Anlass, ein Fest zu feiern. Angefangen von der Begrüßung mit Blumenkränzen und bunten Seidenschals bis hin zu Musik, Gesang und Tanz erscheint ein Dorfbesuch wie der Eintritt in ein Märchenland. Nachdem man eine leckere Vielfalt lokaler Produkte verkostet hat und sich auch dem populären Chang widmete (ein nach Federweißem schmeckendes Getränk aus vergorener Hirse, das in großen und mit Silber verzierten Bambusbechern gereicht und mit langem Holzhalm getrunken wird), wird man zum Essen ins Haus eingeladen. Wie? Schon wieder essen? „Klar, bisher gab es doch nur Snacks", war mehr als einmal die Antwort.

Sikkim – viel mehr als „nur" Bio…
So erstaunlich eine Reise in dieses Wunderland ist, so erfreulich ist auch ein Blick über den Bio-Ackerrand. Sikkim zählt zu den Biodiversitäts-Hotspots dieser Welt. Dazu passt, dass der Kangchendzönga-Nationalpark der einzige Park der Welt ist, der gleichzeitig UNESCO Biosphärenreservat und UNESCO Weltkulturerbe ist.

Das Bio-Land zeigt in absolut beeindruckender Vielfalt heute schon, wie etwa die von der UNO propagierten Sustainable Development Goals erreicht werden. Das gilt neben den Programmen für Armutsbekämpfung, Gesundheit und Bildung vor allem auch für ökologische Projekte.

Neben dem Verbot des Jagens und Fischens beeindruckt besonders, dass jegliches Fällen von Bäumen verboten ist. Für jeden illegal gefällten Baum müssen zehn neue gepflanzt werden. Einmal im Jahr wird mit dem Projekt „10 Minuten für Mutter Erde" das ganze Land mobilisiert. Immer am 25. Juni pflanzt quasi die ganze Nation Bäume.

Die Energieversorgung geschieht zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen und der Export von „grünem" Strom trägt maßgeblich zum Staatshaushalt bei. Für die Haushalte werden Gasöfen zur Verfügung gestellt, um die Holzverbrennung zu stoppen. Spezielle Regierungsprogramme gewährleisten Müllvermeidung und optimales Recycling. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Plastik. Bei allen Regierungsstellen und staatlichen Institutionen sowie öffentlichen Anlässen gibt es Wasser nur aus Glasflaschen, das in Gläser ausgeschenkt wird. Landesweit kann Ministerpräsident Chamling Plastik aus juristischen Gründen nicht einfach verbieten, aber auf Gemeindeebene geschieht dies bereits in etlichen Himalaya-Dörfern aus eigenem Antrieb.

Die Lebenserwartung wurde merklich gesteigert und Sikkim gilt als das friedlichste Land Indiens. Wenn es denn eines Beweises bedarf, dass es auch das sauberste Land ist, empfiehlt sich ein Gang durch Gangtoks Fußgängerzone. So sauber und ordentlich sind die Fußgängerzonen hierzulande nicht.

Es bleibt die Verwunderung
forum Autor Bernward Geier lässt es sich nicht nehmen, selbst Hand anzulegen beim Pflanzen auf steilem Gelände. © colaboraSikkim liefert Hoffnung und Inspiration. Ja, es ist tatsächlich möglich, eine Welt mit dem Primat der Achtsamkeit gegenüber der Umwelt zu schaffen und gleichzeitig eine nachhaltige und faire Wohlstandsentwicklung auf den Weg zu bringen. Und das Besondere: Es sind gerade die ökologischen Aktivitäten, die zur ökonomischen Prosperität führen, was man z.B. sehr gut an der Entwicklung des Ökotourismus sehen kann.

Sikkim ist ein Modell dafür, wie die Menschheit den Paradigmenwechsel schaffen kann, der notwendig ist, um unsere Zukunft nachhaltig zu sichern. Faszinierend ist, dass dies mit der totalen Umstellung auf biologischen Landbau im Zentrum geschieht.

Die Ex-Landwirtschaftsministerin und deutsche Bio-Vorkämpferin Renate Künast ist begeistert von der Gastfreundschaft der Bevölkerung in Sikkim. © colaboraWenn sich die politischen Führer von Ministerpräsident Sri Pawan Chamling inspirieren lassen, dann gibt es nicht nur die Hoffnung, sondern es wird die unausweichliche Folge sein, dass der „Rest der Welt", wie immer mehr gefordert, bis 2050 das erreicht, was wir bereits in Sikkim vorfinden: alles Bio. Selbst wenn man nicht an Wunder glaubt, bleibt die Verwunderung über das, was möglich ist, wenn Vision, Willen und Worten konkrete Taten folgen.
 
Ein Reisebericht von Bernward Geier.
 
Bernward Geier sprach auch mit dem Ministerpräsidenten von Sikkim, das Interview finden sie hier.

Umwelt | Umweltschutz, 01.12.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 04/2018 - Frauen bewegen die Welt erschienen.
     
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