Burkhard Remmers
Lifestyle | Gesundheit & Wellness, 01.09.2018
Von der Haltung zur Bewegung
Paradigmenwechsel der Arbeitsplatzgestaltung
Die Digitalisierung erfordert ein Umdenken fast aller Parameter, unter denen Büroarbeit bislang geplant, gestaltet und organisiert wurde – und dazu gehört vor allem auch die Arbeitsplatzgestaltung: Weil die Bewegungen bei der digitalen Büroarbeit auf zweidimensionale Desktops und Touchdisplays reduziert sind, führt die bisher praktizierte Entlastungsergonomie schnell zur komatösen Unterforderung.
Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zeichnen für knapp 22 Prozent aller Ausfalltage verantwortlich. Drei von vier Versicherten hatten laut DAK-Gesundheitsreport 2018 innerhalb eines Jahres die Volkskrankheit Rückenschmerzen, und das, obwohl seit vielen Jahren im Rahmen des „Betrieblichen Gesundheitsmanagements" vermehrt in Maßnahmen zur Rückengesundheit investiert wird. Aber nicht nur „Rücken", sondern viele weitere Störungen der Gesundheit werden inzwischen mit besonders bewegungsarmen Lebens- und Arbeitsstilen in Verbindung gebracht. Ob Herz-Kreislauf-System, positive Gefühle, Lungenfunktion, Stressresilienz, Immunsystem oder Verdauungssystem – der komplette Organismus inklusive der Psyche ist auf ausreichende Bewegung angewiesen. Das aktuelle Fact-Sheet der WHO geht davon aus, dass sich weltweit ein Viertel der Erwachsenen und sogar 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutlich zu wenig bewegen – mit verheerenden Langzeitfolgen.Maximale Entlastung als Teil des Problems
Die bisherigen Strategien zur Bewegungsförderung im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements müssen als unzulänglich betrachtet werden: Ganz offensichtlich reicht es nicht, den Bewegungsmangel während der Arbeit durch Zusatzangebote zu kompensieren. Stattdessen gilt es, wieder mehr Bewegungen in die Arbeitsabläufe selbst zu integrieren. Das allerdings erfordert ein komplettes Umdenken: Im Verständnis der Industrialisierung mit maximierter Arbeitsteiligkeit und Lean-Management wurden Bewegungen als unproduktiv systematisch aus den Prozessen eliminiert.
Und auch das Büro ist seit Jahrzehnten auf Cockpit-Organisation, Greifraumorientierung und Minimierung von Wegezeiten ausgerichtet. Analog dominiert in der Sitzergonomie die Haltungsoptimierung. Das Credo: mit zahlreichen Einstellmöglichkeiten den Körper wie mit einem maßgeschneiderten Korsett maximal zu entlasten und vor dem Bildschirm zu fixieren. Damit wird diese Bürostuhlergonomie zum Teil des Problems. Sie schwächt die Muskulatur, sie behindert Haltungswechsel und sie reduziert die mentale Performance, weil auch dem Gehirn wesentliche Impulse fehlen, die nur durch Bewegung gesetzt werden.
Die Bewegungsförderung beginnt beim Sitzen selbst
Sattsam bekannt (und gescheitert) sind die bisherigen Versuche, den Körper auf Wackelhockern oder ähnlichen Sitzgelegenheiten wie dem Petzi-Ball zu trainieren. Für ein paar Minuten durchaus belebend und hilfreich überfordern diese Konzepte auf Dauer bei der Bildschirmarbeit, weil die Haltemuskulatur einseitig belastet und die Versorgung eingeschränkt wird. Auch andere Sitzmöbelkonzepte mit wackelnden, beispielsweise federnd gelagerten Sitzflächen oder gar Vibratoren zur Stimulation der Durchblutung konnten sich nicht in der Breite durchsetzen, weil sie von Vielen als unsicher oder zu ungewohnt empfunden werden. Heute stellen Gesundheitswissenschaftler deshalb die natürliche Aktivierung und Stimulation in den Mittelpunkt einer neuen Arbeitsplatzgestaltung. Jede Haltung, die der Körper schmerzfrei einnehmen, und jede Bewegung, die er ausführen kann, werden als richtig und wichtig erachtet: vom aufrechten Sitzen über das Quer-Sitzen bis zum Lümmeln. Je häufiger die Haltungswechsel und je vielfältiger und natürlicher die Bewegungen, desto besser werden auch im Sitzen Muskeln, Gelenke und geistige Leistungsfähigkeit aktiviert. Da der menschliche Organismus für das Laufen optimiert ist, sind es vor allem die dreidimensionalen Bewegungen der Hüfte, die den größten Effekt für einen gesunden Stoffwechsel haben.
Das neue Sitzen: körperkonform, leistungssteigernd, präventiv – und beliebt
Das „Zentrum für Gesundheit durch Sport und Bewegung" der Deutschen Sporthochschule Köln hat deshalb maßgebliche Impulse zur Entwicklung einer neuen, dreidimensional-dynamischen Stuhlbeweglichkeit (Free-to-move-Kinematik) gesetzt, die beim Sitzen ähnliche Beweglichkeiten und Muskelgruppen stimuliert wie beim Laufen. Um die Wirksamkeit zu überprüfen, wurden anschließend die Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden evaluiert. Eine Laborstudie untersuchte die Körperkonformität des neuen Sitzkonzepts, das die natürliche Beweglichkeit der Hüfte mobilisiert, die tiefe Rückenmuskulatur stimuliert und mit flüssigen Bewegungen große Muskelschlingen von den Fußgelenken bis zum Schultergürtel aktiviert. Eine zweite, vergleichende Feldstudie belegte, dass dieses Mehr an Bewegung zu einem signifikant verbesserten Wohlbefinden und zu einer deutlich verbesserten Konzentrationsleistung führt.
In der jüngsten Vergleichsstudie, im März 2018 auf der Applied Ergonomics Conference in Atlanta vorgestellt, wurden anhand von standardisierten Büroarbeitsprozessen erstmalig die konkreten Stoffwechselaktivitäten spezifischer Rückenmuskeln untersucht. Entscheidend für den Stoffwechsel ist der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. Das 3D-dynamische Sitzen führt demnach zu einer besseren Versorgung der Muskulatur im Lumbalbereich, der besonders häufig von Rückenschmerzen betroffen ist. Die Bewegungsmöglichkeiten sind im Vergleich zu einem konventionell beweglichen Bürostuhl ungleich vielfältiger und werden in der Büroarbeit auch tatsächlich genutzt. Last but not least schätzten die Probanden den 3D-dynamischen Bürostuhl in allen Kriterien für Beweglichkeit und Wohlbefinden auch subjektiv besser ein. Die Wissenschaftler halten das Sitzkonzept daher für eine wirksame Prävention gegen die typischen Rückenschmerzen, die ihre Ursache in der Lumbalmuskulatur haben.
Der Stoffwechsel als neue Kenngröße der Ergonomie
Reflektierten die bisherigen Ergonomie- und Arbeitsplatzkonzepte mit den Schwerpunkten Haltung und Biomechanik den Zeitgeist und wissenschaftlichen Kenntnisstand des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so wird jetzt immer deutlicher, dass Gesundheit und Wohlbefinden vor allem eine Frage des Stoffwechsels sind. Dazu gehört natürlich die Ernährung, aber vor allem auch die Aktivierung der Muskulatur als größtem Stoffwechselmotor des Körpers. Und diese Aktivierung zahlt sich aus. Der Produktivitätszuwachs durch bessere Konzentrationsleistung spielt in kurzer Zeit die Investitionen in mehr Beweglichkeit ein, von den längerfristigen Motivations- und den langfristigen Gesundheitseffekten ganz zu schweigen. Es geht dabei nicht um Fitness oder Sport, sondern um die Minimalaktivitäten, die ein gesunder Stoffwechsel benötigt. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, nicht nur das Sitzen, sondern auch die Organisation der Büroprozesse und die Architektur des Büroraums insgesamt zu überdenken. Bewegt Euch, Mitarbeiter, heißt das Gebot der Stunde in den neuen Arbeitswelten – und das nicht nur im übertragenen Sinn!Burkhard Remmers ist Autor zahlreicher internationaler Fachpublikationen und gilt als Experte für nachhaltige Office-Konzepte. Der Germanist und Historiker arbeitet seit 1995 für Wilkhahn, das nicht nur mit zahlreichen Designpreisen, sondern auch mit dem Deutschen Umweltpreis der DBU ausgezeichnet wurde.
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 02/03 2018 - Wasser - Grundlage des Lebens | Bildung erschienen.
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