Hydrogen Dialogue 2024

Tierärztliches Forum für verantwortbare Landwirtschaft

Ein Positionspapier

Die Tierärztinnen und Tierärzte dieses Forums postulieren, dass die durch industrialisierte Landwirtschaft verursachten erheblichen Probleme systembedingt weiter zunehmen. Da die Bereiche Tierschutz und Medikamenteneinsatz in der beruflichen Zuständigkeit der Tierärzte liegen, nehmen gerade sie, die Tierärzte, im System eine Schlüsselposition ein. Ihnen fällt die Pflicht zu, sich dieser Aufgabe zu stellen und sie verantwortungsbewusst auszufüllen.
 
Die Kosten der Schäden für Mensch, Tier und Umwelt werden nicht von den Verursachern getragen, sondern auf Einzelne und/oder die jeweiligen Staaten abgewälzt und damit steuerfinanziert. © Sue Rickhuss, pixabay.comLandwirtschaft wird zunehmend industrialisiert und ökonomisiert, getrieben von global agierenden Chemie-, Pharma-, Düngemittel-, Gentechnik-, Futtermittel- und Tierzuchtkonzernen mit supranationalem Einfluss. Diese Entwicklung wird durch politische Rahmenbedingungen und öffentliche Gelder (Subventionen) gefördert, wodurch die Billigproduktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse massiv ausgeweitet werden konnte. Industrialisierte Landwirtschaft verbraucht hohe Mengen vorwiegend fossiler Energie und rentiert sich nur, weil das Verursacherprinzip nicht durchgesetzt wird: Die Kosten der kurz- und langfristigen Schäden für Mensch, Tier und Umwelt werden nicht von den Verursachern getragen, sondern auf Einzelne und/oder die jeweiligen Staaten abgewälzt und damit steuerfinanziert.
 
Auf diese Weise werden in unverantwortlichem Maße ökologische Lebensgrundlagen, Gesundheit, das soziale Miteinander der Menschen sowie das Wohl der Tiere geschädigt. Dabei wirkt die Forcierung des Fleischkonsums als eine der Hauptursachen für die Zunahme des Welthungers.
 
Im Einzelnen verschärft die Entwicklung eine Fülle mitein­ander verbundener Risiken:
  • Zerstörung, Vergeudung und Verschmutzung der natürlichen Ressourcen: Boden und Bodenfruchtbarkeit, Wasser und Atmosphäre. Verlust der wilden ebenso wie der gezüchteten Artenvielfalt, Kontamination der Ökosysteme mit Nitraten, Pestiziden und Stoffen mit pharmakologischer Wirkung (Antibiotika, Hormone).
  • Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch die Entstehung und Ausbreitung antibiotikaresistenter Keime in Intensivtierhaltungen sowie chemisch/pharmakologische Rückstände in Lebens- und Futtermitteln.
  • Haltung von Nutztieren (besonders Schweinen und Geflügel) unter Bedingungen, die ihr Wohlbefinden, das Ausleben ihrer Bedürfnisse und Verhaltensweisen erheblich beeinträchtigen, in denen Schmerzen und Leiden der Tiere einkalkuliert werden und den Tieren jegliche Würde genommen wird. Qualzucht durch Selektion auf Hochleistung, Anpassung an nicht tiergerechte Haltungsbedingungen durch Amputationen und andere Eingriffe sowie durch hohen Medikamenteneinsatz. Diese Praxis stellt eine Missachtung des als Staatsziel im Grundgesetz verankerten Schutzes der Tiere als unsere Mitgeschöpfe dar.
  • Verdrängung kleinerer, regionaler Strukturen durch industrialisierte Großbetriebe, in denen die Betreuungsintensität der Tiere reduziert ist. Verbunden ist diese Entwicklung mit negativen sozialen Folgen für die Landbevölkerung und die Struktur des ländlichen Raumes insgesamt.
  • Durch hohen Flächenverbrauch für eiweißreiche Importfuttermittel einerseits und (subventionierte) Exporte von Fleisch und anderen Agrargütern andererseits: Verlust von Ernährungsgrundlagen und -souveränität der Bevölkerung in der 3. Welt. Einheimische Lebensmittelproduktion, das Preisgefüge einheimischer Märkte und ganze Ökosysteme werden zerstört. Das alles verschärft massiv die Welthunger­situation.
Ihre Schlüsselposition können viele Tierärzte unter diesen Bedingungen nur defizitär ausfüllen:
Die Abhängigkeit der Nutztierpraktikerinnen und Nutztierpraktiker von der industrialisierten Tierhaltung und den ökonomischen Rahmenbedingungen nimmt zu, immer häufiger bestimmen daher Effizienzsteigerung und Sachzwänge tierärztliches Handeln.
 
Amtstierärztinnen und Amtstierärzte sind einem übermäßigen Druck aus Politik und Agrarwirtschaft ausgesetzt. Sie sind an den erheblichen Vollzugsdefiziten im Nutztierschutz beteiligt. So ist das Erteilen von Ausnahmegenehmigungen zur Durchführung von Eingriffen am Tier zur Anpassung an Haltungsbedingungen zum Regelfall geworden. Viele Tierärzte fühlen sich diesem Druck weitgehend hilflos ausgesetzt und sehen kaum noch Freiräume für eigenverantwortliches Handeln im Sinne der Berufsordnung (Tierärzte als „berufene Schützer der Tiere").
 
Es hat sich gezeigt, dass tierärztliche Arbeit an den systembedingten tierschutzrelevanten Symptomen und Begleiterscheinungen der industriemäßigen Tierhaltung nichts an der Grundproblematik verbessern konnte. Vielmehr wirkt fachlich gute Arbeit letztlich als Stütze des kranken Systems – ein Dilemma.
 
Trotz alledem betonen Vertreter der Politik im Verein mit der Landwirtschaftslobby stets, das deutsche Tierschutzgesetz sei das Beste, die Überwachung funktioniere und deshalb sei alle Kritik unangemessen. Die Probleme der Tierhaltung werden auf Managementfehler im einzelnen Bestand reduziert, anstatt sie als Folge des industriemäßigen Haltungssystems zu erkennen. Tierärztliche Standesvertreter dürfen diese Position nicht länger aufrechterhalten.
Es gilt, im gesellschaftlichen Verbund Lösungen für diese Misere zu finden, anstatt Ursachen zu verschweigen und Missstände zu leugnen. Sowohl die agrarwissenschaftlichen, als auch die tiermedizinischen Ausbildungsstätten sind gefordert, einen kritischen Diskurs zum Thema einzuleiten und sich für die Entwicklung von Alternativen zu engagieren.
 
Tierärztliche Universitäten und Standes- und Verbandspolitik dürfen nicht länger zur weiteren Stabilisierung und Forcierung des agrarindustriellen Systems beitragen.
 
Im Sinne des Tierschutzes und der Lebensmittelqualität sind wir Tierärztinnen und Tierärzte jedoch verpflichtet, die Ambivalenz öffentlich zu machen und das Agrarsystem mit seinen weiter zunehmenden Bestandsgrößen, Bestandsdichten, hohem Infektionsdruck und Medikamenteneinsatz sowie das Ausmaß des Fleischkonsums auf allen Ebenen zu kritisieren, um damit glaubwürdig zu einem Systemwechsel beitragen zu können.
 
Von den Standes- und Verbandsvertretern fordern wir einen forcierten Diskurs über zukünftiges tierärztliches Wirken im Bereich der Nutztierhaltung, unabhängiges Denken sowie Distanz zu politischen und wirtschaftlichen Lobbyisten, auch, weil es im Interesse des gesamten Berufsstandes liegen muss, gesellschaftlich akzeptiert zu bleiben.
 
Wir werden alle Möglichkeiten nutzen, unsere Position sowohl innerhalb des Berufsstandes als auch in der Öffentlichkeit zu vertreten und stehen einer Zusammenarbeit mit Initiativen gleicher Zielrichtung aufgeschlossen gegenüber.
Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft e.V.

Die Entwicklung der Landwirtschaft hin zu hochspezialisierter Intensivproduktion auf Kosten des Tierschutzes und auf Kosten ökologischer Lebensgrundlagen führte im Juni 2012 zur Gründung des Tierärztlichen Forums für verantwortbare Landwirtschaft, für dessen Positionen sich inzwischen mehr als 160 Tierärztinnen und Tierärzte einsetzen.

In der organisierten Tierärzteschaft, den tierärztlichen Verbänden und Vereinigungen finden die systemkritischen Positionen des aus dem Tierärztlichen Forum hervorgegangenen Vereins Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft e.V.  jedoch bisher keine Unterstützung. Traditionell steht man hier loyal an der Seite des Deutschen Bauernverbandes, der, getrieben von radikaler Marktideologie, maßgeblich die industrielle Intensivtierhaltung und das Absterben bäuerlicher Kulturen auf dem Land zu verantworten hat.

Dabei kommt der Weltagrarrat in seinem Bericht bereits 2008 zu dem Schluss, dass angesichts von Klimawandel, Bodendegradation und Hungerepidemien eine radikale Kehrtwende in der Landwirtschaft unausweichlich ist. Statt die Produktivität kurzfristig um jeden Preis zu steigern, gilt es, den langfristigen ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Nutzen der Landwirtschaft in den Mittelpunkt zu stellen. TfvL e.V.  lehnt den brutalen Umgang mit Tieren in industrieller Intensivtierhaltung ab und hält die deutsche Tierschutzpolitik für völlig unzureichend. Gute, sensible und ökologisch verträgliche Tierhaltung ist unvereinbar mit der Exportstrategie der Bundesregierung.  Aus unserer Sicht müssen alle Tierschutznutztierhaltungsverordnungen überarbeitet bzw. neu gefasst werden.  In ihrer jetzigen Form widersprechen sie dem Tierschutzgesetz.
 

Lifestyle | LOHAS & Ethischer Konsum, 10.04.2018
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 01/2018 - Digital in die Zukunft? Tierische Geschäfte! erschienen.
     
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