Kein Europa ohne Hellas
Schulden hin und her. Der Geist verbietet einen Grexit
Europa kam übers Meer. Sie reiste auf dem Rücken eines Stiers, in den sich Zeus verwandelt hatte: Der mächtigste und größte der griechischen Götter hatte sich in das Mädchen verliebt und sie nach Kreta getragen. Sie war die Tochter des Königs Phönix – der zwar nicht der namensgleiche Vogel ist, der sich aus der Asche der Vernichtung erhebt, was aber gut passen würde. Denn der kontinentale politische Raum, der heut Europas Namen trägt, ist – wie wir alle wissen – tatsächlich aus der Katastrophe geboren. Dass auch er dabei auf dem Rücken des Griechentums ritt, wird derzeit aber vergessen; zum Unheil der Vergesslichen.
Denn wahrlich: Was wäre Europa ohne den Geist der Hellenen, der sich in Zeus zu einer prächtigen Gestalt verdichtete? Was wäre Europa ohne den großen Aufbruch jenes Volkes, das an seinen Göttern Maß nahm, um wahre Menschlichkeit zu kultivieren – das die Demokratie erfand, das an die Freiheit des Menschen glaubte, das die Philosophie erschuf und sich nicht dem Diktat der Monarchien und Monotheismen fügte. Was wäre Europa ohne die Tragödie und die Lyrik, die Mathematik und die Wissenschaft, das Politische und den Glauben an Gerechtigkeit und Harmonie? Die Antwort ist einfach: Dieses Europa gäbe es nicht.
Ein Grexit tötete Europas Geist
Und dieses Europa wird es nicht mehr geben, wenn es zum Grexit kommt. Denn sollten sich die Kämmerer und Krämer in Brüssel und Berlin durchsetzen, verlöre die Eurozone viel mehr als nur ein wirtschaftsschwaches Land – es verlöre (vollends) seinen Geist. Dann nämlich wäre der Triumph des Ökonomismus über das Politische perfekt. Es wäre der Sieg einer Denkweise, der Wohlstand mehr gilt als Würde und die Freiheit gegen Sicherheit eintauscht; die menschliche Lebendigkeit für monetäre Profitabilität opfert.
Die griechische Republik führt die Worte Elefthería i thánatos im Wappen: „Freiheit oder Tod". Sie steht damit in einer Tradition, die nicht nur an die tapferen Spartaner und ihren legendären Widerstand gegen die persische Übermacht gemahnt, sondern nimmt ebenso Bezug auf den höchsten Wert der europäischen Aufklärung, deren schönste Frucht die modernen Republiken und die Menschenrechte sind. Auf diesen Wert beruft sich auch Alexis Tspiras. Er kämpft, so sagt er, für die Freiheit und die Würde seines Volkes. Wer hier ein falsches Spiel oder Rhetorik wittert, verrät damit, dass er diese Werte längst vergessen hat oder – schlimmer noch – wissentlich ignoriert. Wer diese Werte ignoriert oder – schlimmer noch – als „linke Ideologie" verhöhnt, verdient es nicht mehr, Europäer zu heißen. Denn er hat den Boden jenes Kulturraumes verlassen, der um des Menschen und seiner Freiheit willen geschaffen wurde: das Land, wohin einst Zeus die Königstochter trug.
Ja zum Leben
In Griechenland geht es ums Ganze. Tspiras hat Recht, wenn er das betont: Es geht darum, die europäischen Ideale und Werte der freien Humanität gegen die Dominanz des Ökonomismus zu verteidigen. Ökonomismus ist nicht Ökonomie; die Ökonomie kann dem Menschen zum Segen gereichen, der Ökonomismus kann das nicht. Denn er ist eine Denkweise, die alle Bereiche des Lebens ihren Kriterien unterwirft – die den Menschen in einen Verbraucher oder Nutzer konvertiert und der es fernliegt, ihn zur Blüte der Lebendigkeit zu bilden. Das Nein der Griechen zu Spardiktat ihrer Gläubiger ist in Wahrheit ein Ja zum Leben – eines, das sich dagegen verwehrt, Politik und Markt zu verwechseln; das sich dagegen sträubt, die monetären Interessen von abstrakten Staaten, Institutionen und Anliegen höher zu werten als die konkrete Würde konkreter Menschen. Freiheit oder Tod – ein Satz der für ein Banker-Hirn nicht denkbar ist.
Weil offenbar nur Griechenland zurzeit gewillt ist, die Rückbindung an jene Werte zu bewahren, denen Europa sich verdankt, wäre der Grexit für Europa eine Katastrophe. Es wäre der Verlust der eigenen Wurzeln. Es wäre der Abstieg --- vom Rücken des Zeus, des kraftvollen Gottes, der die Lebendigkeit im Namen führt. Was aber bliebe dann noch von Europa? Ein armes, sterbliches Ding auf einem tosenden Meer; zum Untergang im (Mittel)Meer verdammt, ein heimatloser Flüchtling auf dem ungewissen Wege zu sich selbst.
Wir sollten die nicht schmähen, deren Geist uns trägt. Europa braucht das neue Hellas, denn nur in ihm wird derzeit noch erkennbar, was einst Europa aus der Taufe hob. Die eigenen Quellen zu vergessen und die eigenen Wurzeln zu zerschneiden, bringt den Tod. Europa aber darf nicht sterben. Der Grexit muss vermieden werden.
Christoph Quarch
ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
ist Philosoph aus Leidenschaft. Seit ihm als junger Mann ein Büchlein mit »Platons Meisterdialogen« in die Hand fiel, beseelt ihn eine glühende Liebe (philia) zur Weisheit (sophia), die er als Weg zu einem erfüllten und lebendigen Leben versteht. Als Autor, Publizist, Berater und Seminarleiter greift er auf die großen Werke der abendländischen Philosophen zurück, um diese in eine zeitgemäße Lebenskunst und Weltdeutung zu übersetzen."
Lesen Sie mehr von ihm unter www.christophquarch.de
Als forum Redakteur zeichnet Christoph Quarch verantwortlich für den Sonderteil „WIR - Menschen im Wandel".
Gesellschaft | Pioniere & Visionen, 09.07.2015
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