Der Herr der Fliegen
Herr Dr. Hans Dietrich Reckhaus will mit Kompensationsflächen für Insekten Bewusstsein für die Leistungen der Natur schaffen
Was Kunst nicht alles bewegt: Ausgerechnet ein Biozidhersteller setzt sich dafür ein, Insekten mit Respekt zu behandeln. Mit Ausgleichsflächen erweitert Dr. Hans-Dietrich Reckhaus so sein Geschäftsmodell vom Töten zum Retten.
Insekten sind die artenreichste Tierklasse – und die meistgejagte: Alte Quellen belegen, dass wir Menschen uns seit mindestens 4.000 Jahren gegen Flöhe, Fliegen, Mücken und andere Schädlinge wehren. Frühe Methoden waren das „Räuchern mit Schwarzkümmel, die Verwendung von Kupfervitriol, ein Anstrich der Wände mit Koriandersamen und Öl und das Verspritzen von Hollunderaufkochungen".
Heute gibt es andere Methoden: von Sprays, über Köderdosen, bis Mottenpapiere. Lebensmittelgeschäfte, Drogerien, Gartenmärkte und Reformhäuser bieten umfangreiche Sortimente an. Die Wirkstoffe sind bezüglich Wirkung und Risiken getestet und unterliegen geregelten Zulassungsverfahren. Auch Institute wie „Stiftung Warentest" oder „Ökotest" befassen sich regelmäßig mit dem Thema. Damit scheint für den Verbraucher alles in Ordnung zu sein. Aber warum fragt keiner nach dem Wert der Insekten?
Was ist ein Insekt wert?

- Rund ein Drittel aller Nahrungsmittel geht auf die Bestäubung durch Insekten zurück.
- Bis zu 75 Prozent unserer Kulturpflanzen und bis zu 90 Prozent aller Wildpflanzen sind auf Insekten angewiesen.
- Auch Viehzucht und Textilproduktion sind ohne den Beitrag der Insekten nicht denkbar, weil sie den dafür nötigen Pflanzen bei der Reproduktion helfen.
Allein den wirtschaftlichen Nutzen der Bestäubung schätzen Forscher auf 265 Milliarden Euro pro Jahr. Der Insektenforscher Edward Wilson glaubt sogar, dass wir ohne Insekten nur zehn Jahre überleben würden.
Kunst oder Verrücktheit? Sie rütteln wach
Dr. Hans-Dietrich Reckhaus bekämpft mit seinem gleichnamigen Familienunternehmen mit Sitz in Bielefeld seit über 50 Jahren Insekten: Er stellt Biozide her. Doch 2012 verweigerten ihm die befreundeten Schweizer Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin, eine kreative Werbung für seine klebrige Fliegenfalle „Flippi" zu erdenken. Sie drehten den Spieß um und fragten ihn: Willst Du nicht lieber mal Fliegen retten? Der gestandene Unternehmer stutzte, lehnte aber nicht ab. Nach einer schlaflosen Nacht gab er grünes Licht für eine Aktion, die später als „Fliegenretten in Deppendorf" über die Lokal- und Klatschpresse hinaus bekannt werden sollte.
Die Geschichte in kurz: Reckhaus gewann die Bevölkerung in Deppendorf bei Bielefeld für einen Aktionstag mit Bierzelt und Gegrilltem, an dessen Ende derjenige, der die meisten Fliegen gefangen und lebendig zur Feierstätte brachte, einen Wellness-Urlaub in Bayern gewann. Mit Fliege. Das unter den 901 anderen Geretteten auserwählte Insekt bekam den Namen Erika, einen eigenen Platz in Taxi, Helikopter und Flugzeug sowie ein eigenes Hotelzimmer mit reichhaltigem Obstbuffet.
Hier durften Künstler ihre Ideen mal bis zu Ende spinnen. 400.000 Euro hat sich der Familienunternehmer Reckhaus das ganze kosten lassen. Bis heute kann niemand sicher sagen, ob es sich nun um einen Werbe-Gag, eine Kunstaktion oder die Idee einer Handvoll Verrückter handelt, die durch Charisma, ansteckende Begeisterung und religiösen Ernst Anhänger finden konnten. Fest steht, dass „Fliegen retten in Deppendorf" bei jedem, der davon hört, Verwirrung stiftet, zum Kopfschütteln oder Lachen bringt, zumindest aber kurz zum Nachdenken anregt: Was ist der Wert einer Fliege? Seine Erika konnte Reckhaus damit nicht für immer retten. Sie starb nach einem außergewöhnlich langen und erlebnisreichen Leben, feierlich bestattet mit ihren 900 Gefährten. Ein Grabstein in Deppendorf erinnert an sie.
Gütezeichen des Respekts oder Ablass für Mord?
Hans-Dietrich Reckhaus wollte noch einen Schritt weiter gehen. Die Auswirkungen seiner Produkte – den Tod von Insekten – könne er nicht direkt verhindern, sagt er. Die größten ökologischen Probleme im Produktlebenszyklus eines Insektenbekämpfungsmittels lägen nun mal in der Anwendungsphase. Doch den Respekt für die Leistungen der Sechsbeiner in der Gesellschaft könnte er fördern. Ihren Taten auch einen ökonomischen Wert geben.

Für Reckhaus erscheint seine Verwandlung vom Insektenvernichter zum Insekten-auch-Retter keineswegs paradox, sondern nur folgerichtig. „Wer sonst könnte sich um die Kompensation kümmern, wenn nicht wir Hersteller?", provoziert er die Branche. „Wenn wir nachhaltiges Wirtschaften ernst meinen, müssen wir die Schäden ausgleichen". Außerdem will er, dass weniger Biozide zum Einsatz kommen – dafür aber gezielter. Für Privatverbraucher bietet Reckhaus daher Informationen über Präventivmaßnahmen sowie einen Insektenbestimmungsdienst, um über die Bedeutung der nützlichen, aber oft lästigen Tiere aufzuklären.
Zaghaftes Umdenken im Handel
Bisher tragen nur Produkte der eigenen Marke „Dr. Reckhaus®" das neue Zeichen. Doch bald schon soll „Insect Respect" auch auf den Produkten anderer Anbieter prangen. Langfristig will der Unternehmer seine Haupteinnahmen aus der Insektenrettung mit Ausgleichsflächen einfahren und die Fallen- und Giftherstellung zurückfahren.
Skeptiker bleiben nicht aus. Denn es bleibt das moralisch-ethische Dilemma, dass ein Biozidhersteller in erster Linie den Insektenmord fördert. Der Respekt durch Ausgleichsflächen kommt erst danach. Umweltverbände kritisieren, dass Reckhaus das Prinzip „Erst vermeiden, dann verringern, dann kompensieren" nicht beachtet, sondern die Verantwortung auf den Anwender verlagert. Sein Geschäftsmodell selbst hinterfrage er nicht.
Gleichwohl hat bisher noch kein Insektenvernichtungshersteller eine vergleichbare „Lösung" vorgestellt. Und früher oder später war jeder Verbraucher schon mal froh, die Motten aus dem Schrank endlich los zu sein, die Obstfliegen vom Apfel fernzuhalten oder sich juckende Mückenstiche zu ersparen. Reckhaus bleibt – wenn auch umstrittener – Pionier. Im Handel stößt die Idee von „Insect Respect" inzwischen auf wachsendes Interesse. Reckhaus ist überzeugt: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Verbraucher auch in der Insektenbekämpfung nach Lösungen verlangen werden, die Ökonomie und Ökologie in Balance bringen. Bis dahin wird noch die eine oder andere Schwester von Erika stille Örtchen besuchen, sich eines neuen Biotops erfreuen – oder in der Falle kleben bleiben.
Dieser Artikel ist in forum Nachhaltig Wirtschaften 03/2014 - Tooooor! 3:0 für Nachhaltigkeit erschienen.
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