Hydrogen Dialogue 2024

Die Macher des neuen Wirtschaftssystems

Wer stellt die Weichen für eine zukünftige Gemeinwohl-Ökonomie?

Immer mehr Wirtschafts- und Gesellschaftsakteure lassen sich nicht mehr mit dem Argument abspeisen, dass das "System" von allein richtig agiert und - weiser als die Menschen - alle Kräfte des freien Marktes für das Gute bündelt. Doch wie gelingt der Ausbruch aus einem "alternativlosen" System? Durch unser Vorangehen! Ein Appell an verantwortungsvolle Unternehmer.

"Nachhaltigkeit schafft Wettbewerbsvorteile" ist der Slogan des Nachhaltigkeitsrats der Bundesregierung. Dem kann man generell zustimmen, wartet doch eine aufgeklärte Konsumentengeneration - die auch "Greenwashing" von wirklicher Nachhaltigkeit mittlerweile unterscheiden kann - nur darauf verantwortliches Wirschaften auch zu belohnen.

Die Gleichsetzung von Nachhaltigkeit und Wettbewerbsvorteil kreist aber noch ganz in den Selbstverständlichkeiten einer konservativen Wirtschaftslehre in der Annahme, dass es keinen Widerspruch gäbe zwischen dem Einzelinteresse kapitalistischer Vorteilswirtschaft und dem gesellschaftlichen Nutzen einer wirtschaftlichen Tätigkeit.

Die Probleme heutiger Wirtschaftspraktiken, deren destruktive Auswirkungen - Stichworte Umwelt und Klimakrise, Bankenkrise, Eurokrise, Wirtschaftskrise - sich jetzt immer deutlicher als systemimmanente Krisen zeigen, liegen offensichtlich tiefer. Das scheint in den Köpfen der Politiker noch nicht angekommen zu sein, oder darf nicht gedacht werden, ist aber wohl schon längst im Bewusstsein der Gesellschaft.

Laut einer Umfrage der Bertelsmannstiftung 2010 wünschen sich 88 Prozent der Deutschen "ein neues Wirtschaftssystem". Das spricht eine deutliche Sprache - der aufgeklärte Bürger kann eben noch 1+1 zusammenzählen; den gebetsmühlenartigen Wachstumsparolen vertraut er schon längst nicht mehr.

Das Reden von politisch gewünschter Nachhaltigkeit durchschaut er schon deshalb, weil er erkennt, dass dieses System von Natur aus gar nicht nachhaltig sein kann in seinen ständigen Wiederholungen des Verfalls der Profitrate und dem daraus erwachsenden unentwegten Zwang expandieren zu müssen.


Abb. 1: Die Gemeinwohl-Bilanz hat für ein Unternehmen den Effekt der Selbstdurchleuchtung und Bewusstmachung bisheriger Leistungen für das Gemeinwohl und ist ein Instrument und Maßstab für die weitere Entwicklung.

Sinnverlust als Kollateralschaden?

Der gesunde Menschenverstand erkennt, dass es die privatkapitalistischen und egoistischen Zielkoordinaten unseres sogenannten freien Wirschaftssystems sind, deren Konsequenzen wir heute weltweit zu spüren bekommen. Er kann eine Beziehung herstellen von Spekulationen mit Nahrungsmitteln der Deutschen Bank und Allianz zu Hunger und Armut in der dritten Welt. Er spürt Empörung darüber, dass das vollkommen unbekümmert und selbstverständlich geschieht, weil es sich logisch aus dem System ergibt. Und damit gesetzlich legalisiert ist.

Der gesunde Menschenverstand sieht die Verbindung zwischen hemmungslosem, gesetzlich gefördertem Profitstreben und ökologischer Zerstörung, zwischen der Machtkonzentration weniger Reicher und der Ausschaltung der Demokratie, zwischen Konkurrenzdenken, sozialer Polarisierung und Angst, Werteverfall und Sinnverlust.

Die Hüter der "Freien Marktwirtschaft" sehen all das als Kollateralschäden und vorübergehende Krisen eines an sich alternativlosen Systems an, und wenn es eng wird, beruft man sich auf die Wirtschaftswissenschaften und deren Grundprämissen, nach denen Konkurrenz und Eigennutz immer noch die rationalsten Zielkoordinaten eines funktionierenden Wirtschaftssystems sind, das uns alle zum Wohlstand führt.

Angesichts der unübersehbaren Krisen und Fehlfunktionen beginnt jetzt aber auch in den ökonomischen Wissenschaften ein Nachdenken, ob nicht möglicherweise diese theoretischen Vorraussetzungen für eine Wirtschaft zum Wohle aller, anthropologisch und funktional, falsch sein könnten.

So hat sich kürzlich eine Gruppe von Ökonomen zu Wort gemeldet mit der Forderung einer gründlichen Revision der bisherigen theoretischen Vorraussetzungen, die sich bei genauer Betrachtung sowieso nur als ideologisch grundierte Annahmen herausstellen und nach streng naturwissenschaftlichen Kriterien nicht haltbar sind, weil sie nie wirklich erforscht wurden (www.mem-wirtschaftsethik.de).

Unterstützt werden die kritischen Ökonomen durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse aus Gehirnforschung, Soziologie und Psychologie, wonach Kooperation, Vertrauen und Solidarität weit größere Motivationen für erfolgreiches Wirtschaften freisetzen als die einseitige Fixierung auf den eigenen Vorteil.

So wird auch die bisherige Gleichsetzung von Wohlstand und Bruttosozialprodukt immer mehr infrage gestellt, zuletzt auch sehr aufsehenerregend durch den Staat Bhutan,als dessen König im April bei den Vereinten Nationen seine praktisch erprobten Vorschläge zur Erreichung des "Bruttosozialglücks" vorstellte.

Der neueste Bericht des Club of Rome am 8. Mai fasst die jetzt sichtbaren Krisen zusammen. Seine eindringliche Warnung: "Die Menschheit hat die Ressourcen der Erde ausgereizt und wir werden in einigen Fällen vor 2052 einen örtlichen Kollaps erleben". Hier zeigt sich, dass wir nur durch einen radikalen Paradigmenwechsel in der Zielsetzung wirtschaftlichen Handelns eine Chance haben das Blatt noch zu wenden!

"Alle wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl", so steht es in der Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 51. Wie weit haben wir uns von dieser einfachen Vernunft heute entfernt!

Damit stellt sich jetzt nochmals unsere Eingangsfrage: Wer stellt die Weichen dafür?

Ein radikaler Paradigmenwechsel ist notwendig!

Am 17. April waren fünf verantwortungsbewusste Unternehmen im Bundeskanzleramt und stellten vor dem Nachhaltigkeitsrat ihre Erfahrungen mit dem deutschen "Nachhaltigkeitskodex" vor.

Ergebnis: wer wirklich qualitativ etwas Gravierendes verändern will, musste feststellen, dass das scheinbar Fortschrittliche so unverbindlich bleibt, und so eng an die alten Marktbehauptungsziele angebunden ist, dass von Gemeinwohl nur noch sehr indirekt die Rede sein kann. Verwunderlich ist das nicht, denn schon lange ist Wirtschaftspolitik weitgehend Lobbypolitik, und selten war die Abhängigkeit unserer Volksvertretung vom Großkapital sichtbarer als heute.

Die konsequente Schlussfolgerung daraus: Unternehmen mit Verantwortung - für ihre Familie und ihre Enkel, für ihre Mitarbeiter, für ihre Kommune, für ihr Land, für unsere Erde - müssen jetzt die Weichen hin zu einer Gemeinwohl-Ökonomie selbst stellen!

Pioniere, bringt neue Werte mit!

Eine Bewegung von Pionierunternehmen muss jetzt entstehen, welche als ersten praktischen Schritt ihre Kapitalbilanz durch eine Gemeinwohl-Bilanz ergänzt. Diese erst kann den wirtschaftlichen Erfolg als gesellschaftlichen Nutzen abbilden, die Kapitalbilanz zeigt ihre Begrenztheit dadurch, nur die ökonomischen Mittel abbilden zu können.

Die Gemeinwohl-Bilanz ist das Herzstück einer Gemeinwohl-Ökonomie. Sie stellt den Menschen und alle Lebewesen sowie das Gelingen der Beziehungen zwischen ihnen in den Mittelpunkt des Wirtschaftens. Sie überträgt die heute schon gültigen Beziehungs- und Verfassungswerte auf den Markt, indem sie die Wirtschaftsakteure dafür belohnt, dass sie sich human, wertschätzend, kooperativ, ökologisch, und demokratisch verhalten und organisieren. Sie macht die Werte der Gesellschaft zu den Werten der Wirtschaft.

Ein solches Bewertungsinstrument gibt es bereits: die Gemeinwohl Matrix auf www.gemeinwohl-oekonomie.org. Eine neue aufgeklärte Verbrauchergeneration wird auf die Gemeinwohl-Bilanz eines Unternehmens sehr positiv reagieren, schon weil sie in in ihrer Ganzheitlichkeit und Transparenz mehr ist, als einzelne Zertifikate. Die Gemeinwohl-Bilanz ist verständlich, weil die Kriterien einfach und menschlich sind; sie ist öffentlich und für alle einsehbar.

Die sich entwickelnde demokratische Basisbewegung des Mittelstandes wird Tatsachen durch neue Werte schaffen, ethische Richtlinien werden in ihrer praktischen Anwendung sichtbar und die positive gesellschaftliche Wirkung darauf ist abzusehen.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass die freiwillige Weichenstellung verantwortlicher Pionierunternehmer hin zu einer ganzheitlichen Gemeinwohl-Ökonomie ein hohes Maß an Prestige gegenüber der Politik bewirken wird, so dass zum gegebenen Zeitpunkt auch die Forderung nach anderen Steuersätzen und einer Bevorzugung bei öffentlichen Aufträgen sowohl ethisch gerechtfertigt ist, als auch bei entsprechendem politischen Druck Erfolg haben kann.

Viel Zeit bleibt uns nicht mehr - die Weichen müssen jetzt gestellt werden!
 
 
Von Rainer Müller

Quelle:
Wirtschaft | CSR & Strategie, 29.09.2012

     
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