Welche Zukunft wollen wir für unsere Ernährung?
Der aktuelle Kommentar von Sofía Monsalve Suárez, FIAN International
Es ist eine dringende Aufgabe, ungerechte, ungesunde und die Natur schädigende Ernährungssysteme zu verändern. Da es keine Fortschritte bei der Überwindung von Hunger und Unterernährung gibt, hat UN-Generalsekretär António Guterres im September 2021 einen Gipfel für Ernährungssysteme einberufen. Der Gipfel sollte "mutige neue Maßnahmen" erörtern, um die Art und Weise, wie die Welt Lebensmittel produziert und konsumiert, umzukehren. Das Infragestellen der ungerechten Machtverhältnisse, die die industriellen Ernährungssysteme ausmachen, war jedoch nicht Teil dieser "mutigen Maßnahmen".
Ernährungssysteme verändern zu wollen und dabei nicht explizit auf Machtverhältnisse einzugehen ist im besten Fall naiv. De facto werden hierdurch Verantwortlichkeiten verschleiert. Machtvolle Akteure können ungestört von kritischen Fragen und Rechenschaftspflichten weiterhin ihre Interessen verfolgen – zum Schaden der Allgemeinheit.
Sofia Monsalve ist Generalsekretärin von FIAN International. FIAN ist eine globale Menschenrechtsorganisation, die dafür kämpft, den weltweiten Hunger zu beenden. Außerdem ist sie Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES-Food)
Dieses Versäumnis löste eine Kontroverse aus, die bis heute anhält. Die weltweite Bewegung für Ernährungssouveränität hat sowohl die starke Beteiligung des Unternehmenssektors an der Vorbereitung des Gipfels infrage gestellt als auch die Bevorzugung von Lösungsansätzen, die auf die Interessen der Unternehmen bei der Umgestaltung der Ernährungssysteme ausgerichtet sind – insbesondere die herausragende Rolle digitaler Technologien, zum Nachteil von Maßnahmen, die darauf abzielen, bestehende Ungleichheiten in den Ernährungssystemen zu verringern.
Protest gegen die einseitige Bevorzugung der Industrie
Diese Bedenken wurden in der politischen Erklärung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die aus Protest am UN-Gipfel nicht teilgenommen haben, zum Ausdruck gebracht. Aber nicht nur zivilgesellschaftliche Organisationen und indigene Völker protestierten gegen die einseitige Bevorzugung von Unternehmen. Ähnliche Bedenken wurden auch von Wissenschaftlern und Forschern geäußert, wie aus den Stellungnahmen des Internationalen Expertengremiums für nachhaltige Ernährungssysteme (IPES-Food), dem die Autorin angehört, und der unabhängigen Plattform Healthy Societies sowie von drei UN-Sonderberichterstattern für Menschenrechte hervorgeht. Zwar wurden auf dem Gipfel keine zwischenstaatlichen Vereinbarungen getroffen, aber die informellen Ergebnisse des Gipfels zielen darauf ab, den Gipfel ganz oben auf die internationale Agenda zu setzen. Einerseits durch nationale Pläne für die Transformation der Ernährungssysteme, die durch eine vom Generalsekretär eingerichtete Anlaufstelle unterstützt werden. Zum anderen durch 27 Multi-Stakeholder-Koalitionen, die eine Reihe von Themen vorantreiben sollen, die als entscheidend für die Transformation gelten. Mindestens sieben dieser Koalitionen konzentrieren sich auf die Förderung digitaler Technologien. Im Falle der FAO ist es bemerkenswert, dass die derzeitige Führung eine engere Zusammenarbeit mit dem Unternehmenssektor anstrebt und eine Digitalisierungsagenda fördert, wie aus der Analyse über "Corporate dominance of global food governance" hervorgeht, welche von Organisationen der Zivilgesellschaft erstellt wurde, die sich mit diesen Themen beschäftigen.
Nicht auf die Machtverhältnisse einzugehen ist naiv
Mit anderen Worten: Sowohl der Gipfel als auch die FAO haben ihren Schwerpunkt auf die Förderung von Technologie und Digitalisierung gelegt, um sowohl die Ernährungssysteme umzugestalten als auch die weltweite Hungerkrise zu bewältigen, die sich 2022 verschärft hat, aber schon vor der COVID-Pandemie angestiegen war. Themen wie der ungleiche Zugang zu Land, die Konzentration der Marktmacht einiger weniger multinationaler Unternehmen in Bereichen wie Düngemittel oder dem globalen Getreidehandel werden sowohl vom Gipfel als auch von der FAO ignoriert. Die derzeitige konzernfreundliche Agenda des Generalsekretärs und der FAO gießt praktisch Öl ins Feuer: Sie wird die Kontrolle der Unternehmen über die Ernährungssysteme vergrößern und das bedeutet, sie wird die strukturellen Ursachen von Hunger und Unterernährung sowie die ökologische Zerstörung verstärken.Ernährungssysteme verändern zu wollen und dabei nicht explizit auf Machtverhältnisse einzugehen ist im besten Fall naiv. De facto werden hierdurch Verantwortlichkeiten verschleiert. Machtvolle Akteure können ungestört von kritischen Fragen und Rechenschaftspflichten weiterhin ihre Interessen verfolgen – zum Schaden der Allgemeinheit.
Das Problem der ungleichen Landverteilung
Betrachten wir zum Beispiel den Zugang zu Land: Etwa 80 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe sind kleiner als zwei Hektar; sie bedecken etwa 12 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Hingegen kontrolliert ein Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe mehr als 70 Prozent der Agrarflächen. Landkonzentration ist zunehmend auch in der EU ein Problem, wo sie durch das Prinzip des freien Kapitalverkehrs zusammen mit den Subventionen der gemeinsamen Agrarpolitik, die an die Landfläche gebunden sind, angekurbelt wird.Eine starke Landkonzentration verleiht Großgrundbesitzern viel Macht. Im Falle der EU bedeutet dies die Bevorzugung der Interessen großer Agrarproduzenten zum Nachteil der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Diese Diskriminierung hat verheerende Konsequenzen für eine dezentrale, möglichst lokale Versorgung mit frischen und gesunden Lebensmitteln, für den Erhalt der heimischen Biodiversität, der Landschaftspflege sowie des praktischen und traditionellen Wissens der Kleinbäuern.
Gifte mit starker Lobby
Ein weiteres Beispiel sind Pestizide. Die fünf größten Pestizidhersteller besitzen einen Weltmarktanteil von über 80 Prozent. Etwa ein Drittel ihres Umsatzes machen sie mit dem Verkauf hochgradig gefährlicher Pestizide. Diese sind meist in ihren Herkunftsländern verboten, werden aber in Länder mit unzureichender Regulierung exportiert. So werden etwa 25 bis 30 Prozent der in Brasilien am häufigsten verwendeten Pestizide nicht in ihren Herkunftsländern – darunter auch Deutschland – verkauft. Pestizide verursachen pro Jahr geschätzt 385 Millionen Fälle akuter Vergiftungen. Betroffen ist vor allem die ländliche Bevölkerung im globalen Süden. Trotz der enormen Schäden – neben der Vergiftung von Landarbeitern auch die Verschmutzung von Böden und Wasser sowie die Verringerung der Artenvielfalt – hat der Einsatz von Pestiziden in den letzten Jahrzehnten drastisch zugenommen. Die Hersteller wenden aggressive Marketingtaktiken an und leugnen das Ausmaß der Schäden, indem sie darauf beharren, dass die ordnungsgemäße Anwendung sicher sei. Darüber hinaus betreibt die Industrie intensive Lobbyarbeit bei Regierungen und UN-Organisationen, sodass diese die Nutzung von Pestiziden fördern und einen agrarchemiefreundlichen Regulierungsrahmen schaffen. Zum Beispiel gaben im Oktober 2020 die Welternährungsorganisation (FAO) und CropLife International eine offizielle Partnerschaft bekannt. CropLife ist der internationale Lobbyverband der Agrarchemie-, Pestizid- und Saatgutbranche. Mit dieser Partnerschaft hat sich die FAO dafür entschieden, die Interessen der machtvollen Agrarkonzerne zu begünstigen, anstatt zu einer umfassenden Förderung einer agrarökologischen Wende beizutragen.
Die UNO muss reformiert werden
Die Transformation ungerechter, ungesunder und klimaschädlicher Ernährungssysteme ist eine dringende Aufgabe. Durch das geschickte Ignorieren zentraler Themen diente dieser UN-Gipfel daher der Machtfestigung von transnationalen Konzernen und den Ländern des Nordens im Weltagrarhandel. Auf diese Weise erlaubt es die UNO dem Agrobusiness, seine Kontrolle über Land, Wasser und Fischerei auszuweiten, kommerzielles Saatgut quasi zu monopolisieren und den Verkauf von Pestiziden und chemischen Düngemitteln als Lösung umzuetikettieren, anstatt die damit verbundenen Schäden anzuerkennen, geschweige denn zu beheben. 1948 erkannte die UNO an, dass Nahrung ein Menschenrecht ist. Mit dem naiven oder gewollten Ignorieren der Machtfrage weiten solche UN-Gipfel die Machtstellung von Konzernen aus, anstatt der Stimme Hunderten von Millionen hungernden Menschen Gewicht und damit Hoffnung zu geben.
Sofia Monsalve ist Generalsekretärin von FIAN International. FIAN ist eine globale Menschenrechtsorganisation, die dafür kämpft, den weltweiten Hunger zu beenden. Außerdem ist sie Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES-Food)
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