Jesus war kein Spinner

Der Weihnachtskommentar von Franz Alt

Ist Frieden möglich? Ist Frieden gar jetzt mitten in Kriegszeiten noch möglich? Das fragen sich viele Menschen an Weihnachten 2022. Zeigt die Bergpredigt Jesu auch in unserer Zeit einen Weg zum Frieden? Kann die Kraft der Bergpredigt helfen?
 
Seit mehr als 2000 Jahren gilt auf der ganzen Welt der altrömische Grundsatz „Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten". („Si vis  pacem, para bellum"). Ergebnis: 2000 Jahre immer wieder Kriege, Massenmord, unermessliches menschliches Elend und Leid, brutale Zerstörungen und Millionen Menschen auf der Flucht. Ganz in diesem Geist fordern die Verteidigungsminister aller NATO-Staaten immer wieder: „Mehr Geld fürs Militär".
 
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Wir stecken bis heute in der Kriegsfalle, die uns zuflüstert: „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen". In Deutschland wurde 2022 beschlossen, einen militärischen Sonderfonds von 100 Milliarden Euro aufzulegen. Die USA, Russland und China geben Rekordsummen fürs Militär aus und „modernisieren" ihre Atomarsenale, ihre Massenvernichtungswaffen. Kann so tatsächlich eine friedliche Welt entstehen? Wird so Frieden möglich?
 
Die Alternative heißt: Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten
Wohin diese unreflektierte Politik führt, haben wir zuletzt in Afghanistan gesehen. Der Westen ist dort gescheitert, weil er wieder einmal einen Krieg gewinnen wollte, aber nicht den Frieden. Heute ist Afghanistan ein Friedhof der Großmächte. Aber noch immer werden die nächsten Kriege vorbereitet.
 
Was und wie wäre eine neue Kultur des Friedens anstatt der alten Kriegslogik? Wie könnte die Alternative aussehen? Wie wäre es mit dem Motto „Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten"? Und wie ginge das konkret und praktisch?
 
Wir bräuchten in Europa heute viel Geld für Schienen und Schulen, für Klimaschutz und Kitas und für viele Sozialwohnungen, für die Überwindung der Armut und erst recht für die Überwindung der Ungerechtigkeit zwischen Süd und Nord. So wie fast alle anderen Länder auch. Also Geld für zivile Sicherheitspolitik. Wie kommen wir von der derzeitigen Spirale der ständigen Aufrüstung zu einer Politik der Abrüstung?
 
Eine neue Politik beginnt mit neuem Denken
© Franz AltDass auch Abrüstung möglich ist, hat uns vor über 35 Jahren Michail Gorbatschow erfolgreich vorgemacht, ein Realpolitiker mit Visionen. Weil einer den Mut hatte voranzugehen und in einem Umfeld von Hardlinern auf realisierbare Visionen zu setzen, konnten erstmals in der Menschheitsgeschichte ganze Waffensysteme einfach verschrottet werden. Kontrolliert verschrottet. Es wurde tatsächlich abgerüstet anstatt aufgerüstet. Europa wurde sicherer, die Mauer fiel und die friedliche deutsche Einheit wurde möglich.
 
Und wie sieht es heute aus, nachdem der alte Wahnsinn des atomaren Wettrüstens gerade wieder von vorne beginnt? Kein Gorbatschow weit und breit. Aber schon wieder ein Denken in der alten Kriegslogik. Steigende Rüstungsetats überall. Waren wir nur kurzfristig lernfähig? Haben wir wirklich keine anderen Sorgen, als schon wieder aufzurüsten? Das kann zum Dritten Weltkrieg und in den atomaren Abgrund führen. Noch immer wollen wir unsere eigene Angst durch Angstverbreiten gegenüber anderen überwinden. Das ist der Wahnsinn des neuen Wettrüstens. 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr – Russland droht mit einem Atomkrieg und gibt die Hälfte seines Bruttosozialprodukts für Rüstung und Nachrüstung aus; Japan verdoppelt seine Militär-Ausgaben; die USA leisten sich dreimal so viel Militärausgaben wie Russland und China zusammen. Aber jedes Jahr lassen wir Millionen Menschen verhungern. Das kann auf Dauer nicht gutgehen.
 
Es gibt immer Alternativen
Was wäre ein Atomkrieg, fragte ich einst den Fachmann Gorbatschow. Seine Antwort: „Ein Atomkrieg wäre wahrscheinlich der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten. Lasst uns diesen Wahnsinn endlich stoppen." Darüber schrieben wir 2017 ein gemeinsames Buch: „Nie wieder Krieg – kommt endlich zur Vernunft!". Es wurde Gorbis Vermächtnis.
 
Meine Geschichte mit Michail Gorbatschow begann Mitte der Achtziger. Ich hatte das Buch „Frieden ist möglich – Die Politik der Bergpredigt" publiziert. Danach traf ich einen russischen General, der Sicherheitsberater von Gorbatschow im Kreml war. Er sagte mir: „Gorbatschow ließ sich ihr Buch auf russisch übersetzen. Wir werden in der Sowjetunion jetzt eine Politik im Geiste der Bergpredigt machen und einfach mit dem Wettrüsten aufhören, weil es keinen Sinn mehr macht und gefährlich ist".
 
Das war tatsächlich mein Vorschlag in meinem Bergpredigt-Buch: Einer muss anfangen, aufzuhören. Die Feindesliebe Jesu heißt nicht: Lass dir alles bieten, sondern ganz realistisch: Mach den ersten Schritt auf den anderen zu. Tatsächlich wurde „Gorbi" der größte Abrüster aller Zeiten, er hat damit den Weg zur friedlichen deutschen Einheit geebnet, den Kalten Krieg beendet und die Welt positiv verändert. 80 Prozent aller Atomwaffen wurden verschrottet. Die Hauptgefahr eines Atomkriegs war beseitigt. „Wie war das möglich?, wollte ich später von ihm wissen? „Nur durch Vertrauen, das ich zum damaligen US-Präsidenten Reagan aufbauen konnte", war seine Antwort. Nun ist Michail Gorbatschow gestorben.
 
Du sollst nicht töten
In unserem gemeinsamen Buch sagt er: „Wir sind  eine Menschheit auf  einer Erde unter  einer Sonne". Wirklicher Frieden könne „nur erreicht werden unter der Bedingung einer demilitarisierten Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen. Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden – sei es auch als letztes Mittel – sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen". Kein Wunder, dass Gorbatschow und Putin nie Freunde werden konnten. Noch kurz vor seinem Tod schickte mir Gorbatschow einen Artikel für die Zeitung „Russia Global Affairs". Als die dringendsten Probleme unserer Zeit nennt er: die Abschaffung der Atomwaffen und die Überwindung der Massenarmut in den Entwicklungsländern sowie die Rettung des Weltklimas.
 
Das Ur-Ethos aller Religionen und Weisheitslehren heißt: „Du sollst nicht töten". Das meint aber auch „Du sollst nicht töten lassen", falls du das verhindern kannst. Deshalb wäre es beim Massenmord in Ruanda 1994 notwendig und moralisch richtig gewesen, wenn die anwesenden UNO-Soldaten versucht hätten, den Massenmord zu verhindern – auch mit Waffen.
 
Eskalation oder unterlassene Hilfeleistung?
Wer hat nun 2022 Recht in Deutschland: Diejenigen, die für Waffenlieferungen an die Ukraine sind oder die dagegen sind? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es genau. Beide Seiten können schuldig werden. Jede Entscheidung hat ihre dunkle Seite. Jede Entscheidung fordert Menschenleben. Jede Entscheidung macht schuldig. Die Befürworter der Waffenlieferungen können nicht ausschließen, dass diese zur weiteren Eskalation beitragen. Und die Gegner von Waffenlieferungen können aber auch nicht ausschließen, dass sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Wir sind in dieser Frage gespalten. Wir sollten aber gerade jetzt auf einander hören. Es gibt auch eine Kultur des Zweifelns und der Bedachtsamkeit. Ich bin froh, dass Deutschland jetzt einen Bundeskanzler hat, der zwar Waffen liefert, aber es nur zögerlich tut. Zögern und Zaudern scheint mir in Kriegszeiten klüger als forsches Eskalieren. Wir müssen lernen, dass wirkliche Sicherheit auch immer die Sicherheit das Gegners ist.
 
Auch Papst Franziskus hat in diesen Monaten Zweifel an Waffenlieferungen von außen geäußert, aber zugleich das Recht auf Selbstverteidigung jedes Landes unterstrichen. Jeder wirkliche Pazifist und jede wirkliche Pazifistin muss sich allerdings fragen, wie sich in diesem Vernichtungs-Krieg Putins die Ukraine ohne Waffen verteidigen soll. Vielleicht brauchen wir jetzt einen Umweg „Frieden schaffen mit Waffen", um das langfristige Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen" zu erreichen. Das wäre ein differenzierter Pazifismus. Fakt ist: Deutsche Abwehrraketen haben in den letzten Wochen vielen Ukrainern das Leben gerettet.
 
Kein Pazifismus im Sinne des Aggressors
Eines sollten wir uns aber auch immer wieder klar machen – auf welcher Seite wir auch stehen: Betroffen sind immer zuerst die Menschen in der Ukraine. Ihre jungen Männer werden getötet, ihre Frauen werden vergewaltigt, ihre Kinder und ihre Alten werden zur Flucht gezwungen. Da verbietet sich deutsche Besserwisserei. Deutscher Pazifismus kann also nicht heißen, dass wir vom sicheren hiesigen Boden aus, den Ukrainern empfehlen könnten: Bitte ergebt euch! Das wäre ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Es wäre ein „Pazifismus", der dem Aggressor noch die Tür aufhält. Was dabei oft vergessen wird: Schon die deutsche Ur-Pazifistin Bertha von Suttner hielt Verteidigungskriege für legitim. Und der bekannteste deutsche Pazifist Albert Einstein differenzierte zwischen „vernünftigem Pazifismus" und „verantwortungslosem Pazifismus". Ich unterscheide heute zwischen Real-Pazifismus und Fundamental-Pazifismus.
 
Die Bergpredigt: Das Überlebensprogramm der Menschheit
Mit über 700 Milliarden Dollar pro Jahr fürs Militär ist die USA noch immer die stärkste Militärmacht der Welt. Deshalb sollten sie gerade jetzt mit Abrüstungsschritten beginnen, damit die anderen folgen. Abrüstung gelingt, wenn der Stärkste damit beginnt. Nur weniger Waffen bringen mehr Sicherheit für alle.
 
Jesus hat uns in seiner Bergpredigt „Feindesliebe" empfohlen. Ist das naiv? War Jesus ein Spinner?
 
Feindesliebe heißt ja nicht: Lass dir alles bieten. Sondern: Sei klüger als dein Feind. Hab den Mut zum ersten Schritt. Die Bergpredigt, so hat es mir Gorbatschow mal gesagt, „ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit".
 
Immerhin hat Helmut Kohl diesen Vorschlag gemacht: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen". Also abrüsten statt aufrüsten. Darf man die heutigen Verteidigungsminister der NATO, meist Christen, noch an Jesus und Helmut Kohl erinnern? Oder gar an die Bergpredigt-Erkenntnis von Michail Gorbatschow? Das Ziel wäre dann – vielleicht bis 2040 – Frieden schaffen ohne Waffen. Lasst uns Sicherheit doch mal ganz neu denken. Mit der Bergpredigt kann man Politik machen, ihr lieben Christen in der Politik! Wirkliche Friedenspolitik. Die Bergpredigt ist eine Frohbotschaft und keine Drohbotschaft. Jesus war ein Realist.
 
Neue Wege sind möglich
Und denen, die sagen, mit der Bergpredigt kann man nicht regieren, meine Gegenfrage: Habt Ihr es je probiert? Gorbatschow hat´s doch vorgemacht. Und zwar erfolgreich. Bundeskanzler Scholz sagte soeben in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass er auch 2023 den Kontakt zu Putin halten wolle und Friedensverhandlungen suche. Es gibt aus den letzten Wochen zwei Ereignisse, die zeigen, dass Verhandlungen auch jetzt noch besser und erfolgreicher sein können als weitere Eskalation: Russland und die Ukraine haben unter dem Vorsitz der Vereinten Nationen das Weizenabkommen geschlossen und beide Seiten haben auch einen Gefangenen-Austausch erfolgreich organisiert. Voraussetzung für einen Frieden in der Ukraine ist ein rascher Waffenstillstand.
 
Franz Alt. © Chris Alt
Soeben hat auch der erfolgreiche Abschluss der Weltnaturkonferenz gezeigt, dass neues Denken und Handeln sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik möglich sind. Es gibt immer Alternativen. Meine Kronzeugen für diese realistische Einschätzung zu Weihnachten 2022 sind Jesus und seine Bergpredigt, die Abrüstungs-Politik von Michail Gorbatschow und die Lehre der Gewaltfreiheit meines langjährigen Freundes, des Dalai Lama. Alle Probleme, die Menschen geschaffen haben, sind auch von Menschen lösbar.
 
Franz Alt ist Journalist und Bestseller-Autor. Zusammen mit Michail Gorbatschow veröffentlichte er das Buch „Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft" . Zusammen mit dem Dalai Lama schrieb er: „Ethik ist wichtiger als Religion" und „Schützt unser Klima". Im Buch „Jesus – Liebe und Frieden sind möglich" führt er ein fiktives Interview mit Jesus über die Bergpredigt. Alle Bücher im Benevento-Verlag. Sein neues Buch ist im Herder-Verlag soeben erschienen: „Frieden ist noch immer möglich – Die Kraft der Bergpredigt".

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