Europa – Insel des Pazifismus?

Der aktuelle Kommentar von Gero Jenner

„Wir haben die Energie ausgelagert nach Russland, die Wachstumsmärkte nach China, die Sicherheit kommt aus den USA. Gleichzeitig fordern uns Klimawandel und Migration enorm heraus. Jetzt kommt auch noch Krieg dazu. Es geht um die Selbstbehauptung unserer europäischen Art zu leben. Wenn wir sie nicht verteidigen, wird sie nicht bestehen."
 
So sagte der ehemalige Umweltminister Norbert Röttgen neulich in einem Spiegel-Interview (Der Spiegel 21/2022). Und er hat recht. Bedenken wir: Europa verdankt seinen welthistorischen Aufstieg der industriellen Revolution, die in England beginnend gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts den Aufstieg Deutschlands ermöglichte- und diese Revolution gründete auf der Ausbeutung reichlich vorhandener Kohlelager. Als im Ersten Weltkrieg das Öl eine entscheidende Rolle zu spielen begann, geriet der alte Kontinent allerdings schon in Schwierigkeiten, im Zweiten Welt wurde bereits darum gekämpft. „Der Krieg in Europa wurde im Kampf um die Kontrolle über die Ölvorräte im Bereich des Kaspischen Meeres entschieden. Der deutsche Vorstoß nach Stalingrad hatte das Ziel, sich dieser Vorräte zu bemächtigen und der Sowjetunion den Zugang zu verwehren" (Ugo Bardi).
 
Die Globalisierung – eine trügerische Lösung
Entscheidet sich Europa dafür, eine Insel des Pazifismus zu bilden? © Tim Heckmann, pexels.comDoch nach dem Krieg schien dieses Problem auf ungeahnt friedliche Weise gelöst. Mochten die eigenen Energiequellen versiegen und auf die Kohle verzichtet werden, weil sie die Umwelt besonders schädigt – in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft konnte Europa die benötigte Energie nun von überall beziehen: am Golf ebenso wie in Afrika oder Russland und später auch noch als Flüssiggas von den USA.
 
Globalisierung schien das Patentrezept gegen Knappheit zu sein. Deutschland stellte seine überall auf der Welt begehrten Industriegüter her, dafür war der Rest der Welt gern bereit, es im Gegenzug mit Rohstoffen zu versorgen. So wuchsen Abhängigkeiten, die offenbar allen zum Vorteil gereichten. Kein Geringerer als Robert Reich, der ehemalige Arbeitsminister von Bill Clinton, stimmte Anfang der neunziger Jahre noch ein weithallendes Loblied auf die Segnungen der Globalisierung an – und fast alle tonangebenden Wirtschaftswissenschaftler sangen fröhlich in diesem Chore mit (einige tun es noch heute). Denn in der Theorie ist diese Lehre der Arbeits- und Ressourcenteilung ja auch vollkommen richtig: Jeder gibt, was er selber hat oder leistet, und dafür empfängt er, was ihm fehlt beziehungsweise nicht leisten kann. Kann es ein schöneres Ideal von Gegenseitigkeit geben?
 
Den Wohlstand ans Ausland verschachert
Der Pferdefuß liegt in den Folgen, welche dem menschlichen Bedürfnis nach Macht entspringen. Als Robert Reich „The Work of Nations" schrieb,  schien die amerikanische Weltmacht nur zu profitieren, wenn sie ihre Bürger von allen industriellen Drecks- und Routinearbeiten befreite, indem sie diese an die armen Chinesen in einem damals immer noch unterentwickelten Land abtrat. Als einer der führenden Wirtschaftsexperten öffnete der Experte Robert Reich im Namen seiner Wissenschaft die Schleusen der Auslagerung. So wurde innerhalb kürzester Zeit die US-amerikanische Industrie im eigenen Land demontiert und in China neu aufgebaut. Man kann durchaus behaupten, dass Robert Reich den theoretischen Grundstein dafür legte, dass die USA gleich beides: Work und Wealth der amerikanischen Nation, an China verschacherten. Das geschah derart schnell, gründlich und mit so viel kollektiv mobilisierter Energie, dass das fernöstliche Land de facto innerhalb von nur drei Jahrzehnten zur ersten Wirtschaftsmacht der Erde aufrückte.
 
Dabei hatten die Amerikaner fast alles erfunden oder zur industriellen Reife entwickelt, worauf die moderne Zivilisation beruht – alles vom Computer über das Handy bis zum Internet, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind sie nicht länger die Hüter der von ihnen geschaffenen Schätze. Donald Trump war der erste, der mit Staunen und Widerwillen auf den Rust Belt im eigenen Land blickte und die vielen gescheiterten Existenzen, die daraus entstanden waren. Erst da begriffen die Amerikaner, welche monumentale Dummheit sie begangen hatten. Von „Experten" im Namen einer abstrakten Theorie verführt, welche die Macht ignoriert, da diese keinen Platz in der ökonomischen Theorie besitzt, hatten sie weit mehr als nur einen Großteil ihrer industriellen Produktion an China abgegeben – mit der Erosion ihrer ökonomischen Basis war zugleich ihre Stellung als Supermacht ausgehöhlt.
 
Die Abhängigkeit Europas
Deutschland hat seine Industrien nur teilweise ausgelagert. Die Auslagerung betrifft, wie Röttgen bemerkt, vor allem Wachstumsmärkte und damit die eigentliche Quelle des Reichtums. Doch während die USA einen Großteil der produzierenden Industrien auslagerten, hat sich Deutschland in eine noch tiefere Abhängigkeit begeben, indem es den Großteil seiner Energie aus Russland bezieht. Auch in diesem Fall wurde der Faktor Macht ausgeblendet, so als hätte man es mit einer reinen Geschäftsbeziehung zu tun. Putin aber hat die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie er diese Abhängigkeit einerseits verstärken und sie andererseits umso besser zu politischen Zwecken missbrauchen könnte. Deshalb befindet sich ganz Europa gegenwärtig in einer noch weit kritischeren Situation als die USA, denn außer der Kohle, die aus Umweltgründen möglichst nicht mehr eingesetzt werden soll, und Atomkraftwerken, welche Deutschland aus denselben Gründen nicht länger betreiben will, verfügt es über keine ausreichende Energiequellen, um seine Industrien und damit seinen bisherigen Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
 
Der Faktor Macht wird übersehen
Der Faktor Macht wird in der ökonomischen Wissenschaft ausgeklammert, deshalb führen Experten wie Robert Reich ganze Staaten auch regelmäßig in die Irre. Schauen wir uns die Ukraine an. Nach ihrer Selbständigkeit zu Beginn der neunziger Jahre handelte sie ökonomisch durchaus richtig, als sie geschickt zwischen Europa und Russland lavierte, um sich von allen Seiten jeweils das günstigste Angebot zu verschaffen. Deutschland handelte ökonomisch ebenfalls richtig, als es sich Öl und Gas stets aus jenen Ländern verschaffte, wo es am billigsten war. Noch vor einem Jahr wurde kein Staat dafür getadelt, dass er das ökonomisch Sinnvolle tat. Aber wirtschaftliches Handeln und Macht lassen sich auf Dauer nicht voneinander trennen. Man kann nicht von der einen Macht – von den Vereinigten Staaten – militärischen Schutz einfordern und der anderen Macht – Russland – durch Gas- und Ölgeschäfte die Devisen verschaffen, womit dieses Land dann eine die USA bedrohende Rüstung aufbaut. Die Ukraine hat bitter erfahren müssen, dass kein Staat ungestraft zwischen den Fronten lavieren kann.
 
Europa zwischen den Fronten der Supermächte
Mittlerweile befindet sich nicht nur Deutschland sondern ganz Europa in einer ähnlichen Situation wie die Ukraine, nämlich zwischen den Fronten der Supermächte. Sowohl Russland wie die USA können uns jederzeit den Gashahn abdrehen. Sicher, auch China verfügt nur über wenige eigene Rohstoffe, aber im Vergleich zu Deutschland beherrscht es die Wachstumsmärkte und hat im Eiltempo aufgerüstet, konventionell ebenso wie nuklear. Es muss sich daher viel weniger Sorgen als Europa machen.
 
Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Zunächst einer, den wir auf keinen Fall ziehen wollen, nämlich die Rückkehr zur Kohle oder anderen schmutzigen Energien, welche die Umwelt unwiederbringlich zerstören.
 
Atommacht oder Insel des Pazifismus?
Eine zweite Schlussfolgerung hat Norbert Röttgen zumindest angedeutet (aber in den Gremien der EU wird sie mittlerweile in aller Deutlichkeit ausgesprochen). Europa darf militärisch nicht weiter abhängig sein, es muss sich zur Not auch selbst verteidigen können. Da überzeugende Abschreckung in unserer Zeit nur noch mit Atomwaffen möglich ist, läuft eine solche Forderung zwangsläufig darauf hinaus, dass ganz Europa – und nicht nur Frankreich – über eine nukleare „force de frappe" verfügt.
 
Gero Jenner, © privatWenn sich Europa dazu entschließt, eine Atommacht wie Russland, China und die USA zu werden, dann bedeutet das für die Menschheit insgesamt eine größere Gefahr, ein noch größeres Risiko – das hat uns unser großartiger technischer Fortschritt eingebracht und unsere Unfähigkeit, ihn mit Vernunft zu kontrollieren. Wenn Europa umgekehrt dabeibleibt, eine Insel der Wehrlosigkeit und des Pazifismus zu bilden (jedenfalls im Vergleich zu atomar hochgerüsteten Staaten wie Russland, China und den USA) muss es darauf gefasst und sogar willens sein, zur Not dasselbe Schicksal wie die Ukraine in Kauf zu nehmen. Die deutschen Pazifisten sind für mich nur dann glaubwürdig, wenn sie sich zu dieser Konsequenz bekennen und sie vorbehaltlos akzeptieren.
 
Ein mögliches Ende
Ich möchte mit einem hoffnungsvolleren Ausblick schließen. Immanuel Kant hatte recht. Auf ein wirkliches Ende aus diesem sonst unlösbaren Dilemma (es gibt kein richtiges Leben im falschen) können wir erst hoffen, wenn das Wettrüsten von einer von allen akzeptierten supranationalen Instanz beendet wird. Dann wird auch der Faktor Macht in dem ebenso mörderischen ökonomischen Wettlauf endlich keine Rolle mehr spielen. 
 
Gero Jenner: Studium der Philosophie, Indologie und Sinologie, ist ein deutsch-österreichischer Autor und Publizist, dessen Veröffentlichungen sich auf Wissenschaft (Philosophie, Wirtschaft, Sprachwissenschaft) und Literatur erstrecken.

Unter "Der aktuelle Kommentar" stellen wir die Meinung engagierter Zeitgenossen vor und möchten damit unserer Rolle als forum zur gewaltfreien Begegnung unterschiedlicher Meinungen gerecht werden. Die Kommentare spiegeln deshalb nicht zwingend die Meinung der Redaktion wider, sondern laden ein zur Diskussion, Meinungsbildung und persönlichem Engagement. Wenn auch Sie einen Kommentar einbringen oder erwidern wollen, schreiben Sie an Alrun Vogt: a.vogt@forum-csr.net

Gesellschaft | Politik, 13.06.2022

     
Cover des aktuellen Hefts

Jede Menge gute Nachrichten

forum Nachhaltig Wirtschaften 02/2024 mit dem Schwerpunkt "Der Weg zum Mehrweg – Transport und Logistik"

  • Circular Cities
  • Kllimagerecht bauen
  • Kreislaufwirtschaft für Batterien
  • ToGo-Mehrwegverpackungen
Weiterlesen...
Kaufen...
Abonnieren...
13
MAI
2024
IFAT Munich 2024
Weltleitmesse für Wasser-, Abwasser-, Abfall- und Rohstoffwirtschaft
81823 München
24
SEP
2024
Climate-Neutral Strategies and Resource Management 2024
Sharing Corporate Climate-Neutral Best Practices for a Sustainable Future
60598 Frankfurt
Alle Veranstaltungen...
Fritz Lietsch, CEO ALTOP-Verlag: Meet me at DIGISUSTAIN

Professionelle Klimabilanz, einfach selbst gemacht

Einfache Klimabilanzierung und glaubhafte Nachhaltigkeitskommunikation gemäß GHG-Protocol

Energie

Kläranlage plus Photovoltaik ergibt saubere Energie
Faltdach-Anlage über Neuwieder Kläranlage ans Netz angeschlossen
B.A.U.M. Insights

Jetzt auf forum:

Rückwärtsgewandte Alte-Weiße-Männer-Politik

Mikrowechselrichter für kleine Solaranlagen mit 4 Solarmodulen für eine einfachere Installation via Bluetooth-Unterstützung

Ziel übertroffen: Klima-Initiative „Morgen kann kommen“ stiftet 1,1 Millionen Bäume für den deutschen Wald

RIGK auf der IFAT 2024:

Recruiting: weibliche Talente für männerdominierte Branchen

Ein Gruß zum Tag der Erde

Incycle – rundum nachhaltig

PTA IT-Beratung erhält Siegel „Klimaneutral durch Kompensation“ von PRIMAKLIMA

  • World Future Council. Stimme zukünftiger Generationen
  • Global Nature Fund (GNF)
  • DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen
  • Kärnten Standortmarketing
  • Futouris - Tourismus. Gemeinsam. Zukunftsfähig
  • Energieagentur Rheinland-Pfalz GmbH
  • B.A.U.M. e.V. - Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften
  • ECOFLOW EUROPE S.R.O.
  • Engagement Global gGmbH
  • Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG
  • toom Baumarkt GmbH