Günther Bachmann
Lifestyle | Einrichten & Wohnen, 01.03.2021
Die Zukunft liegt in der Stadt
Doch das Schweigen einer Charta zeigt: Die Bauminister der EU springen viel zu kurz.
Auf die Städte kommt es bei der
Nachhaltigkeit an – früher ein Satz urbanen Selbstbewusstseins und einer
Portion Auflehnung – heute eine verblassende Floskel. Einen großen
Anteil daran hat die Neue Leipzig-Charta für Stadtentwicklung und Bauen,
die die EU-Bauminister eben verabschiedet haben. Sie ist leise, wo sie
laut sein müsste; butterweich, wo es um Dramatisches geht. Wo Mut und
Richtung gefragt sind, bietet sie nur großvolumigen Lapidar-Jargon: kaum
veröffentlicht, schon überholt, denn in vielen Städten und Gemeinden
ist die Praxis weiter, als die Minister zu ahnen scheinen.
Eine Charta schreibt man, wenn man Großes zu
verkünden hat, sonst reichen Erklärungen oder Beschlüsse. Eine Charta
verkündet Erhabenes, das über dem Alltag schwebt und Bürger*innen und
Fachleute auf Zukunft und Verantwortung einstimmt. So hat das die Charta
von Athen 1933 für die Stadtbaukunst getan. Mit ihr protestierten
Stadtplaner und Architekten gegen die krankmachende Stadtwucherung. Sie
beschrieben das Ideal der modernen, funktionalen Stadt und versprachen
Licht, Gemeinwohl, Gerechtigkeit, indem man sich vornahm, Arbeit und
Wohnen, Einkaufen und Freizeit räumlich voneinander zu trennen. Anfangs
überzeugte das, aber dann übernahm die Ökonomie und schuf gefährliche
Trabantenstädte, monotone Einkaufszentren, Büro-Silos, Quartiere in
sozialer Erosion und eine maximal triviale Neubau-Ästhetik. Das urbane
Herz der Stadt fiel der Illusion der autogerechten Stadt zum Opfer. Fast
wie eine Entschuldigung kam das postmoderne Konzept der behutsamen
Stadtreparatur auf, führte jedoch in ungerechte Immobilienblasen und
betonierte sich immer weiter in die Klimaschuld.
Die große Wende 2007
schien die Kehrtwende zu kommen.
Nachhaltigkeit sollte die Stadtentwicklung bestimmen. Europa einigte
sich auf die Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. Die
Stadt sollte so zur Nachhaltigkeitsstrategie der EU beitragen. Die aber
hat eine unwillige Bürokratie so gründlich entsorgt, dass heute
Politiker*innen kaum noch wagen, eine europaweite Strategie zu
Nachhaltigkeit überhaupt nur anzudenken.
Auch die „Neue Leipzig-Charta: Die
transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl" vom November 2020
trägt an dieser Hypothek. Die Regierenden stellen sich darin ein
überwiegend freundliches Zeugnis aus. Man sei erfolgreich gewesen, man
wolle „erneut bestätigen" und „bekräftigen". Ihr Kernsatz bezeugt in
seiner Trivialität die Krise der Stadtbaukunst: „Wir, die Ministerinnen
und Minister, erkennen an, dass diese drei (soziale, ökologische und
wirtschaftliche) Dimensionen nachhaltiger Entwicklung in der
transformativen Kraft der Städte in Form einer gerechten, grünen und
produktiven Dimension zum Ausdruck kommen."
Das ist eben Politik, mag man denken und den
Blick wieder auf die Realität richten. Die Realität der geistlosen
Klimaklemme, von Flächenfraß, Sondermüll und Sackgassen-Mobilität, der
aufgehenden Einkommens- und Vermögensschere zwischen den
EU-Bürger*Innen, des Auseinanderdriftens von Wachstums- und
Schrumpfungsregionen, des traurigen industriell-fossilen Bauens. Die
Städte steuern auf den größten Gebäude-Leerstand der Moderne zu,
Homeoffice und Online-Wirtschaft verändern aktuell mehr als es das Auto
je schaffte. Auch dazu schweigt die Charta.
Deutsche Kommunen halten bei den Pionieren mit
Paris, Kopenhagen, Amsterdam sind
international bekannt dafür, dass sie den sozial-ökologischen Umbau
ambitioniert voranbringen. Aber auch deutsche Groß-, Mittel- und
Kleinstädte bieten Nachahmenswertes: Kiel, Osnabrück, Münster, Augsburg,
Freiburg, Leipzig – Buxtehude, Aschaffenburg, Eschweiler – Eltville,
Bad Berleburg, Saerbeck. Das sind nur einige der Vorreiter und Gewinner
des Deutschen Nachhaltigkeitspreises, einer ambitioniert kuratierten
Auszeichnung. Hier erlebt man, was nachhaltige Stadtentwicklung
bedeutet: konkret, ohne viel Tamtam, aber mit klarer Ansage: wie man
soziales Wohnen mit einem gesunden Wettbewerb zum (Gemein-)Wohl der
Stadt verbindet, wie man klimaneutral wird, wie man Abfall durch
Ressourcenwirtschaft ersetzt. Hier zeigt sich, wie man Innovationen
nutzt, moderne Teilhabe und Demokratie einsetzt gegen Unwirtlichkeit,
Gewalt und Sucht – und schließlich: wie man zukünftig das schaffen will,
was man bisher noch nicht geschafft hat. Lokale Gemeinschaften erweisen
sich dabei oft als „die" Kompetenz zur Nachhaltigkeit. Die Bedingung
ist: Man muss ihnen Zumutungen und Ziele anvertrauen. Sie sollten ihr
Tun nicht erst in Regeln und Verordnungen absichern müssen, sondern im
Experiment.
Nachhaltiges Bauen ist eigentlich kein Geheimnis
Auch bei ihrem Kernthema Bauen ist die Charta
defizitär. Obwohl Architekt*Innen und Ingenieur*Innen es können und
wollen, steht eine wirkliche Bauwende noch aus. Währenddessen hackt der
Specht seine Löcher statt in Bäume in die auf Rohöl basierende
Wärmedämmung von Hausfassaden, die uns daran erinnern, dass allein die
Zementindustrie acht Prozent der weltweiten Emission von Kohlendioxid
verursacht. Aber Beton war gestern. Das Hightech-Produkt Holz ist der
wichtigste Faktor für das Bauen der Zukunft, auch in ästhetischer,
ökonomischer und baukultureller Hinsicht. Die Zukunft gehört neuen,
resilienten Raumformen, dem Gleichklang urbaner wie ökologischer
Nachverdichtung, der Stadt als Basislager für Kreislauf-Ressourcen.
Diese Zukunft muss den nervigen Reflex der Moderne „Bauen-Bauen-Bauen"
ablösen (siehe Buchbesprechung von „Verbietet das Bauen!").
Stilprägende Urbanität erleben bedeutete schon immer: Es geht auch
schöner. Hier lohnte sich eine Charta – aber sie darf eben nicht zahnlos
sein.
Hinweis: Mehr Informationen über die Zukunft urbaner Räume finden sie auch im B.A.U.M.-Jahrbuch 2020 - Die nachhaltige Stadt.
Prof. Dr. Günther Bachmann ist Berater, Publizist, Redner und
leitet die Jurys beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Er war bis 2020
Generalsekretär des Rats für Nachhaltige Entwicklung und hat dort u.a.
den politischen Dialog mit Oberbürgermeister*Innen eingeführt und
angeleitet. Gerade erschien sein neuestes Buch „Die Stunde der Politik.
Ein Essay über Nachhaltigkeit, Utopien und Gestaltungsräume."
Dieser Artikel ist in forum 01/2021 - SOS – Rettet unsere Böden! erschienen.
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