Nachhaltigkeit und Digitalisierung
Vordenker Thorsten Grantner im forum-Interview
Die gegenwärtige Situation stellt für viele Firmen eine extreme Herausforderung dar. forum befragte Thorsten Grantner, der mit seiner Zertifizierungsorganisation mehr als 1.000 Firmen betreut, wie Unternehmen gegenwärtig auf Krisen reagieren und welche Rolle Digitalisierung und Nachhaltigkeit bei der Problemlösung und strategischen Zukunftsgestaltung spielen können.
Herr Grantner, was hat COVID bei Ihnen selbst im Unternehmen verändert?
Gar nicht so viel. Wir pflegen seit unserer Gründung den Anspruch der sozialen und ökologischen Innovation. In der Praxis bedeutet das, dass wir zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben seit zehn Jahren konsequent auf Digitalisierung setzen. Wir entwickeln und nutzen ausschließlich webbasierte Software und besitzen eine starke Datenschutz- und IT-Security-Kompetenz bei allen Mitarbeitenden. Dies hat uns zum Beispiel erlaubt, ab 2017 fast vollständig papierlos und ohne eigenen Serverraum zu arbeiten. Ausgehend von einer Kultur des Vertrauens und der Transparenz arbeiten wir in selbstorganisierten und agilen Scrum-Teams (siehe Kasten unten), die ihre Entscheidungen selbst treffen und mit täglichen und wöchentlichen Ritualen für den erforderlichen Austausch sorgen.
Ein Lockdown ist aber dann doch eine andere Nummer...?
Jeder bei OmniCert ist in der Lage die erforderliche IT zu 95 Prozent selbständig aufzubauen, zu installieren, zu bedienen und zu optimieren. Anfang März konnten wir alle innerhalb eines Tages unseren Arbeitsplatz ziemlich unaufgeregt ins Homeoffice verlagern, um von dort aus bereits am nächsten Tag mit den gewohnten Methoden und IT-Tools weiterzumachen. Vor Ort im Homeoffice haben alle eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, um gut und sicher arbeiten zu können. Derzeit ist aus jedem Team höchstens eine Person im Büro, um den übergreifenden Austausch zu fördern.
Und wie funktioniert das im Kundenkontakt?
Ein wesentlicher Bestandteil unserer Tätigkeit als Gutachter sind natürlich Vor-Ort-Termine – knapp 2.000 davon führen wir pro Jahr bei unseren Kunden durch. Dabei nehmen wir die äußerst sensiblen Punkte Gefährdungsbeurteilung und Risikomanagement sehr ernst. Deshalb haben wir unsere Prozesse und Arbeitsanweisungen für Vor-Ort-Termine sofort an die Besonderheiten von COVID-19 angepasst.
Wie gehen die Firmen in Ihrem Umfeld mit der veränderten Situation um?
Flexibilität und eine geänderte Führungskultur finden nicht im Kopf oder Planspiel statt, sondern müssen sich „im Ernstfall" beweisen. Neben den technischen Investitionen in Digitalisierung fehlte vielfach die Methodenkompetenz bei den Organisationen – sprich die soziale Innovation zur Zusammenarbeit. Zahlreiche Firmen und Organisationen investieren nun stark in Digitalisierung und Nachhaltigkeit, um für die Zukunft krisenfester zu sein.
Warum wollen Firmen jetzt Nachhaltigkeit ins Unternehmen bringen?Weil die planetaren Grenzen immer deutlicher werden und die Notwendigkeit zur Veränderung unserer Wirtschaft in der politischen Agenda wie dem Green New Deal der EU aber auch in der gesellschaftlichen Entwicklung sichtbar wird. Die junge Generation hat bereits heute kein Verständnis mehr für Organisationen, die Nachhaltigkeit nicht ernst nehmen. Aus meiner Perspektive werden deshalb diejenigen Firmen mittelfristig immer schwieriger Kunden oder Bewerber finden, die soziale und ökologische Nachhaltigkeit nicht als einen Kern ihrer Unternehmensstrategie etablieren. Die omnipräsente Digitalisierung wird transparent machen, wie hoch die soziale und ökologische Leistung von Unternehmen ist.
Ist die Wirtschaft bereit dazu oder dominiert das Greenwashing?
Erlauben Sie mir einen IT-Vergleich: Nachhaltigkeit kann heute noch wie eine App auf ein im Kern nicht nachhaltiges Betriebssystem installiert werden. In einigen Jahren wird Nachhaltigkeit in sozialer, ökologischer und ökonomischer Hinsicht das Betriebssystem selbst sein – also ein erheblicher Teil des Geschäftsmodells. Wer also jetzt nicht beginnt, sich ernsthaft mit der Installation eines nachhaltigen Betriebssystems auseinanderzusetzen, wird die gleichen Schwierigkeiten haben wie Organisationen, die die Digitalisierung zu spät etablierten. Sie werden unter disruptiven Geschäftsmodellen oder äußeren Ereignissen und neuen Rahmenbedingungen mehr leiden als nachhaltige Firmen.
Was können Firmen jetzt konkret tun, um Nachhaltigkeit ins Unternehmen zu bringen?
Grundsätzlich muss sich die Geschäftsleitung dazu entscheiden, Nachhaltigkeit ernsthaft als Teil des Geschäftsmodells zu etablieren. Dieser Startpunkt ist unverzichtbar. Die konkreten weiteren Schritte lauten:
- Bestandsanalyse und klare Kommunikation (Get started)
- Strategieentwicklung mit Zielen und Anreizen (Plan)
- Implementierung und Umsetzung (Do)
- Kritische Überprüfung intern und extern (Check)
- Kontinuierliche Verbesserung (Act)
- Transparente Berichterstellung und externe Prüfung (Communicate and verify)
Zuerst erfolgt die Analyse der eigenen Produkte und Dienstleistungen in Bezug auf Nachhaltigkeitsaspekte. Dazu eignen sich zum Beispiel Ökobilanzen, CO2-Bilanzen, Datenbanken oder Branchenvergleiche. Dabei sollten die Produktion und die Lieferkette nicht vergessen werden. EMAS nennt diese Bestandsdatenerfassung „erste Umweltprüfung". Diese kann um soziale Aspekte erweitert werden, um im Sinne der Nachhaltigkeit umfänglich vorzugehen. Als IT-Tool für diesen ersten Schritt eignet sich hierfür der SDG Action Manager des UN Global Compact und des B-Lab.
Als nächstes richtet man den Blick nach außen und prüft: Welche Erwartungen haben Interessengruppen an die Organisation oder deren Produkte und Dienstleistungen? Zur Beantwortung helfen eine Stakeholder-Analyse und eine Wesentlichkeitsbetrachtung.
Die ökonomische Nachhaltigkeit kann eine Organisation gut mit einer Risiken-und-Chancen-Analyse sowie mit marktüblichen Methoden wie Marktanalysen und Liquiditätsbetrachtungen bestimmen. Nachdem der Ausgangspunkt bestimmt ist, kann die Organisation festlegen, wohin sie sich entwickeln möchte. Dazu erarbeitet sie eine Strategie inklusive geeigneter Ziele und zugehöriger Maßnahmen. Die Schritte Umsetzung bis Bericht schaffen Firmen insbesondere dann sehr gut, wenn die Grundsatzentscheidung mit Ernsthaftigkeit getroffen und glaubhaft kommuniziert wurde. Dies stärkt die Reputation und fördert ein positives Image. Eine externe Überprüfung, beispielsweise durch Zertifizierer, Umweltgutachter oder Wirtschaftsprüfer gibt Firmen wertvolles Feedback, um schneller die gesteckten Ziele zu erreichen.
Welche Messmethoden zur Nachhaltigkeit gibt es?
Wir unterscheiden allgemeine und branchenspezifische Messmethoden. Allgemeine Messmethoden für Organisationen sind EMAS, der Deutsche Nachhaltigkeitskodex DNK, der COP-Report des UN Global Compact, sowie der Bericht der Gemeinwohlökonomie und des B-Lab®. Allgemein etablierte Messmethoden für Produkte sind der Blaue Engel (Umweltzeichen in Österreich), das Cradle to Cradle CertifiedTM Label oder Produktökobilanzen. Branchenspezifische Messmethoden sind zahlreich vorhanden. Dazu gehören Biosiegel für Lebensmittel oder Fairtrade®. Im Textilbereich sind GOTS, die Fair Wear Foundation, bluesign® oder neuerdings der Grüne Knopf verbreitet.
Für wen ist welche Methode gut?
Es gibt auch grundsätzlich keine Einschränkungen bei Managementsystemen, denn diese zwingen Organisationen, egal ob groß oder klein, zu einer strukturierten und systematischen Vorgehensweise. Wir empfehlen aus Gründen der flexiblen Anwendbarkeit und der größeren Bekanntheit über eine spezielle Branche hinaus stets die allgemeinen Messmethoden – also Managementsysteme und Berichte mit bekannten Standards und Labeln. Spezifische Methoden lassen sich zwar erstmalig schneller einführen, weil es spezialisierte Checklisten und entsprechende Berater gibt. Ein „Update" auf allgemein anerkannte Systeme und Reportingstandards ist allerdings manchmal schwierig und führt letztlich zu einer aufwändigen „Neuinstallation".
Für die Digitalisierung gelten auch hier die gleichen Regeln: Anerkannte Systeme wie der BSI Grundschutz oder die ISO 27001 als Managementsystem für IT-Sicherheit eignen sich grundsätzlich für alle Firmengrößen und Branchen, um das Geschäftsmodell zukunftssicher, innovativ und resilient zu machen.
Ihre berühmten letzten Worte?
Als Unternehmer hat mir am meisten geholfen, unseren Kolleginnen und Kollegen, den Kunden und Lieferanten sowie unserer Umwelt eine hohe Wertschätzung entgegenzubringen. Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen stemmen. Darum sind konsequente Nachhaltigkeit und Digi- talisierung sowie echter Teamgeist die logische Konsequenz für unser Geschäftsmodell.
Was ist Scrum?
Scrum ist eine agile Methode, mit der sich Projekte managen lassen und die geeignet ist, Selbstorganisation in einem Unternehmen zu etablieren. Scrum zeichnet sich durch engmaschige Kommunikation unter sämtlichen Beteiligten, durch hohe Anpassungsfähigkeit an Veränderungen und durch flache Hierarchien aus. Mit Scrum ist es möglich, bei hoher Unklarheit und Komplexität „auf Sicht” zu managen. Scrum arbeitet mit Teams, die crossfunctional beziehungsweise interdisziplinär zusammengesetzt sind. Ziel und Richtung sind vorgegeben, die Teams jedoch haben die Freiheit, den Weg dorthin selbst zu gestalten.
Die Geschichte von Scrum
Die japanischen Wissenschaftler Ikujir? Nonaka und Hirotaka Takeuchi gelten als die bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet des Wissensmanagements. Nonaka und Takeuchi betonten die Wichtigkeit der Zusammenarbeit, da diese Synergien und verborgenes Wissen zu Tage fördere und damit neuen Ideen den Weg bereite. Neu war hier, dass Impulse aus dem Team aufgenommen werden, statt Top down zu organisieren. Sie nutzten erstmals die Worte „Scrum” und „Sprint", die sie aus dem Rugby entlehnten. Scrum bedeutet Gedränge. Im Rugby handelt es sich um eine dichte Ansammlung von fünf bis acht Spielern, die in die selbe Richtung drücken und so versuchen, als Einheit den Ball in ihrem Sinne ins Spiel zu bringen. Dies ist das Sinnbild für verschiedene Mitarbeiter, die als ein eng zusammenarbeitendes Team spontan reagierend in die selbe Richtung arbeiten, um erfolgreich zu sein.
Die US-amerikanischen Softwareentwickler Ken Schwaber und Jeff Sutherland gelten als die Erfinder von Scrum. Zu Beginn der 1990er Jahre entwickelte Sutherland mit seinem Softwareentwicklungsteam die Grundlagen dieser Art der Zusammenarbeit. Neu war hier, dass der Projektleiter nicht mehr als Manager fungierte, sondern eine moderierende Funktion übernahm. Scrum trug dem Umstand Rechnung, dass in der sich rasant verändernden Welt der Softwareentwicklung der Entwicklungsprozess oft schnell an plötzliche Veränderungen angepasst werden muss und insofern eine langfristige Vorplanung des Prozesses nicht möglich ist. Scrum sowie weitere agile Methoden wie Design Thinking, Design Sprint, Lean Start Up, Scrum, Business Model Canvas stellen einen Gegensatz zum klassischen Management dar: Aufgaben werden nicht mehr von Vorgesetzten zugeteilt und kontrolliert. Ein sogenannter „Product Owner” gibt dem Team ein Ziel vor und das Team kümmert sich eigenverantwortlich um dessen Umsetzung.
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Technik | Digitalisierung, 01.12.2020
Dieser Artikel ist in forum 04/2020 - Jetzt reicht's! erschienen.
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