Wer, wenn nicht er?
Christoph Quarch glaubt, dass Biden gerade wegen seines hohen Alters der Richtige ist, um die US-Gesellschaft zu heilen.
Nun ist Joe Biden als neuer US-Präsident vereidigt. Und kaum ist er im Amt, so ist auch schon die Rede davon, dass mit ihm eine Art Zeitenwechsel stattgefunden hat, mit dem sich viele Erwartungen verbinden.
Wie
sieht das unser Philosoph: Herr Quarch, hat am Mittwoch die Ära Biden begonnen?
Von
einer Ära kann man eigentlich immer erst aus der Retrospektive reden – dann,
wenn sich in einem bestimmten Zeitraum tatsächlich etwas Epochales ereignet
hat. Dafür ist es im Blick auf Joe Biden sicher noch zu früh. Andererseits gibt
es auch einige Gründe dafür, in seinem Amtsantritt eine Zäsur oder ein
historisches Datum zu sehen. Nicht nur, weil ihn erstmals in der US-Geschichte
in Kamila Harris eine farbige Frau als Vizepräsidentin ins Amt begleitet,
sondern vor allem, weil Biden der US-Präsident ist, der nach einem für die USA
historisch beispiellosen Anschlag auf die US-Demokratie ins Amt gekommen ist.
Biden wird der Präsident nach Trump und nach dem Sturm aufs Kapitol bleiben. Ob
er noch mehr wird, wird sich zeigen.
Wenn von einer neuen Ära die Rede ist, verbinden sich damit
viele Hoffnungen. Biden selbst hat gesagt, er wolle das Land heilen. Ist es
nicht gefährlich, die Latte so hoch zu hängen.
Ohne
Zweifel. Die Geschichte ist voll genug von Beispielen, die mit einem Hosianna
begannen und mit einem „Kreuzigt ihn" endeten. Ganz so arg war es damals zwar
nicht, aber erinnern wir uns an nur an Barak Obama, der auch von vielen als
Heilsbringer gefeiert und mit Vorschusslorbeeren überhäuft wurde – denen er
längst nicht immer gerecht werden konnte. Von daher ist es eine schwere
Hypothek, die auf Biden lastet, wenn er antritt, um ein Land zu heilen. Nur
muss man auch sehen: Ihm bleibt gar nichts anderes übrig. Die amerikanische
Gesellschaft ist ernsthaft erkrankt, und als Präsident etwas anderes als ihre
Heilung anzustreben, hieße die Augen vor der Realität verschließen. Schlimm
genug, dass Bidens Vorgänger das so lange getan hat.
Meinen sie, Joe Biden wird die an ihn gerichteten
Erwartungen erfüllen und die US-Gesellschaft retten können?
Platon
hat einmal geschrieben, für alle Staaten gebe es nur dann eine Rettung, wenn
entweder die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden. Da Biden
kein Philosoph ist müsste ich als Platoniker diese Frage verneinen. Aber vielleicht
ist Biden doch philosophischer als es scheint, denn immerhin hat er eine nach
Platon zutiefst philosophische Kompetenz, die man bei seinem Vorgänger
vergeblich suchte: Er weiß, was der Sinn und Zweck aller Politik ist. Platon
sprach von Frieden und einem Geist der Freundschaft. Da liegt Biden ganz auf
seiner Linie. Das richtige Ziel hat er vor Augen.
Fragt sich nur, ob er die Kompetenz und Energie hat, es auch
zu erreichen.
Klar
ist, dass das eine echte Herkulesaufgabe ist. Aber wie gesagt: Ihr
auszuweichen, würde alles noch schlimmer machen. Tatsächlich glaube ich, dass
Biden trotz – nein wegen – seines hohen Alters gut dafür aufgestellt ist. Er
bringt ein hohes Maß an Gelassenheit mit und ist dabei doch emotional und
empathisch (was man sich von unserer Kanzlerin nur wünschen kann). Und er hat
seit der Wahl im November eine bemerkenswerte Souveränität an den Tag gelegt –
und das, obwohl die Zeit nach der Wahl ja nun wirklich alles andere als leicht
war. Ich finde, dass er auch mit den Vorgängen um den Sturm aufs Kapitol sehr
besonnen umgegangen ist. Von daher: Wer, wenn nicht er?
Gesellschaft | Politik, 24.01.2021
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